Serie "Bau fällig" | Ehemalige Arbeitersiedlung - Lichtenbergs Geisterstadt aus Beton
Seit Jahrzehnten stehen in Lichtenberg neun Beton-Ungetüme leer. Die ehemalige Vertragsarbeitersiedlung aus DDR-Zeiten verfällt stetig, bald soll aber endlich etwas geschehen auf dem Areal in Alt-Hohenschönhausen. Von Simon Wenzel
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.08.2023.
Ein Regenschauer zur Begrüßung. Gerade schien noch die Sonne, jetzt prasseln die Tropfen. Die Ungetüme aus Beton in Alt-Hohenschönhausen sind in dramatisches Licht gehüllt. Ein paar Kinder aus der Nachbarschaft rennen in die Ruinen, als Steven Schachtschneider, der Geschäftsleiter Projektentwicklung und Projektleiterin Lisa Eggebrecht von der "Belle Époque Gruppe" aus ihren Autos steigen.
Die Jungs wurden beim Spielen erwischt und müssen jetzt abhauen. Das Gelände der ehemaligen Vertragsarbeitersiedlung in Lichtenberg ist zwar eingezäunt, aber auch riesig: 6,3 Hektar zwischen Gehrensee-, Wartenberger und Wollenberger Straße. Da kann schon mal jemand hineingelangen, der hier nicht sein darf, trotz Wachdienst.
Die DDR-Vergangenheit wurde von Graffitis abgelöst
Neun große Klötze stehen hier, sechs Stockwerke hoch, mit immer den gleichen Fenster-Umrissen. Im Moment ist das Areal ungenutzt. Die Gebäude sind entkernt. Abgesehen von den Eingangstreppen außen am Gebäude, ist kaum noch etwas von früher erhalten. In einer Ecke hängt ein altes Schild "Block C", an einem anderen Gebäude ist noch eine Gaststätte ausgeschildert "Treffpunkt B.U.S". Das wars. Wie es hier früher aussah, ist nur zu erahnen. Wie kopiert erstrecken sich die meterlangen Häuser, gebaut wurde hier Anfang der 80er Jahre günstig und effektiv, wie mit einer Schablone.
In der DDR wurde das Areal als Vertragsarbeiterwohnheim errichtet, mit kleinen Zimmern für zu viele Menschen. Rund fünf Quadratmeter pro Person waren kalkuliert, dazu Gemeinschaftsküchen und -bäder. Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, vor allem aus Vietnam lebten hier auf engem Raum. Jetzt sind von dieser Geschichte auch im Inneren keine Spuren mehr erkennbar. Stattdessen: Graffiti, viele Graffiti. Mal krakelige Tags oder einzelne Wörter pubertierender Jugendlicher, dann aber auch wieder kunstvolle Gemälde über ganze Wände. Und auf dem Boden: Müll - Spuren neuer, temporärer Bewohner. In einigen Räumen sind verlassene Nachtlager zu erkennen, in einem Flur wurden Federrahmen von Matratzen als Tür-Ersatz vor den Eingang zweier Räume gelegt. Die spielenden Kinder sind nicht die einzigen, die sich hier regelmäßig trotz Wachschutz aufs Gelände schleichen. Selbst ein entkerntes Haus bietet ein Dach über dem Kopf.
Projektentwickler Belle Époque will die entkernten Ruinen abreißen
Seit Anfang der 2000er Jahre steht hier alles leer. Die Besitzer wechselten, im Bezirk keimte mehrmals Hoffnung auf - alleine der ehemalige Bausenator und Bezirksbürgermeister Andreas Geisel durfte schon zwei Mal in der rbb-Abendschau verkünden, diesmal werde wirklich gebaut. Er wurde enttäuscht. Der aktuelle Bezirksstadtrat für Bauen, Kevin Hönicke (SPD) sagt dazu: "Die Umsetzung ist in der Vergangenheit daran gescheitert, weil Eigentümerinnen und Eigentümer das Gelände eher für Spekulation genutzt haben, oder sich eben nicht auf den langen schweren Weg eines Bebauungsplanverfahrens gemacht haben. Auch wurde das Projekt nicht immer mit der nötigen Energie aus der Politik verfolgt." Der Druck Wohnungen zu bauen, sei vor zehn Jahren vielleicht noch nicht groß genug gewesen.
Jetzt ist er es aber und deshalb soll sich hier etwas ändern. Nach mehreren Betreiberwechseln wollen das Immobilien- und Projektentwicklungsunternehmen Belle Époque Gruppe und die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Howoge das Areal endlich in eine bessere Zukunft führen. Etwas mehr als zwei Drittel bebaut die Belle Epoque, den übrigen Teil die Howoge. "Wir haben das Gelände entkernt erworben, es sah im Prinzip schon so aus, wie es jetzt aussieht", sagt Lisa Eggebrecht. Der vorherige Eigentümer habe das gemacht, weil die Gebäude saniert und umgebaut aber nicht abgerissen werden sollten.
Efeu und Beton
Niedrige Decken und enge Räume sollen weichen
Die Belle Époque Grippe will hingegen nicht auf den alten Ruinen aufbauen, sie sollen vollständig abgerissen werden. "Die Menschen erwarten eine gewisse Qualität. Nicht ausschließlich an die Materialien, sondern eben auch an die Raumqualität. Das hat unter anderem etwas mit Raumhöhen zu tun, mit Geometrie der Räume und das können Sie in diesem Bestand leider nicht darstellen. Die Decken sind teilweise so niedrig, dass man kein gutes Raumgefühl erzeugen kann, die Gebäude sind so tief, dass Sie für eine Wohnnutzung keine guten Lichtverhältnisse schaffen können", sagt Steven Schachtschneider.
