Beispiel Berlin-Mitte - Wie Kiezblocks manche Wohnviertel entzweien

Di 13.12.22 | 12:24 Uhr | Von Sylvia Tiegs 
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Kiezblock: Poller zur Verkehrsberuhigung in Berlin Wedding. (Quelle: rbb)
Audio: Inforadio | 13.12.2022 | Sylvia Tiegs | Bild: rbb

In "Kiezblocks" soll der Durchgangsverkehr aus Nebenstraßen verdrängt werden - dafür werden Kreuzungen mit Pollern für den Autoverkehr gesperrt. In den Kiezen selbst gibt es unterschiedliche Meinungen dazu. Und nicht alle fühlen sich gehört. Von Sylvia Tiegs

Der Bellermann-Kiez im Stadtteil Gesundbrunnen ist ein typisches Berliner Wohnviertel. Einfache Altbauten, ein Späti, die Eckkneipe heißt "Zum Dicken". Hundehalter gehen hier Gassi, Eltern bringen ihre Kinder in die vielen umliegenden Kitas, Rentner drehen am Rollator ihre Runden.

Übers Kopfsteinpflaster rauscht derweil reger Durchgangsverkehr. Dort, wo es noch geht. Vor genau einem Jahr wurde hier die erste von fünf Kreuzungen im Kiez zugemacht, mit rot-weiß geringelten Pollern. Im Sommer kam die zweite Dauersperrung hinzu. "Mehr Lebensqualität", verspricht die zuständige Bezirksstadträtin von Mitte, Almut Neumann von den Grünen. Manche, aber längst nicht alle Anwohner sehen dieses Versprechen eingelöst.

Kiezblocks polarisieren

"Ich bin froh, dass es hier zugemacht wurde", sagt Nura, Mutter von zwei Kindern im Kita- und Grundschulalter. Für die jüngsten Verkehrsteilnehmer sei es jetzt sicherer, findet sie. Auch Rentner Horst, im Viertel täglich mit seinem Rollator unterwegs, freut sich: "Für mich ist es angenehmer, ich muss nicht ganz so doll aufpassen. Und es ist ruhiger geworden."

Anwohnerin Joana dagegen fährt aus der Haut. "Für uns ist es eine große Einschränkung", schimpft sie und blickt ergrimmt auf die zwei Poller-Reihen, die die Kreuzung Bellermann-/Euler- und Heidebrinker Straße für den Autoverkehr versperren. Eines ihrer Kinder geht in Prenzlauer Berg zur Schule. Seitdem der direkte Weg dorthin versperrt ist, fahre sie "dreimal um den Block", um aus ihrem Viertel mit dem Auto herauszukommen. Die Familie müsse nun morgens früher aufstehen und losfahren. Und weniger Durchgangsverkehr sei hier auch nicht; die Autos nähmen nun einfach andere Wege – teilweise über die Bürgersteige.

Beteiligung vor allem für Befürworter

Joana hätte sich gegen die Kiezblocks in ihrem Viertel ausgesprochen – wenn sie gewusst hätte, wo. "Ich wohne hier seit acht Jahren. Hier gab es keine einzige Befragung." Tatsächlich kam die Empfehlung zur Verkehrsberuhigung vom früheren Quartiersmanagement. Der Bezirk Mitte ist dem gefolgt. Berlinweit ist das Vorgehen bei der Planung von Kiezblöcken nicht geregelt. Die Senatsverwaltung für Verkehr wollte eigentlich bis Jahresende einen Leitfaden dafür vorlegen – und damit auch klären, wie genau die Bürgerbeteiligung ablaufen soll. Jetzt aber kommt dieser Leitfaden frühestens im Frühjahr 2023. Bis dahin macht jeder Bezirk, wie er es für richtig hält.

