Berliner Schüler und der Krieg in Nahost - "Die Welle von Hass in Social Media ist richtig groß"

Do 19.10.23 | 18:50 Uhr
Polizisten nehmen einen Teilnehmer einer Pro-Palästina-Demonstration fest. (Quelle: dpa/Paul Zinken)
Video: ARD Mittagsmagazin | 18.10.23 | Helena Daehler | Bild: dpa/Paul Zinken

Die Terrorangriffe auf Israel und der Krieg in Gaza beschäftigen auch Schülerinnen und Schüler in Berlin. In einem Gymnasium in Friedenau diskutieren sie mit ihrem Lehrer, was die Bilder des Horrors in sozialen Medien in ihnen auslösen.

Der Schulleiter Robert Fuß ist auf dem Weg in die erste Stunde. Am Dienstagmorgen stünde im Geschichts-Grundkurs der zwölften Klasse eigentlich die Weimarer Republik auf dem Lehrplan. Aber die Ereignisse im Nahen Osten haben Fuß' Plan über den Haufen geworfen. "Auf Wunsch der Schülerinnen und Schüler vom Freitag habe ich mich entschlossen, heute mindestens die erste Stunde zu den aktuellen Entwicklungen in Israel und dem Gazastreifen zu machen", sagt der Geschichtslehrer.

Zu Beginn der Stunde im Paul-Natorp-Gymnasium in Friedenau gibt es noch einmal einen kurzen Abriss zur Geschichte des Nahost-Konflikts. Wie kam das eigentlich alles? Was ist die Hamas? Oder: Welche Macht haben Bilder in Kriegszeiten? "Ich möchte mal ein Bild benutzen: Wir wollen ja alle gerne Schwarz und Weiß haben, aber das gibt es nicht. Es gibt eine unterschiedliche Abstufung von Grau. Das ist das Dilemma", sagt Fuß. Danach gibt es eine offene Gesprächsrunde. Der Lehrer möchte wissen, wie es den Schülerinnen und Schülern damit geht, was in diesen Tagen auf sie einprasselt. Viele machten sich Sorgen, erzählen sie.

Das belastet mich so sehr, dass ich dann zum Teil nicht weiß, ob ich mich überhaupt in diesem Sinne noch informieren sollte.

Lara, Schülerin

"Das Schlimmste, was passieren könnte"

"Natürlich hat man Angst davor, dass noch andere Staaten eingreifen und man dann einfach dieser Dimension ins Auge sehen muss. Und das wäre ja, glaube ich, mit das Schlimmste, was passieren könnte", sagt Lisa.

"Was mich bei Social Media zum Beispiel besonders belastet hat, war Gewalt oder auch Terror-Szenen richtig im Videoformat zu sehen. Und irgendwie belastet es mich so sehr, dass ich dann zum Teil nicht weiß, ob ich mich überhaupt in diesem Sinne noch informieren sollte", sagt Lara.

"Von heute auf morgen kommt so eine Flut an Informationen auf einen zu, was sehr überfordernd sein kann. Und da kann ich auch Laras Punkt ganz gut verstehen, dass man eben gar nicht mehr weiß, wie viel man sich überhaupt damit auseinandersetzen möchte, weil es eben teilweise auch sehr, sehr deprimierend sein kann", sagt Fanny.

Schülerinnen und Schüler des Paul-Natorp-Gymnasiums in Berlin-Friedenau diskutieren am 17.10.23 mit ihrem Lehrer und Schulleiter Robert Fuß über den Israel-Gaza-Krieg und seine Auswirkungen (Quelle: rbb).
Eigentlich wäre an diesem Morgen Geschichts-Grundkurs dran gewesen - aber die Schüler hatten soviel Redebedarf, dass der Lehrer kurzerhand eine offene Gesprächsrunde über Israel und Gaza daraus machte. | Bild: rbb

Hauptsächlich über Tiktok und Instagram informiert

Die Schülerinnen und Schüler informieren sich unter anderem über Tiktok und Instagram über den Nahostkonflikt und die Terroranschläge der Hamas. Auf den Plattformen werden nicht nur so schnell so viele Gewaltdarstellungen in Zusammenhang mit dem Krieg gezeigt, dass die Plattformen mit dem Entfernen längst nicht hinterherkommen - auch jede Menge Fake News werden verbreitet, ohne dass die Plattformbetreiber den Wahrheitsgehalt überprüft hätten.

