Serie "Bau fällig" | AEG-Kantine Berlin-Oberschöneweide - Bis sich die Balken biegen
Arbeiter der AEG-Kabelwerke genossen Urlaubsfeeling in der Mittagspause, später wurden hier die KWO-Malocher satt. Heute vermodert die leerstehende Ex-Kantine in Oberschöneweide - um die Zukunft des Denkmals gibt es Streit. Von Sebastian Schneider
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 03.10.2023.
Es ist der prächtigste Raum des ganzen Hauses, aber hier sieht es aus, als hätte man eine "Stromberg"-Kulisse in ein britischen Jagdschloss gezogen. Oben die dunkle, beeindruckende Holzdecke, mehr als 120 Jahre alte Balken. Ein paar Meter weiter unten stehen hellgraue Gipskartonwände mit abgetakelten Bürotüren, man guckt in freudlose Arbeitszimmer der 1980er, der Teppichboden wellt sich schon. "Das ist das Mäuselabyrinth", sagt Susanne Reumschüssel und schmunzelt säuerlich. Sie kämpft dafür, dass die vergessene Schönheit wieder sichtbar wird. Der offene Blick nach oben ist schon ein Fortschritt: Bis vor ein paar Jahren hätte man die prachtvolle Fachwerkdecke gar nicht zu sehen bekommen - sie war abgehängt worden.
Die ehemalige AEG-Kantine in der Wilhelminenhofstraße ist nach außen unauffällig, senfgelbe Farbe auf grobporigem Putz, aber guckt man genauer hin, hat sie ungewöhnliche Details: Die vier quadratischen Zwiebeltürmchen, Fachwerkgiebel, die ziegelgedeckten Dächer. Früher wirkte sie wie ein vornehmer Landsitz. Seit vielen Jahren aber steht der größte Teil leer, das Industriedenkmal verrottet. Susanne Reumschüssel muss sich zusammenreißen, um ihren Ärger darüber gefiltert nach außen zu geben, das merkt man ihr an.
Putzbrocken und Taubenfedern
Die Dokumentarfilmerin engagiert sich seit Jahren beim Industriesalon Schöneweide, einem Verein, der die reiche, zerrissene Geschichte dieses Stadtteils erhalten hilft. Er betreibt ganz in der Nähe der Kantine ein kleines Museum samt Archiv und bietet Führungen an, zuletzt wieder am Tag des offenen Denkmals [industriesalon.de]. Für diese Arbeit hat Susanne Reumschüssel das Bundesverdienstkreuz bekommen. An diesem warmen Spätsommertag schließt sie die Tür zur Kantine auf und sagt: "Dass dieses Gebäude immer weiter verkommt, ist ein Desaster."
Man erreicht es über den Innenhof, die gelbgeklinkerte, ehemalige Drahtfabrik gegenüber des Eingangs steht heute leer. Daneben sind ein Fitnessstudio und "Rolls Royce Solutions Berlin" untergebracht. Das Unternehmen stellt unter anderem Speicher für erneuerbare Energien her, hervorgegangen aus einem Startup - auch so ein Symbol für die neuen Zeiten in Schöneweide, die doch an alte anknüpfen.
Im Erdgeschoss sieht alles noch unauffällig aus, hier residiert eine Firma, die Maschinen für Ummantelungen herstellt: Für Herzkatheter, Serverkabel, Gartenschläuche, kaum etwas, was mit diesen Apparaten nicht eingehüllt werden kann. Neben der Bürotür stehen hellbraune Aktenschränke auf grauem Linoleum, das praktische, auf dem man den Dreck nicht sieht.
Aber mit jeder der 22 Stufen nach oben wird der Verfall des Gebäudes sichtbarer. Los geht es mit Spinnweben, dann sprenkeln auch Putzbrocken und Taubenfedern den Weg. An den pastellfarbenen Fensterscheiben, von limoncellogelb bis bonbonrosa, erkennt man, was für ein Wert hier einmal auf schöne Details gelegt wurde.
Ehemalige AEG-Kantine: Vom Landhausstil zum "Mäuselabyrinth"
Kein Urlaub, sieben Tage die Woche schuften - wenigstens in der Kantine soll man entspannen
Gebaut wird das Haus 1899 für die Mitarbeiter der "Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft", im Auftrag des Firmengründers Emil Rathenau. Der Berliner hat wenige Jahre zuvor mit Chuzpe und Weitblick den Grundstein für ein Industrieimperium gelegt, dessen Name weltbekannt wird: AEG. Oberschöneweide hat damals etwas mehr als 600 Einwohner, es ist gerade erst dem Zustand als verschlafenes, grünes Ausflugsziel vor den Toren Berlins entwachsen. Hier findet Rathenau Raum für seinen Ehrgeiz. Er lässt das Kraftwerk Oberspree bauen, eine Autofabrik, das Kabelwerk Oberspree, kurz KWO, dazu gehören unter anderem ein Kupferwalzwerk und eine Drahtzieherei. Was sie alle gemeinsam haben: Die Mitarbeiter müssen essen. Sie schuften damals in der Regel zehn Stunden am Tag und das an sieben Tagen in der Woche. Urlaub gibt es nicht.