Denn die Kiezblock-Bewegung läuft längst unter Volldampf. Der gemeinnützige Verein Changing Cities unterstützt zahlreiche Bürgerinitiativen beim Sammeln von Unterschriften, der Planung und Beantragung. "Wir kommen kaum hinterher", sagt Sprecherin Ragnhild Sörensen. In ganz Berlin sind derzeit 29 Kiezblocks in Wohnvierteln beschlossen, bei insgesamt 64 Initiativen dafür. Wöchentlich kämen neue Gruppen hinzu, so Sörensen: "Das ist eine enorme Masse an Menschen, die sich für weniger Durchgangsverkehr in ihren Kiezen einsetzen!"

Die Wirtschaft will auch gehört werden

Die Berliner Industrie- und Handelskammer würde den Prozess der Kiezblocks gerne enger begleiten - und könnte es auch. "Wir haben dem Senat und den Bezirken angeboten, unsere Gewerbetreibenden in den jeweiligen Kiezen zu befragen, ob und wo Kiezblöcke passen", sagt Lutz Kaden, Verkehrsingenieur bei der IHK. Die Bezirke aber fragten die Meinungen gar nicht ab, kritisiert Kaden: "Das muss noch besser werden!"

Dass der Leitfaden des Senats für die Kiezblocks erst im Frühjahr komme – und damit auch die Frage der Beteiligung vorerst ungeklärt bleibe - könnte zum Problem werden. Aus Sicht der IHK muss beim Planen von Kiezblocks auch berücksichtigt werden, wie die Ausweichroute auf den Hauptstraßen aussehe. Wenn das Hauptstraßennetz aber auch immer enger werde, wegen Radwegen oder Busspuren, komme der Wirtschaftsverkehr nicht mehr pünktlich ans Ziel. "Jede Stunde kostet Geld, das steht dann auf der Rechnung", fürchtet Lutz Kaden.

Für den großen Bezirk Mitte kommen seine Bedenken genauso zu spät wie für die kritischen Anwohner. Befürworter von Kiezblocks dagegen können sich freuen. Denn der Bezirk Mitte hat beschlossen, in den kommenden Jahren in insgesamt zwölf Gebieten im Bezirk Durchfahrtssperren zu errichten. Der Kiezblock im Bellermann-Viertel ist erst der Anfang, identifiziert sind außerdem bereits Brüsseler Kiez, Flottwell-Kiez und Sprengelkiez, die Nördliche Luisenstadt, rund um die alte Jakobstraße, das Engelbecken und das Märkische Ufer.

Sendung: rbb24 Inforadio, 13.12.2022, 10:00 Uhr

 

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Beitrag von Sylvia Tiegs 

45 Kommentare

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  1. 45.

    Ich bin über 70, behindert, Rollstuhlfahrer und benötige kein Auto. Dass ältere Menschen ohne Auto gehindert werden an Besuchen halte ich für vorgeschoben und unbegründet.

  2. 44.

    Schickt die, die sich im Großstadtdschungel nicht lässig und intuitiv bewegen können und die, die beim Überqueren einer Straße Schweißperlen auf der Stirn haben bitte (noch mal) in den Verkehrskindergarten, damit sie da die (sehr einfachen) Verhaltens- und Sicherheitsregeln nochmal erklärt bekommen und in praktischen Übungen ihre Ängste abbauen können --- Und lasst sie Unfall-Statistiken lesen --- Die, die Aussagen relativ zum Verkehrsgeschehen machen --- In Berlin ist ein Verkehrsunfall mit Todesfolge immer „eine Schlagzeile wert“ --- In anderen Metropolen mit ebenfalls aber-Millionen Verkehrsbewegungen TÄGLICH, bekommt die Presse so etwas nicht mal mit --- Bitte richtig verstehen: Wir sind in Berlin tagtäglich (und relativ) sicher unterwegs.

  3. 43.

