Interview | Paralympics-Siegerin Elena Semechin - "Vielleicht habe ich kein Später mehr"
Sie schwamm bei den Paralympics und der Weltmeisterschaft zu Gold - nachdem sie gerade erst eine Tumor-Erkrankung überstanden hatte. Warum Elena Semechin gar nicht so gern im Wasser ist und wie der Krebs ihren Blick auf das Leben veränderte.
rbb|24: Elena Semechin, wir befinden uns beim "Club der Besten", ganz im Süden von Italien, an der Küste Kalabriens. Dass Ihnen Wasser ein vertrautes Element ist, verwundert nicht wirklich. Aber sind Sie eher der Typ Meer oder der Typ Pool?
Elena Semechin: Weder noch, würde ich sagen. Ich bin gar nicht so gern im Wasser – auch wenn es inzwischen mein Beruf ist. Lieber bin ich auf der Liege am Strand.
Moment. Schwimmen sehen Sie klar als Beruf, nicht als Hobby? Verschwimmt das nicht irgendwann ohnehin?
Nein. Ich war nie eine Wasserratte. Irgendwann bin ich durch ein Sportabzeichen zum Schwimmen gekommen, da war ich 13 Jahre alt. Damals habe ich das überhaupt erst gelernt. Der Sport wurde für mich irgendwann zu einer Chance, etwas aus dem Leben zu machen, eine Chance, die Welt zu sehen und sich selbst zu beweisen: Ich kann etwas. Wäre das in einer anderen Sportart gewesen, wäre ich vielleicht auch darin erfolgreich gewesen. Es war einfach der Wille.
Die Sporthilfe lädt in jedem Jahr die Medaillengewinner von Weltmeisterschaften und olympischen oder paralympischen Spielen ein. Was bedeutet es Ihnen, Teil dieser Sportelite zu sein?
In erster Linie ist es eine große Ehre. Egal, wo du hinguckst, mit wem du sprichst – alle haben das erreicht, was du auch erreicht hast. Du wirst sofort verstanden. Seien es Gespräche über tolle Momente im Sport oder schwierige Momente. Du fühlst dich hier am richtigen Platz, weil einfach jeder es nachempfinden kann, was du selber erfahren hast.
Ihre Eintrittskarte war der WM-Titel im August in Manchester, wo sie knapp Ihren eigenen Weltrekord verpasst haben. Wie war das für Sie?
Für mich war es eine große Überraschung, nach meiner Chemo, nach der ganzen Vorgeschichte. Wir wussten nicht, womit wir rechnen können. Das Training hatten wir umgestellt, weil der Körper nicht mehr derselbe ist, wie vor der Krebserkrankung. Wir mussten erst mal schauen, was eigentlich geht – und waren überrascht. Denn letztlich wurde es eine schnellere Zeit als in Tokio.
Die Chemotherapie folgte auf einen Hirntumor, mit dem Sie damals noch in Tokio bei den Olympischen Spielen unterwegs waren. Hätten Sie gedacht, dass sie nach der Chemo so schnell und stark zurückkommen?
Nein. Es war totales Neuland für uns alle. Denn niemand wusste, wie man überhaupt während einer Chemotherapie trainiert. Ich durchlief ja 13 Zyklen über 13 Monate. Die Frage war: Was kann ich machen, was hält mein Körper überhaupt aus? Ob ich überhaupt bei der WM antreten würde, glich einer Überraschungstüte. Nach dem Erfolg war klar, wir sind auf einem guten Weg, mit einem guten System. Deshalb hoffe ich, dass es auch bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris klappt.
Sie wirkten während des Heilungsprozesses nach außen stark und positiv.
Im ersten Moment hat mich die Diagnose erschüttert. Ich hatte auch Angst. Für mich und meine Familie war es emotional. Das hat mich erstmal verunsichert. Aber als ich nach der OP aufgewacht bin, war ich so heilfroh, dass es doch so gut ausgegangen ist. Ich hatte allerdings Angst, alles, was ich mir über die Jahre aufgebaut habe, zu verlieren.
