Interview | Tag der Organspende - "Die Sehnsucht nach dem Leben wird größer, wenn man davon wegrückt"
Seit einem Jahr wartet die 36-jährige Alisa im Paulinenkrankenhaus in Berlin-Westend auf passende Spenderorgane. In einer risikoreichen Operation sollen ihr Herz und Lunge transplantiert werden. Ein Gespräch über das Warten zwischen Leben und Tod.
Alisa wurde 1987 mit einem Herzfehler in Estland geboren. Sie war vier Jahre alt, die Mauer gerade gefallen, als ihre Mutter mit ihr für eine bessere medizinische Versorgung nach Berlin kam. Doch für eine operative Korrektur war es bereits zu spät, sie hätte kurz nach der Geburt stattfinden müssen. Ihr Herzfehler sorgt dafür, dass der Druck des Blutstroms auf die Lunge viel zu hoch ist, was über die Jahre unaufhaltsam zu einer zunehmenden Schädigung beider Organe geführt hat. Die Folge: Alisa bekommt schwerer Luft, hat immer wieder Wassereinlagerungen und wenig Kraft. Eine Transplantation ist ihre Chance auf mehr Lebensqualität und ein längeres Leben.
Seit einem Jahr lebt Alisa nun im Paulinenkrankenhaus in Berlin-Westend. Mit hoher Dringlichkeit benötigt sie zwei Spenderorgane: Herz und Lunge. Rund 8.400 Menschen warten derzeit in Deutschland auf eine Organspende.
rbb: Alisa, wie haben Sie reagiert als Sie erfahren haben, dass Ihr Herz und die Lunge so schwach sind, dass Sie eine Transplantation brauchen?
Alisa: Das überschreitet für mich schon Vorstellungsgrenzen. Es ist ein extrem großer Eingriff, der gefährlich ist und auch danach noch viele Risiken in sich trägt. Ich musste das erst mal irgendwie verdauen und konnte nicht gleich zusagen. Es passiert ja mit einem selbst. Das ist immer ein Unterschied für mich. Wenn andere sagen: 'Naja, dann machst du das halt.' Dann denke ich: 'Es ist ja auch nicht dein Körper. Du durchlebst es nicht.'
Sie haben inzwischen den High Urgency-Status. Das bedeutet, Sie warten mit besonders hoher Dringlichkeit im Krankenhaus. Jedes Jahr sterben in Deutschland hunderte Menschen, weil die Spenderorgane nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen. Auch die Transplantation selbst ist risikoreich. Denken Sie über die Möglichkeit des Sterbens nach?
Angst habe ich schon vor Komplikationen. Das macht es aber nicht einfacher, weil ich dann denke: Wenn das jetzt hier deine letzte Zeit sein soll, dann ist es aber nicht so, wie ich das will. Ich versuche es nicht so an mich ran zu lassen und mich darauf zu konzentrieren, dass alles klappt. Ich versuche eher zu überlegen: Was will ich im Leben danach unbedingt noch machen? Ein paar Sachen habe ich mir aufgeschrieben.
Ich würde total gerne einen Sonnenaufgang am See erleben. So richtig, richtig früh im Gras sitzen und dann die Frösche hören und die Sonne aufgehen sehen. Das Gras, die feuchte Luft, das Licht. Ich will alles so richtig spüren. Einfach wieder mehr im Hier und Jetzt präsent sein. Nicht so wie gerade: Man wabert so vor sich hin und lebt nur so halb.
Seit einem Jahr warten Sie nun schon im Krankenhaus. Passende Spenderorgane für Sie zu finden, ist sehr herausfordernd, weil Sie Herz und Lunge benötigen. In Deutschland sind die Wartezeiten besonders lang. Wie schauen Sie auf das letzte Jahr zurück?
Rein von außen betrachtet hat sich nichts verändert. Ich habe im Grunde einen Looping gedreht und bin wieder am gleichen Punkt wie vor einem Jahr. Bei mir ist Stillstand. Wenn ich jetzt nach Hause kommen würde, würde meine Wohnung so sein wie vor einem Jahr, als ich sie verlassen habe. Man hat das Gefühl, das Leben zieht hier an einem vorbei und es ist trotzdem deine Lebenszeit.
