Lange Wartezeiten im Notfall - Brandenburger Rettungsdienste klagen über Bagatelleinsätze
Spätestens nach 15 Minuten sollen Rettungsdienste in Brandenburg am Einsatzort sein – zumindest in 95 Prozent der Fälle. Doch in kaum einem Landkreis wird diese Zielvorgabe erreicht. Das Problem sind zu viele Bagatelleinsätze. Von Amelie Ernst
Wer im Landkreis Ostprignitz-Ruppin die 112 wählt und von der Leitstelle als Notfall eingestuft wird, den erreicht in den allermeisten Fällen innerhalb einer Viertelstunde ein Rettungswagen. Genaugenommen in 85 Prozent der Fälle.
Doch 95 Prozent sollten es eigentlich sein. Das bleibe auch das Ziel in seinem Landkreis, sagt Mathias Wittmoser. Er ist der Leiter des Amtes für öffentliche Sicherheit und Verkehr in Ostprignitz-Ruppin. "85 Prozent sind nicht das, was eigentlich geschafft werden soll. Aber unser Landkreis nimmt sich da nichts mit anderen Flächen-Landkreisen."
Nur Brandenburg/Havel und Frankfurt (Oder) erreichen Vorgabe
Tatsächlich erreichen nach eigenen Angaben nur die Städte Brandenburg/Havel und Frankfurt/Oder die 95 Prozent-Vorgabe (Brandenburg/Havel: 96,84 Prozent; Frankfurt (Oder): 95,22 Prozent). Vor allem, weil die Einsatzwege in Städten in der Regel kürzer sind.
Bei den Landkreisen reicht das Spektrum von 81 Prozent im Landkreis Spree-Neiße bis zu 93 Prozent im Barnim und in der Uckermark. In Potsdam sind die Rettungswagen in knapp 95 Prozent innerhalb einer Viertelstunde vor Ort. Die Landkreise Oder-Spree und Oberspreewald-Lausitz sowie die Stadt Cottbus konnten auf rbb-Anfrage keine konkreten Zahlen für das Jahr 2022 liefern.
Ein weiterer Grund für die mäßigen Quoten sei neben den oft weiteren Wegen auf dem Land das fehlende Personal für die Rettungswagen, meint Amtsleiter Mathias Wittmoser. Es mangele speziell an Rettungs- und Notfallsanitätern. Dabei seien die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen "gar nicht so schlecht", doch natürlich gehe es um Schichtdienste. "Deshalb gibt es mehr und mehr den Trend zu gucken: Kann ich dasselbe Geld nicht auf einfache Art und Weise verdienen."
Längst fühlten sich die Kolleginnen und Kollegen nicht mehr auf ewig an einen Arbeitgeber gebunden, so wie früher oft. Für viele seien die Ausbildung und die Arbeit auf dem Rettungswagen auch nur eine Zwischenstation – beispielsweise vor einem Medizinstudium. Andere entschieden sich irgendwann für den weniger stressigen Innendienst oder die Arbeit in der Notaufnahme.
Nicht nur Notfälle
Sieben neue Rettungssanitäter bilden die Ruppiner Kliniken im Auftrag des Landkreises pro Jahr aus; außerdem ist eine weitere, zehnte Rettungswache in Ostprignitz-Ruppin geplant (in Wildberg/Temnitztal). Doch das Kernproblem sei eigentlich ein anderes, meint Andreas Berger-Winkler, Regionalvorstand der Johanniter in Südbrandenburg. Nachwuchs für den Rettungsdienst finde er noch genug. Doch die gleiche Zahl an Kolleg:innen müsse sich um immer mehr Bagatellanrufe kümmern.
"Es ist schon schade, wenn man irgendwo hinfahren muss und derjenige sagt 'Ich wollte mich heute mal durchchecken lassen, habe das Problem aber schon seit drei Wochen'. Und dann parallel ein zweiter Notruf eingeht und jemand einen Herzinfarkt hat. Das sind die Dinge, die die Probleme verursachen."
"Der Rettungsdienst wird manchmal als Dienstleistung angesehen"
Die Zahl der Bagatelleinsätze nimmt stetig zu, ebenso die Zahl der Einsätze insgesamt. Verschiedene Träger bestätigen diesen Eindruck. Gefühlt seien 40 Prozent der Einsätze keine Notfälle, schätzt Armin Viert, Geschäftsführer Rettungsdienst in Märkisch-Oderland. 30.000 Einsätze sind es in dem Landkreis inzwischen insgesamt pro Jahr; 15.000 im Kreis Ostprignitz-Ruppin.
Überall könnten es ohne die Bagatellanrufe deutlich weniger sein. "Der Rettungsdienst wird manchmal wie eine Art Dienstleistung angesehen. Aber der ist für die Notfälle da", ärgert sich Andreas Berger-Winkler. "Und manchmal gibt es auch so Forderungen: 'Ich möchte das jetzt, und wenn ich jetzt keinen Rettungswagen kriege, dann beschwere ich mich beim Vorgesetzten!'"
Kinder und Jugendliche besser schulen
Dieses Anspruchsdenken habe in den vergangenen Jahren zugenommen, bestätigt Notfallmedizinerin Claudia Scheltz. Sie ist Vorstandsmitglied in der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands (BAND e.V.) und hört Ähnliches auch aus anderen Bundesländern. "Der Bürger hat ein Bedürfnis, sich bei jedem bisschen abzusichern. Auch ich habe als Notärztin schon mal einer Mutti erklären müssen, wie man Wadenwickel macht." Die Lösung liegt für Scheltz vor allem in mehr Information – auch über Notfallpraxen und über die Nummer 116 117, die bei nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen weiterhelfen. Außerdem sollte schon Kinder und Jugendlichen gezeigt werden, was bei leichten Verletzungen und Erkrankungen zu tun ist. "Da Aufklärung betreiben, Pflaster kleben, Verband anlegen, etwas schienen." Und erklären, wann man wirklich die 112 ruft und wann nicht.
Armin Viert, Rettungsdienst-Geschäftsführer in Märkisch-Oderland, schlägt zudem vor, spezielle Krankenwagen für Einsätze vorzuhalten, die offensichtlich keine Notfälle sind. Auch Gemeindenotfallsanitäter und Tele-Medizin könnten als Alternative zu teils weit entfernten Notfallpraxen in Frage kommen. Denn wenn die Bagatellfälle für Rettungsdienste künftig öfter wegfallen würden, dann wäre auch die 15 Minuten-Hilfsfrist in Brandenburg öfter zu erreichen.
Sendung: radioens, 16.08.2023, 16:10 Uhr