Rathenau ist aber, das lässt sich aus dem damaligen Kontext sagen, kein gewissenloser Raubtierkapitalist. Im Vergleich zu anderen Unternehmern behandelt er die Angestellten recht anständig. Die Werkskantine ist etwas besonderes: Ganz bewusst als Kontrapunkt zur nüchternen Linie der Fabrikhallen gehalten. Fachwerk mit kunstvollen Schnitzereien, Erker, grünliche Kupferdächer, Stuck. Ausgedacht hat sich das Rathenaus Frau Mathilde. Die Arbeiter und Beamten sollen sich in ihrer Pause wohl fühlen. Heute würde man vielleicht sagen: Abschalten können.
"Hier im ersten Stock waren die etwas besser Gestellten, die mehr verdienten", erzählt Susanne Reumschüssel. Für 25 Pfennig bekommt man ein warmes Mittagessen, wird am Tisch bedient. Wer sich das nicht leisten kann, darf im Erdgeschoss mitgebrachtes Essen aufwärmen und verpeisen. Damals ist das ungewöhnlich.
Der erste Sohn stirbt durch eine Krankheit. Der zweite wird ermordet.
Die Rathenaus lieben Oberschöneweide, stiften dem Ort ein Waldgrundstück an der Wuhlheide. Auf diesem Friedhof sind sie alle begraben. Zuerst stirbt Erich, der Lieblingssohn von Emil Rathenau, praktisch begabt, aber von schwacher Gesundheit - und eigentlich als Firmenerbe vorgesehen. Der Vater ist von seiner Trauer so zerschmettert, dass er drei Monate lang nicht spricht. Den Sarg seines Sohnes lässt er auf dem Fabrikgelände aufbahren, in Sichtweite der Kantine.
1915 liegt auch sein Leichnam dort und Tausende Arbeiter erweisen ihm ihre letzte Ehre. Sein zweiter Sohn Walther hält die Grabrede. Er wird später Außenminister in der Weimarer Republik. Seinen Vater überlebt er um sieben Jahre. Dann wird er von rechtsradikalen Terroristen ermordet.
Susanne Reumschüssel denkt und redet bei dem kleinen Rundgang so schnell, dass man Mühe hat, ihr durch 123 Jahre Geschichte zu folgen. Der Kuli fliegt durch das Notizbuch, nicht alles lässt sich später noch entziffern. Es gibt viel zu erzählen: Immer wieder wird die Kantine in der Wilhelminenhofstraße umgebaut. Mitte der Zwanziger gestaltet die Firma die Front deutlich nüchterner. Der Haus-und-Hof-Architekt der AEG, Peter Behrens, verachtet den Jagdhauskitsch. Er predigt die neue Sachlichkeit.
Während des Zweiten Weltkrieges stellen die Werktätigen Patronenhülsen für die Armee her, zum Essen bekommen sie nur noch höchstens 15 Minuten. Der Propagandaminister Goebbels kommt für einen PR-Besuch in die Kantine, um sich als volksnaher Freund der Arbeiter zu inszenieren.
Prinz Philip fühlt sich wie zuhause
Nach dem Krieg ist die AEG hier Geschichte. Zu DDR-Zeiten wird die Kantine vom VEB Kabelwerk Oberspree genutzt. Damals verliert sie auch innen ihre Extravaganz. Die verzierten Wände des Treppenhauses etwa werden mit Ölfarbe überpinselt, das Mäuselabyrinth wird in den früheren Speisesaal gesetzt. Jetzt sitzt hier die Personalabteilung, zeitweise auch die Volkspolizei.
Nach der Wende übernimmt erst die Treuhand, dann kauft ein britischer Kabelhersteller die Fabriken. Im Oktober 1992 kommt deshalb die Queen mit ihrem Gatten Philip zu Besuch. Man baut ihnen extra einen Anleger, damit sie per Schiff über die Spree einlaufen können. Die Gebäudeseite zum Flussufer hin hat man sandgestrahlt, um die Königin nicht zu erschrecken. Der Legende nach soll Philip nach der Werksführung darum gebeten haben, die andere Seite in der Wilhelminenhofstraße zu sehen. Er erblickt leerstehende Geschäfte, eingeworfene Scheiben, Schlaglöcher, Verfall. Bilder, wie er sie aus Sheffield, Manchester, Birmingham kennt. "Die Industrie hier im Viertel war damals ja praktisch ausgelöscht. Philip hat gerufen: 'Oh! Das ist ja wie bei uns!'", erzählt Susanne Reumschüssel. Wenige Jahre später macht der britische Eigentümer die Fabrik in Berlin dicht.
