Interne Behördendokumente - BND wusste schon vor Anschlag, wie gefährlich Amri war
Hatte der BND im Fall Amri seine Finger doch im Spiel? Dokumente legen nahe, dass der Auslandsnachrichtendienst schon vor dem Anschlag über den späteren Attentäter Bescheid wusste. Und offenbar nichts unternahm. Von Jo Goll und Susanne Opalka
Schon kurz nach dem Terrorangriff auf dem Berliner Breitscheidplatz entfachte eine heftige Diskussion über die Rolle der Nachrichtendienste in der Causa "Amri". Hans-Georg Maaßen, der damalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), legte sich schon frühzeitig fest und sprach von einem "reinen Polizeifall". . . Tenor: Wir haben mit dem Weihnachtsmarkt-Anschlag nichts zu tun.
Eineinhalb Jahre später musste Maaßens Behörde unter anderem nach Recherchen des ARD-Magazins Kontraste und des rbb einräumen, dass diese These so nicht zu halten ist. Offenbar hatte das BfV mehrere Quellen im Umfeld des radikalen Islamisten platziert. Und nun rückt auch der Bundesnachrichtendienst (BND) ins Blickfeld.
Einsatz beginnt offenbar im Herbst 2016
rbb|24 Recherche konnte interne Behördendokumente einsehen, die belegen, dass der Bundesnachrichtendienst schon sechs Wochen vor dem Anschlag umfangreiche Erkenntnisse über Anis Amri und dessen Gefährlichkeit hatte. Und dies, obwohl der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maiziere am 18. Januar 2017 im Innenausschuss des Deutschen Bundestages für die Bundesregierung erklärt hatte, dass sich außer dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) keine weitere Bundesbehörde mit der Person Anis Amri beschäftigt habe.
Der Einsatz des BND im Fall Anis Amri beginnt offenbar im Herbst 2016. Der Tunesier ist zu diesem Zeitpunkt aus dem Visier des LKA Berlin verschwunden und kann so unbeobachtet seine Anschlagspläne verfolgen. Im September und Oktober aber meldet sich der marokkanische Geheimdienst mit vier alarmierenden Mitteilungen zu einem Tunesier namens Anis Amri beim Bundeskriminalamt und beim BND: Amri sei eng im IS eingebunden, plane ein Projekt und eines seiner Facebook-Profile habe dschihadistische Inhalte. Die neue Prepaid-Handynummer Amris liefert der befreundete Dienst auch gleich mit. Offenbar ist der marokkanische Geheimdienst sehr eng an dem Tunesier dran.
Radikale Facebook-Freunde werden ausgemacht
Am 2. November 2016 findet – nach längerer Unterbrechung - wieder eine Sitzung im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) der "AG Operativer Informationsaustausch" zu dem islamistischen Gefährder statt. Obwohl den teilnehmenden Sicherheitsbehörden weder der Facebook-Account Amris noch seine von den Marokkanern übermittelte Handynummer bekannt ist, stellt das hochrangig besetzte Gremium fest, "dass auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar ist." Im Ergebnis erhält das Bundesamt für Verfassungsschutz den Auftrag, beim marokkanischen Geheimdienst "die übermittelten Erkenntnisse auf deren Aktualität zu prüfen" und "das Ergebnis den Teilnehmern" der Runde mitzuteilen.
Sechs Tage später, am 8. November 2016, werden die Mitarbeiter des BND aktiv. Intensiv prüfen sie das ihnen bisher unbekannte Facebook-Profil des späteren Attentäters und kommen in englischer Sprache (!) zu dem Schluss: "In addition some of his FB are radicals" ("Zusammenfassend kommen wir zu dem Schluss, dass einige seiner Facebook-Freunde radikal sind"). Zudem stellen die BND-Ermittler fest, dass Amri auf Facebook immer wieder diverse Seiten von radikalen Islamisten geliked hat.
BND ortet Amris Handy
Eine neue, relevante Erkenntnislage zur Einschätzung des Gefährders Anis Amri, die dem grünen Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz, Mitglied im Amri-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, bis heute nicht bekannt ist. Von Notz ist der Überzeugung, "dass die Hinweise aus Marokko zeigen, dass Amri zu diesem Zeitpunkt entgegen der polizeilichen Einschätzung noch immer radikalisiert war und weiterhin hohes Interesse am Dschihad hatte".
In Verbindung mit den Hinweisen aus Marokko, so von Notz
weiter, "wäre es schon gut gewesen, wenn alle Sicherheitsbehörden davon
gewusst hätten." Über seine Facebook-Recherche informiert der BND Monate
nach dem Anschlag immerhin das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr).