Um diesen Eindruck bestätigen zu können, muss man kein Architekt sein. Die Decken sind niedrig, vielleicht zweieinhalb Meter hoch. Die langen Flure wirken selbst jetzt, ohne Fenster und Türen, düster. Dazu ist der Gebäudekern seit Jahren Wind und Wetter ausgesetzt. Die Dachpappe hängt schon in Fetzen herunter, einige Räume sind durchnässt von den heftigen Regenschauern des Tages, das Wasser läuft die Innenwände herab. Schwer zu sagen, was hier noch zu retten wäre.
Über 1.000 Wohnungen, eine Schule und Geschäfte
Auf einer Treppe breitet Steven Schachtschneider den vorläufigen Plan für das künftige Quartier aus. In Zukunft sollen hier über 1.000 Wohneinheiten nach Berliner Modell (zwei Personen pro Wohnung) entstehen, auf Seiten der Belle Époque Gruppe zu fast einem Drittel, bei der Howoge zur Hälfte mietpreisgebunden. Dazu sollen eine Grundschule und zwei Kitas entstehen, außerdem könnte in den Erdgeschossen Einzelhandel und Gastronomie einziehen. Noch ist nicht final entschieden, was alles im Bezirk benötigt wird. Sogar ein Medizinisches Versorgungszentrum oder ein Hotel seien denkbar.
"Wir sind da gerade noch in der Nutzungsfindung und möchten ein Quartier, was in sich funktioniert und einen Mehrwert für die Bewohner aber auch für das Umfeld bietet", sagt Lisa Eggebrecht. Es solle ausdrücklich keine abgeschlossene Community entstehen.
Das sei auch für den Bezirk wichtig, sagt Bezirksstadtrat Kevin Hönicke: "Wichtig ist, dass wir einen Kompromiss hinbekommen, der zum einen die Wirtschaftlichkeit für die Eigentümer sichert, aber auch einen lebenswerten Kiez entstehen lässt, in welchem die Menschen später gerne wohnen." Ärztliche Versorgung sei ihm wichtig, er wünsche sich außerdem einen autofreien Kiez.
Gedenkort für ehemalige Vertragsarbeiter und moderne Streetart
Die Historie will die Belle Époque Gruppe ebenfalls würdigen. Ein Erinnerungsort soll geschaffen werden. Wie genau der aussehen wird, ist noch nicht klar. Aber Mitarbieter haben Interviews mit ehemaligen Vertragsarbeitern geführt, alte Fotos gesammelt und mit Menschen und Vereinen aus dem Kiez gesprochen. Die historische Auseinandersetzung soll durchaus kritisch werden. Denn der Umgang mit den Vertragsarbeitern, vor allem aus Vietnam, "war kein Glanzpunkt Berliner Geschichte", sagt Lisa Eggebrecht.
Die Arbeiter - so ist es auch aus Berichten im rbb-Archiv zu entnehmen -, sollten auf dem Gelände bleiben, ihre Integration war nicht erwünscht. Die Lebensbedingungen waren teilweise prekär und das für verhältnismäßig viel Miete. Umgerechnet 300 Euro für acht Quadratmeter wurden hier noch in den 90er Jahren gezahlt.
Auch die neuere Geschichte der Brache soll gewürdigt werden. Die Graffiti, die seit der Entkernung in den Ruinen entstanden sind, wurden katalogisiert. Einige ausgewählte sollen vielleicht in das neu entstehende Areal integriert werden. Dafür müssten dann die Betonstücke, auf die sie gesprayt sind, ausgeschnitten werden.
Beton könnte teilweise wiederverwertet werden
Es ist nicht das einzige vom Beton, was bleiben soll. In einem recht neuen Verfahren werden Teile des alten Betons recycelt, indem man ihn zunächst schreddert und dann der neuen Mischung zuführt. Das Thema Nachhaltigkeit sei der Belle Époque Gruppe dabei sehr wichtig, sagt Steven Schachtschneider. Ganz günstig wird das Großprojekt aber nicht: Alleine für seinen Teil des Geländes rechne das Unternehmen mit Kosten in Höhe von bis zu 500 Millionen Euro, sagt Geschäftsführer Torsten Nehls. "Das ist viel, aber es ist auch ein tolles, großes Grundstück und dieses Herz von Hohenschönhausen verdient, dass es nicht nochmal 25 Jahre so bleibt, wie es ist", sagt Nehls.
Das hofft auch Bezirksstadtrat Hönicke. Diesmal soll es wirklich klappen mit dem Bau. "Ruinen an einer so zentralen Stelle und in einer wachsenden Stadt mit einer Wohnungsnot sind nicht hinnehmbar", sagt Hönicke. Klingt nicht so, als würde der Bezirk dem Projekt Steine in den Weg legen. Im kommenden Jahr könnte der Bebauungsplan erlassen werden. Dann soll es los gehen mit dem Projekt. Läuft es nach Plan, könnte bis 2027 das geplante Quartier erbaut werden.
Sendung: rbb24 Inforadio, 20.08.2023, 17:45 Uhr