Ein Beispiel aus Berlin: Am Donnerstag behauptete ein pro-palästinensischer Influencer mit 85.000 Followern, bei Protesten in Berlin sei ein kleiner Junge von der Polizei angegriffen worden und nun lebensgefährlich verletzt oder tot - was nachweislich falsch war [twitter.com]. Solche Falschbehauptungen werden bewusst verbreitet, um Menschen aufzuhetzen. Nach Angaben von Medienforschern sind Ausmaß und Geschwindigkeit der Verbreitung von sogenannten Fake News seit dem Großangriff der Hamas auf Israel und den Vergeltungsangriffen Israels auf den Gazastreifen beispiellos.

EU kündigt Verfahren gegen Tiktok an

Die Plattformen hätten "zu einem gefährlichen Kreislauf aus Empörung, Interaktionen und Weiterverbreitung beigetragen", schrieb der demokratische US-Senator Michael Bennet am Dienstag an die Facebook- und Instagram-Mutterkonzern Meta, an Tiktok, Google und X, ehemals Twitter.

Die EU hatte in den Tagen zuvor Meta und Tiktok verwarnt und an ihre Pflichten erinnert, Hetze und Fake News zu verhindern. Speziell Tiktok werde missbraucht, "um illegale Inhalte und Falschinformationen in der EU zu verbreiten", kritisierte der EU-Digitalkommissar Thierry Breton. Die besonders von Kindern und Jugendlichen genutzte Plattform habe eine "besondere Verantwortung", diese vor Gewalt-Inhalten wie der Darstellung von Geiselnahmen zu schützen. Nun soll Tiktok der EU erklären, wie das Unternehmen Minderjährige schützen will.

Wer den Schülerinnen und Schülern in Friedenau zuhört, hat den Eindruck: Auf sie prasselt nach wie vor mehr Verstörendes aus Israel und Gaza ein, als sie selber verarbeiten können.

In solchen Situationen frage ich mich einfach, warum Menschen so etwas tun. Ich habe dann das Bedürfnis, das nachvollziehen zu können. Aber das geht dann nicht. Und dann sitze ich einfach so da und ja, bin sprachlos.

Anna, Schülerin

"Mir geht es relativ schlecht damit, weil für mich jeden Tag neue Eindrücke dazukommen. Jeden Tag sieht man irgendwelche schrecklichen Bilder. Auf Instagram werden viele Sachen einfach noch nicht zensiert oder erst später, nachdem man sie gesehen hat. Das beeinflusst irgendwie schon, wenn man da kleine Kinder sieht, die in Käfige gesperrt werden. Oder wenn man sieht, wie etliche Häuser einstürzen. Man hat diese Bilder im Hinterkopf, man denkt irgendwie den ganzen Tag darüber nach", sagt die Schülerin Lisa.

"Für mich war es auch krass, dass dieser Antisemitismus so schnell wieder aufgeflammt ist. Ich denke, dass da auch Social Media eine Mitverantwortung trägt. Denn mir fällt auf, dass da sehr vereinfacht gesprochen wird, sehr populistisch gesprochen wird und auch immer irgendwie so gesagt wird: Die Palästinenser und die Juden – dass die das so vereinfachen. Diese Welle von Hass, die man auf Social Media findet, ist richtig groß. Und wie viele Menschen Terror gegenüber Juden und generell auch in Deutschland gerechtfertigt finden, finde ich krass. Also so egal, was jetzt die Vorgeschichte war", sagt Carla.