Im AEG-Speisesaal sind zu dieser Zeit noch Büros untergebracht, dann steht das Denkmal leer und verfällt. Heute hat sich der Schwamm derart durch die Dielen und Decken gefressen, dass diese an mehreren Stellen durchgebrochen sind. In einem der früher prächtigen Treppenhäuser zum Beispiel liegen schwarze, modrige Holzreste auf den Stufen, in der Decke darüber klafft ein Loch. Vom Dachboden her kann man das Rascheln, Flattern und Tappen von Tauben und Ratten hören. Im Erdgeschoss liegt noch ein ausgeweideter Panzerschrank auf dem Rücken. Ein Relikt der Lohnbuchhaltung - schlicht zu schwer, um geklaut zu werden.
Ein Museum - aber wo?
Um diesen Ort wiederzubeleben, wünscht sich der Industriesalon hier ein Museum zur Industriegeschichte, hat dazu auch eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Seit 1996 gehört das Haus dem Unternehmer Johann Erich Wilms, wie überhaupt das meiste hier bis zum Spreeufer - das an der Grundstücksgrenze durch Zäune abgesperrt ist. Der Sauerländer Wilms ist mit seiner Firmengruppe erfolgreich, unter anderem als Geschäftsführer von Kabelwerken in Franken und Mannheim gelistet. Im Internet finden sich Verbindungen zu mehr als 20 Unternehmen. Aber viel mehr findet sich nicht. Wilms gilt als sehr öffentlichkeitsscheu - Interviews gibt er grundsätzlich nicht.
Es gibt nun sehr unterschiedliche Sichtweisen dazu, an wem es nun hakt, dass im früheren Speisesaal nichts weiter passiert. Susanne Reumschüssel vom Industriesalon interpretiert die Situation als Patt zwischen Bezirk, Senat und Wilms. Sie sagt: Man könnte sich einigen, entsprechendes Fördergeld für die Sanierung und den Betrieb eines Museums sei da. Es scheitere an der Kommunikation zwischen Bezirk und Eigentümer.
Fragt man den Bezirksbürgermeister von Treptow-Köpenick, Oliver Igel, klingt das anders. “Wir haben sehr umfangreiche Verhandlungen gehabt, um das Industriemuseum an dem Ort zu realisieren. Leider stimmten am Ende die Konditionen nicht”, sagt Igel. Berechne man die Fördermittel ein, gehe es mehrere Jahre lang um eine Monatsmiete von 56.000 Euro. “Und das lässt sich dem Steuerzahler einfach nicht erklären”, sagt der SPD-Politiker. An sich sei der Bezirk sehr begeistert von der Idee - aber woanders. “Wir haben noch landeseigene, unbebaute Flächen in Oberschöneweide. Die könnten sich dafür anbieten, ein solches Museum mit einem Neubau zu realisieren”, sagt Igel. Das Geld, was der Bezirk dafür ausgebe, fließe dann langfristig in ein eigenes Objekt. Susanne Reumschüssel sagt, sie halte davon nichts. Ein neuer Betonbau auf einer Brache passe nicht zum historischen Charakter des Hauses hier.
Fordernder Unterton
Die Nachmittagssonne taucht die Giebel in ein freundliches Braun. Vor der Tür trifft Reumschüssel zufällig einen Architekten, der sich für die Eigentümerfamilie um das Gelände kümmert. Sie reden freundlich miteinander, aber man kann einen gewissen fordernden Unterton nicht überhören. Der Architekt lächelt mit verschränkten Armen. Susanne Reumschüssel lässt beim Gespräch unablässig ihren Schlüssel an dessen hellgrünem Band wie ein Jojo um ihren rechten Zeigefinger rotieren. Der Architekt sagt jovial: "Aber es passiert ja etwas mit dem Gelände, es ist ja etwas in Arbeit". Reumschüssel fragt sofort: "Was denn?"
Es werden diplomatische Noten darüber ausgetauscht, wie die Gespräche mit dem Senat so laufen, was hier eventuell geschieht, konkret wird es nicht, aber der Mann kann ja auch nichts dafür, das wird klar. Reumschüssel wirkt nicht, als sei sie bereit, das Gebäude aufzugeben. Dass deswegen beim Denkmalamt keiner mehr abhebt, sobald ihre Nummer erscheint, wie sie selber sagt, überrascht vielleicht nicht. "Machen Sie was draus", sagt sie zum Abschied und braust mit ihrem schwarzen Polo davon. Ein Sommerkurs für chinesische Stadtplanungsstudenten. Sie hat zu tun.
Sie kommen auch oft an einem besonderen, leerstehenden Gebäude vorbei und fragen sich, was es damit eigentlich auf sich hat? Schreiben Sie uns Ihre Vorschläge an internet@rbb-online.de mit dem Betreff "Bau fällig", wir freuen uns über Ihre Anregungen!