Deswegen dachte ich: Du hast jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder du gehst deinen Weg und kämpfst dich durch die Chemo und kämpfst für das, was dich erfüllt und was du dir erarbeitet hast. Oder du bleibst zu Hause und erholst dich – was ja auch okay wäre. Aber dann wäre es das wahrscheinlich gewesen und ich hätte den Anschluss nicht mehr gefunden. Dann habe ich mich ganz klar für den ersten Weg entschieden.
Wie hat Sie die ganze Phase und der Prozess verändert?
Ich bin gelassener geworden. Und ich lebe bewusster. Früher habe ich Dinge gerne auf später verschoben. Das gibt es jetzt nicht mehr. Ich denke mir: Vielleicht habe ich kein Später mehr, ich muss im Jetzt leben und die Dinge, die mich wirklich interessieren, jetzt machen.
Kommen wir in dieses Jetzt. Wie geht es Ihnen heute?
Es geht mir sehr gut. Ich freue mich, dass wir bei dem tollen Wetter hier in Italien sitzen können und uns austauschen können. Das gibt mir viel Energie für das, was noch kommt.
Ich habe Sie als sehr meinungsstarke Athletin wahrgenommen, die sich auch mal kritisch äußert. Nun kocht das Thema Sportförderung wieder auf, wie blicken Sie darauf?
Nach der letzten Diskussion macht man sich als Sportlerin schon Sorgen. Kann ich meinen Sport künftig noch ausüben? Werden die Gelder jetzt so drastisch gekürzt, dass der Nachwuchs zugrunde geht? Wir müssten jetzt an unseren Strukturen arbeiten und diese weiter ausarbeiten. Und da zu sagen: "Wir müssen die Mittel kürzen", das ist ja wohl der falsche Ansatz. Wir können nicht Stellen abschaffen, die uns Sportlern bei der Entwicklung helfen. Mir wäre es ein Anliegen, dass die Politik den Sport weiter unterstützt. Ich spreche nicht nur für den Profibereich, sondern auch den Nachwuchsbereich. Wir brauchen eine gesunde Gesellschaft.
Was würden Sie sich für den paralympischen Sport wünschen?
Wir brauchen mehr Medienpräsenz. Nicht nur im Para-Sport. Wie viele Randsportarten und tolle Athleten haben wir, von denen niemand etwas mitbekommt. Das müssen wir der Gesellschaft näher bringen, damit das Interesse wächst.
Zwei Events werden in absehbarer Zukunft definitiv große Aufmerksamkeit erhalten, das sind die olympischen und paralympischen Spiele in Paris. Viele träumen davon. Wie ist das bei Ihnen?
Ich freue mich total, dass wir keine lange Anreise haben. Man hat mit keinem Jetlag zu kämpfen. Das bringt Vorteile mit sich. Wir sind im weitesten Sinne zu Hause, Familie und Freunde können einfach mit dem Zug anreisen. Das Ganze wird zugänglicher.
In Paris wollen Sie sicher nicht nur an den Start gehen, um dabei zu sein. Was sind Ihre Ziele?
Ich stehe nicht morgens auf, um zu sagen: "Mein Ziel ist es, dabei zu sein." Ganz und gar nicht. Diese Sache hat sich bei mir definitiv nicht geändert, ob vor oder nach dem Krebs. Ich möchte Gold, möchte meinen Titel verteidigen. Natürlich gehe ich von einer anderen Position an den Start. Aber mein Wille und mein Feuer sind immer noch da.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bei dem Text handelt es sich um eine redigierte und gekürzte Fassung. Das komplette, von rbb-Sportreporter Jonas Schützeberg geführte Interview finden Sie im oben eingefügten Video.
Sendung: rbb24, 29.09.2023, 22 Uhr