    Warum muss man Kinder mit dem Auto aus dem Wedding in den Prenzlauer Berg fahren. Genau um die Verhinderung dieser unsinnigen Spaßfahrten geht es. Es gibt eine direkte Bahnverbindung. Übrigens kann man alle staatlichen Maßnahmen auch wieder zurückbauen lassen wie z.B. die Friedrichstraße zeigt, vielleicht mal mit einem Anwalt Klage einreichen.

  4. 42.

    Schön daß es für die Anwohner dort ruhiger geworden und sicherer geworden ist. Ich wohne Gegenüber vom Center und habe noch mehr Dreck und Krach vor der Tür.
    Danke Grüne

  5. 41.

    Mir hat ein Unterschriftensammler von Kiezblocks dieses Jahr in Mitte Ecke August-/Tucholskistr. gesagt, sie seien ein Lobbyverein und sie hätten das Recht dazu, schließlich gäbe es ja auch Autolobbyvereine.

  6. 40.

    Entscheidungsfindung zu Pollern: „Ich finde...“ reicht aus.
    Entscheidungen zu Streuwagen?
    Entscheidungen zu Straßenblockaden und Nötigung?
    Entscheidungen zu Lärm?

  7. 39.

    Alle zahlen Miete in der Stadt, aber Autos nie. Damit das so bleibt, sollen Autofahrer wenigstens mal danke sagen! Ein Auto braucht den Platz von 5 Stockwerken.

  8. 38.

    Ich würde mir das für meinen Kiez auch wünschen. Denn ich leide sehr unter dem Lärm des Durchgangsverkehrs, zumal ich auch direkt ganz unten an der Straße wohne, die eigentlich eine reine Wohnstraße ist. Es ist wochentags auch teilweise so, dass man kaum über die Straße kommt, denn Ampeln gibt es natürlich auch nicht. Warum muss so etwas sein? Noch vor zehn Jahren war das nicht so schlimm, sonst wäre ich natürlich gar nicht erst hergezogen. Mir fehlt bei solchen Themen oft die Empathie.

  9. 37.

    Fließenden Verkehr zu überwachen ist nicht die Aufgabe des Ordnungsamtes. Bitte erst nachdenken, dann schreiben, oder aber bleiben lassen.

  10. 36.

    Ich wohne dort, und Ich finde das ganz klasse. Man konnte kaum noch über die Straße gehen, weill verrückte Autofahrer mit wahnsinniger geschwindigkeit durch die kleinen Straßen rollten, um abzukürzen. Das ist jetzt vorbei. Zusammen mit der Parkraumbewirtschaftung ist es nun ein ganz anderes Leben.

  11. 35.

    Nehmt die BVV-Neu-Wahlen im Februar ernst … Wer sowas wie „Kiezblocks“ und Fahrradwege auf Hauptverkehrsstraßen verhindern will, muss (auch) im Bezirk entsprechend wählen … Senat hin, Senat her … Nur muss ich leider zugeben, dass auch ich immer noch nicht weiß, welche Partei das ausdrücklich verhindern würde :(

  12. 34.

    Wie egoistisch ist das Ganze eigentlich ?! … Soll ich meine Straße auch zu machen ?! … Soll Jeder seine Straße zu machen ?! ... Und wenn ihr da hin oder durch wollt ?! … Unfassbar ... Un--fass--bar !

  13. 33.

    Als Berliner stolpere ich schon über den Begriff: "Kiezblock"
    Das wir Berliner uns das gefallen lassen und hinnehmen, spricht dafür, dass die Stadt aufgegeben wurde.
    Leute, holt die Flex raus und sägt die Poller ab.
    Pollerland gehört abgebrannt...

  14. 32.

    Autos gehören genauso in die Innenstadt wie alle anderen Verkehrsarten und Teilnehmer.
    Es geht um ein gutes Miteinander!
    Das Problem sind Dogmatiker und Besserwisser wie Sie!

  15. 31.

    Wie egoistisch ist das Ganze eigentlich ?! … Soll ich meine Straße auch zu machen ?! … Soll Jeder seine Straße zu machen ?! ... Und wenn ihr da hin oder durch wollt ?! … Unfassbar ... Un--fass--bar !