In einem Jahr kann viel passieren. Meine Freunde erzählen: Jemand hat ein Kind bekommen oder einen neuen Job gefunden, Familien ziehen um oder kaufen Häuser, machen eine große oder kleine Reise. Das ganz normale Leben. Und du bist die ganze Zeit immer nur Zuhörer. Du beobachtest das Leben aus der Ferne, aber du nimmst nicht mehr daran teil. Ich habe keinen Bezug zur Außenwelt mehr. Das hat mich sehr traurig gemacht. Die Sehnsucht nach dem Leben wird immer größer, wenn man immer weiter davon wegrückt.
Was vermissen Sie neben Familie und Freunden am meisten?
Mir fehlt die Natur. Mir fehlt Weite, dass ich wirklich mal einen Blick habe über eine Wiese oder ein Feld, einen See oder einen Fluss. Mir fehlen die Brandenburger Felder. Die Blumen. Ich kriege die Jahreszeiten hier intensiver mit, das ist so ein Marker. Ich beobachte aus dem Fenster die Bäume und auch wie die Vögel fliegen. Ich gucke oft in den Himmel und immer wenn ein Flugzeug am Himmel fliegt, denke ich: Es wäre so cool, wenn ich jetzt da drinnen sitzen und irgendwo hinfliegen könnte.
Haben Sie sich das Warten im Krankenhaus so vorgestellt?
Ich habe das Warten unterschätzt. Als ich hierher kam, hatte ich keine konkrete Vorstellung, wie zermürbend das sein kann. Ich habe mir einen Stapel Bücher mitgenommen, UNO-Karten und dann irgendwie noch dies und das und dachte, das werde ich ja irgendwie schaffen.
Was macht die Wartezeit für Sie so zermürbend?
Man kann nicht so richtig weit in die Zukunft denken, weil man so viele Unbekannte hat. Man weiß ja nicht mal, ob man am nächsten Tag noch da ist. Und ständig kann jemand reinkommen, kann jemand irgendwas bestimmen. Man passt sich ständig an. Man ist nicht in Freiheit, sondern in einem künstlichen Raum. Es ist kein Ort zum Leben. Diese Situation auszuhalten ist schwierig. Und auch dass man sich selbst immer wieder aufbaut und nicht den Mut verliert, kostet Kraft. Manchmal denke ich mir: Packe ich das hier noch alles? Wie lange reicht noch die Kraft, um das alles so zu tragen?
Haben Sie überhaupt eine Alternative?
Man könnte theoretisch sagen, man bricht alles ab und geht einfach. Aber die Konsequenzen muss man in Betracht ziehen. Laut der Ärzte ist das die Chance auf ein besseres Leben und ein längeres Leben. Die Alternative wäre das Krankenhaus zu verlassen und zu gucken, wie lange mein Körper diesen Zustand noch trägt. Irgendwann kommt ein Punkt, wo die Ärzte nicht mehr transplantieren können.
Ich habe am Anfang sehr lange gebraucht, einzusehen, dass es nicht mehr weitergeht wie bisher. Ich habe seit meiner Geburt immer wieder das Thema gehabt, dass ich nicht so ganz bin wie andere. Aber ich habe trotzdem versucht, dem nicht so viel Platz in meinem Leben zu geben, sondern soviel wie möglich zu machen wie andere auch. Sich einzugestehen, dass man es selbst nicht mehr hinkriegt und eine so große Hilfe annimmt, war für mich schwierig. Ich weiß, der Mensch stirbt nicht wegen mir. Der Mensch stirbt aus verschiedenen Gründen, die nichts mit einem zu tun haben. Und trotzdem hilft er einem und man nimmt diese Hilfe an.
Im europäischen Vergleich werden in Deutschland im Verhältnis deutlich weniger Organe gespendet als in anderen Ländern. Gibt es eine gesellschaftliche Verantwortung des Einzelnen zur Entscheidung?
Die Privilegien, die man als gesunder Mensch hat, sind den meisten gar nicht so bewusst. Aber ich habe keinen Groll. Ich würde niemanden verurteilen, wenn er oder sie sagt, ich habe mich damit noch nie befasst. Man will sich nicht so gern mit der Endlichkeit oder mit dem Tod beschäftigen. Ich habe das auch selber lange von mir weggeschoben, aber es ist auch ein Teil unseres Lebens. Wir sind alle nur eine begrenzte Zeit auf dieser Erde, Besucher sozusagen. Wieso kann man anderen dann nicht helfen? Ich finde, dass man die Entscheidung treffen sollte, ob man seine Organe spenden möchte oder nicht. Leute sterben nicht nur mit 90. Sterben kann man jederzeit.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Alisa führte Mareike Müller.
Sendung: rbb24 Abendschau, 01.06.2024, 19:30 Uhr