Selbst Teile der Mittelschicht bedroht - Wohnungslosigkeit wird auch in Brandenburg zum Problem
In Brandenburg sind derzeit knapp 3.300 Menschen als wohnungslos registriert. Menschen, die gar auf der Straße leben, sind da noch gar nicht eingerechnet. Sozialverbände fordern nun, den sozialen Wohnungsbau deutlich nach oben zu fahren. Von Andreas B. Hewel
- Knapp 3.300 Menschen in Brandenburg als untergebrachte Wohnungslose erfasst
- Es gibt eine große Dunkelziffer
- Auch die Mittelschicht ist betroffen
- Grundsicherung bei Rente wird fast zur Regel
3.290 Menschen sind in Brandenburg als untergebrachte wohnungslose Menschen erfasst. Und die Zahl der Betroffenen scheint deutlich zu steigen. Viola Jacoby, Vorsitzende der LIGA in Brandenburg, einem Zusammenschluss von Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, kennt die sozialen Brennpunkte im Land und diese Zahlen machen ihr Sorgen. Auch weil sie weiß, dass es eine große Dunkelziffer gibt. "Wir gehen davon aus", so Jacoby, "dass die prekäre Situation vieler, viel, viel größer ist."
Vergleichbare Zahlen gibt es erst seit kurzem
Das Problem ist, dass es erst seit kurzem Zahlen gibt zur Wohnungslosigkeit, die sich vergleichen lassen. So hat sich auf Bundesebene die Ampelkoalition erstmals dran gemacht, wohnungslose Menschen zu erfassen. Ende Januar 2022 wurden bundesweit 178.000 Menschen registriert, die zwar wohnungslos, aber untergebracht waren. Entweder wohnten diese Menschen in Notunterkünften oder bei Verwandten oder Freunden. Obdachlose Menschen sind in diesen Zahlen noch nicht erfasst. Ein Jahr später schon hat sich diese Zahl mit 372.000 mehr als verdoppelt.
Auch wenn 2023 Flüchtlinge aus der Ukraine mit 130.000 Menschen rund ein Drittel der Wohnungslosen ausmachen, ist der Anstieg enorm. Damit wächst ein Ziel der Bundesregierung zur Mammutaufgabe an. Sie will mit einem "Nationalen Aktionsplan Wohnungslosigkeit" die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 überwinden. So hart die Zahlen auch sind, dadurch dass sie erstmals erfasst wurden, lässt sich die Dimension der Aufgabe überhaupt erst ermessen.
Auch Mittelschicht betroffen
So ist laut Jacoby die Gefahr, von Wohnungsnot bedroht zu werden oder in sie abzurutschen, deutlich gestiegen. "Es trifft immer mehr die sogenannten mittelständigen Familien", erklärt Jacoby, "bei denen nur ein kleines Segment wegfallen muss – Arbeitslosigkeit, Krankheit – und schon ist man nicht mehr in der Lage, die erhöhten Mieten zu zahlen oder auch die Kredite für das Eigenheim." Ein Grund für den Anstieg dieser existenziellen Gefahr, wohnungslos zu werden, sind die gestiegenen Miet- und Energiepreise. Selbst Lohnsteigerungen von bis zu sieben Prozent könnten dies nicht ausgleichen.
Grundsicherung bei Rente wird fast zur Regel
Zunehmend betroffen von der Gefahr, wohnungslos zu werden, sind laut Andreas Kaczynski von der Landesarmutskonferenz Brandenburg auch alte Menschen. Bei Neurentnerinnen und -rentnern sei ein Antrag auf eine zusätzliche Grundsicherung fast zur Regel geworden. "Die müssten zum Teil aus ihren Wohnungen raus – können sie aber gar nicht. Wo sollen sie denn hin?" klagt Viola Jacoby. Es gibt schichtweg keine Wohnungen, die frei wären, auch keine kleineren. "Wir brauchen unbedingt den sozialen Wohnungsbau", fordert Jacoby.
Geld dafür gibt es eigentlich. 14,5 Milliarden Euro stellt der Bund den Ländern in den Jahren 2022 bis 2026 für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung. Ein Rekord laut Brandenburgs Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Bündnis90/Grüne). Für die Verhinderung von Obdach- und Wohnungslosigkeit selbst aber, so Nonnemacher, seien die Kommunen zuständig. Und die haben zumindest teilweise immer mehr nicht nur Wohnungslose, sondern auch Obdachlose zu betreuen.
Auch Obdachlosigkeit steigt
"In Fürstenwalde steigt die Obdachlosigkeit seit mindestens zwei, drei Jahren", sagt Thomas Thieme vom Caritas-Verband. In ihrem sozialen Zentrum, der sogenannten "Haltestelle", versucht der Verband Menschen in Not zu beraten und zu verhindern, dass Wohnungslosigkeit überhaupt erst entsteht. Doch seit der Corona-Pandemie hat sich laut Thieme deren Zahl in Fürstenwalde mehr als vervierfacht. "Wir haben vor der Pandemie im halben Jahr so fünf, sechs Obdachlosenpräventionen gehabt", bilanziert Thieme. "Die haben wir jetzt teilweise im Monat oder manchmal schon in der Woche. Also, wir hatten eine Woche mit neun Präventionen."
Gerade in Fürstenwalde habe sich zudem der Wohnungsmarkt in den vergangenen zwei Jahren völlig verändert, so Thieme. "Bis vor drei oder vier Jahren ungefähr wurden ja noch Wohnungen zurückgebaut", sagt Thieme. "Die wurden abgerissen, weil man meinte, nicht mehr so viele Wohnungen zu benötigen. Das hat sich jetzt komplett umgekehrt." Der Grund ist die Ansiedlung von Tesla in Grünheide. Zehntausend Menschen würden dadurch in die Region kommen und eine Wohnung suchen. Dieser Druck auf dem Wohnungsmarkt paust sich umgehend nach unten durch.
So wird auch Obdachlosigkeit in Fürstenwalde zunehmend zum Dauerproblem, sagt Thieme. "Wir haben die Situation, dass die Obdachlosennotunterkunft gefüllt ist und es auch dort keinen Abfluss mehr gibt, weil die Menschen eben keine Wohnung mehr bekommen. Und insofern wird es eben immer schwieriger, Menschen, die neu in die Obdachlosigkeit kommen, unterzubringen."
Wohnungslosigkeit ist in Brandenburg im Bundesvergleich noch niedrig
Im Bundesvergleich schneidet Brandenburg in Sachen Wohnungslosigkeit noch eher günstig ab. Kommen bundesweit auf 100.000 Einwohner 44 untergebrachte Wohnungslose, so sind es in Brandenburg lediglich 13. Doch diese Zahlen trösten die Betroffenen nicht. "Jeder Mensch ohne Wohnung oder Obdach ist ein Mensch zu viel", räumt auch Sozialministerin Nonnemacher ein. Das A und O ist so auch für Thomas Thieme der soziale Wohnungsbau. Der müsse drastisch nach oben gefahren werden. Bislang aber kann er diesen im Land fast nicht erkennen. Nur mit ihm aber, so Thieme, könne das Problem gelindert werden und bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung stehen.
Sendung: Brandenburg Aktuell, 18.09.2023, 19:30 Uhr