  16. 30.

    Ich wohne hier seit Jahrzehnten, und diese Poller sind nicht nur optisch ein Verbrechen, sondern auch eine Materialschlacht sondergleichen. An den Kreuzungen fallen 15 - 18 Parkplätze weg, dabei brauchen wir mehr davon. Der Verkehr von Verirrten und Parkplatzsuchern hat deutlich zugenommen, die Wege raus aus der Sperrzone haben sich vervielfacht. Nicht jeder ist 35, fit und nennt ein 5000 EUR teures Lastenrad sein Eigen. Und das soll er dann auf der Strasse parken?!?!? Wo leben diese PolitikerInnen eigentlich? Und dann noch die Parkraumbewirtschaftung! In einem Kiez, wo es NULL Tourismus gibt! Das ist reine Kientelpolitik und die Verantwortlichen werden hoffentlich im Februar die Quittung dafür bekommen.

  17. 29.

    Was passiert denn, wenn der Rettungsdienst mit Notarzt durch fahren muss. Fahren die dann mit ein Lastenfahrrad durch? Na, Prost Mahlzeit. Es soll sogar auch vorkommen, dass Fahrradfahrer verunfallen.

  18. 28.

    Keine Ahnung, was das Problem ist. Es ist ein Katzensprung von dort zum Bahnhof Gesundbrunnen, dann eine Station bis Schönhauser- oder zwei bis Prenzlauer Allee, dann zu Fuß zur Kita oder mit Tram. Das ist alles nur Bequemlichkeit. Ich wohne auch hier in dem Kiez und habe noch nie ein Auto gebraucht. Die fahren hier eh wie die Besengten, da Poltre vorzuschieben, ist eine hervorragende Idee – Privatautos haben in der Innenstadt nichts zu suchen (es sei denn, man ist gehbehindert o.ä.), jede Straße ist zugestellt mit Blech. Berlin ist so schon hässlich genug.

  19. 27.

    Das ist halt etwas zu schlicht gedacht. Auch Familien mit Auto sind Mitbesitzer staatlichen Grund und Bodens. Wie dieser genutzt wird, ist somit eine demokratische Entscheidung Aller. Wenn die Mehrheit befindet, dass der Raum anders genutzt werden solle, dann ist das so. Wenn die Mehrheit (und die war bislang durchaus vorhanden) meint, ein Teil solle als wohnungsnaher Parkraum dienen, wäre das genau so zu akzeptieren. Die Anwohner sind aber nie vor diese Wahl gestellt worden sondern von der Gnade des Senats und/oder der Bezirksverwaltungen abhängig und diese sind nun mal nicht zwingend für Einzelentscheidungen durch die Wahl in ihre Ämter beauftragt worden. Es gibt vielfältige Gründe, sich für die eine oder die andere Partei zu entscheiden. Insofern wäre eine breitere Beteiligung der Anwohner mehr als demokratisch angebracht. Zudem geht es hier nicht um Parkraum sondern die Sperrung von Durchfahrtsmöglichkeiten. Das sollte nicht willkürlich ohne Befragung der Betroffenen passieren.

  20. 26.

    Mir schwahnt, die meisten Kommentatoren hier kennen das Bellermannkiez, super an den ÖPNV angebunden und von U sowie S Bahn eingerahmt, nur durch die Parkplatzsuche/Durchfahrt am/zum Gesundbrunnen. Die Schulen im Nachbarbezirk Prenzlauer Berg sind hervorragend erreichbar auch ohne PKW. Ich sehe hier nur den Unwillen Einiger sich aus einer ungesunden Bequemlichkeit heraus zu lösen.
    Wer jetzt hier ein Wohnkiez, Gewerbe findet dort nur sehr kleinteilig statt, mit der Friedrichstraße vergleicht hat sicher andere Interessen als das Wohl der Anwohner.

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