Ihre Mitschülerin Anna sagt, in solchen Situationen sei sie froh, dass sie generell kein Social Media nutze. Mitgenommen hätten sie die Ereignisse in Israel auch so schon genug. "In solchen Situationen frage ich mich einfach, warum Menschen so etwas tun. Ich habe dann das Bedürfnis, das nachvollziehen zu können. Aber das geht dann nicht. Und dann sitze ich einfach so da und ja, bin sprachlos", sagt sie.

"Lesen Sie"

Ihr Lehrer Robert Fuß rät seiner Klasse an diesem Tag deshalb: "Lesen Sie. Da haben wir nämlich immer noch den Filter unserer Fantasie davor. Medien haben alle Berichte in ihren Onlineportalen drin wo man sich informieren kann, wo man aber dieser grausamen Wahrnehmung nicht ausgesetzt ist. Das würde ich dringend empfehlen", sagt Fuß.

Diesen Rat hört auch Fuß' Schüler Noam, der sich bisher viel über Social Media informiert hat. Er hat Bekannte in Israel und interessiert sich sehr für das Thema, wie er nach dem Unterricht erzählt. Er verfolgt die Berichterstattung kritisch. Seinem Lehrer vertraue er grundsätzlich, sagt aber auch: "Er kann wie alle anderen Menschen auch gewissen Vorurteilen und gewisser Unwissenheit unterliegen und Sachen fehlinterpretieren, einfach weil es ein so komplexes Thema ist."

Fuß sagt, er bemerke an der Schule verstärkt Schülerinnen und Schüler mit Depressionen und Versagensängsten. "Und eine meiner Erklärungen dafür ist, dass Sie in den letzten drei, vier Jahren eigentlich ständig mit irgendwelchen Ereignissen aufgewachsen sind, wo Angst transportiert wurde. Das ging los mit der Klimakrise, dann hatten wir Corona, der Krieg in der Ukraine, und jetzt haben wir den Krieg in Nahost. Unterschätzen Sie das nicht: Das macht was mit Ihnen. Insofern kann ich Ihnen nur wünschen, dass es ihnen gelingt, da keine Zukunftsangst zu entwickeln. Denn ihre Zukunft haben Sie nach wie vor selber in der Hand", sagt der Schulleiter.

"Im Unterricht das Schwarz-Weiß-Denken aufbrechen"

Vor etwa einer Woche hat es auch in dieser Schule einen Vorfall gegeben, der für Aufregung gesorgt hat. Im Mittelpunkt: Ein Schüler mit Familie im Gazastreifen. "Da ging es darum, dass ein Schüler sich auch mit Palästina-Flagge hat fotografieren lassen. Das ist aber ein kein radikaler, (sondern) ein ganz vernünftiger und durchaus reflektierter Junge, der aber eben auch mit seinen Emotionen umgehen muss", sagt Fuß.

Bei solchen Konflikten wenden sich im Moment viele Lehrkräfte für Unterstützung an die Kiga, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. "Man muss das offen halten. Man muss fragen: Habt ihr mitbekommen, was in Israel und Palästina los ist? Wie steht ihr dazu, welche Informationen habt ihr? Im Gespräch kann man dann schauen, in welche Richtung wann das pädagogische Ziel hinlenken muss. Es geht im Unterricht darum, das Schwarz-Weiß-Denken aufzubrechen und die Kinder hin zu einer demokratischen Haltung zu schulen", sagt der Kiga-Leiter Derviş Hızarcı.

Mehr als eine Stunde hat die zwölfte Klasse an diesem Morgen über den Nahost-Konflikt und die damit verbundenen Sorgen und Ängste gesprochen. Bei Bedarf werden sie das auch wieder tun, verspricht der Lehrer.

Sendung: rbb24 Abendschau, 19.10.2023, 19:30 Uhr

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