Unter der Rubrik "Kenntnislage und Tätigwerden des BND" im Fall Amri
heißt es: "Die Sichtung des Online-Profils von Amri in einem Sozialen
Netzwerk erbrachte eine Bestätigung seines islamistischen Interesses."
Aus Amris Kontakten zu IS-Anhängern und seiner Lektüre dschihadistischer
Portale wird also "islamistisches Interesse". An wen der BND seine
Erkenntnisse zu Amris Gefährlichkeit im Herbst 2016 tatsächlich
weitergeleitet hat, will der Dienst auf rbb-Anfrage nicht sagen.
Zwei
Wochen später, am 21. November 2016, beginnen die BNDler Amri aktiv zu
suchen. Mit technischen Mitteln orten sie sein Handy mit der vom
marokkanischen Geheimdienst mitgeteilten Nummer: "Abteilung TA führte
zur deutschen Rufnummer von Amri eigenständig eine Steuerung (…) durch,
mit dem Ergebnis einer regionalen Zuordnung der Rufnummer am 21.11.2016
in Deutschland (Dreieck zwischen Rostock, Potsdam und Cottbus). Abt. TA
teilte das Ergebnis am 22.11.2016 per ZIB dem Fachbereich mit", heißt es
in einer internen Stellungnahme des BND vom 9. Februar 2017 an das
Kanzleramt. Klar ist nun: Amri ist nicht spurlos verschwunden, er hält
sich im Raum Berlin auf.
14 Alias-Identitäten werden aufgelistet
Es stellt sich aber die Frage: Warum will der BND das zu diesem Zeitpunkt unbedingt wissen? Hält der BND Amri doch für gefährlich? Diese Frage beschäftigt auch Konstantin von Notz, der nun erfahren möchte, "zu welchem Zeitpunkt, welche Sicherheitsbehörde, welcher Nachrichtendienst und gegebenenfalls auch welcher ausländische Nachrichtendienst von dieser unmittelbaren Gefährlichkeit von Anis Amri gewusst hat."
Das LKA Berlin jedenfalls stuft Amri im November 2016 als nicht besonders gefährlich ein. Die Berliner Ermittler sind sich sicher, dass Amri ins kleinkriminelle Drogenmilieu abgerutscht ist und sich nicht mehr besonders für die radikale Islamistenszene interessiert. In der Rückschau eine fatale Fehleinschätzung. Denn die Ermittler aus Nordrhein-Westfalen haben zu dieser Zeit andere Erkenntnisse, schätzen Amri nach wie vor als unberechenbar, brandgefährlich und jederzeit anschlagsbereit ein, wie der hochrangige LKA-Ermittler M. aus Düsseldorf zuletzt vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss ausführte.
Eine weitere Woche später, am 28. November, prüfen BND-Mitarbeiter Amris Daten im Ausländerzentralregister (AZR). Unter den drei AZR-Nummern 151116020933/ 151008067435/150807008660 ziehen sie Fakten zur Personalie Anis Amri zusammen: Damit sind jetzt seine sämtlichen Alias-Identitäten aufgelistet, 14 an der Zahl. Vier Wochen vor dem Anschlag werden sie aber offensichtlich nicht an die mit seiner Abschiebung befassten Behörden weitergesandt. Das Datum seiner Einreise und seine Stationen in Karlsruhe, NRW und Berlin – alles bleibt "Operative Verschlusssache", amtlich geheim gehalten - "!!!keine Weitergabe an Dritte -!!!" "eigenerstelltes Basismaterial". Sätze der strikten Geheimhaltung wie diese sind einem vom rbb eingesehenen Dokument zu entnehmen.
Ausländischer Dienst spielt BND Video zu
Kurzum: der BND weiß am Ende November 2016 so ziemlich alles, was über Anis Amri bis dahin bekannt war: den Status seines Asylverfahrens, wo er überall Station machte, zu welchen radikalen Islamisten er Kontakt pflegt. Und der BND weiß aus den Sitzungen des GTAZ, in welche Straftaten Amri verwickelt war. Vom Fahrraddiebstahl bis zu körperlichen Auseinandersetzungen mit Drogendealern war alles dabei. Doch welchen Hintergrund hatte diese fleißige Ermittlungsarbeit des BND zu diesem Zeitpunkt?
Zuletzt hatten WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung von einem bis dahin unbekannten Video berichtet, in dem Amri damit droht, Ungläubigen den Kopf abzuschneiden. Offenbar hat Amri dabei die Pistole in der Hand, mit der er später den polnischen LKW-Fahrer erschießt. Das Video soll dem BND von einem ausländischen Dienst zugeleitet worden sein. Von wem genau, will die Behörde bis heute nicht sagen, da keine Vermerke über den Eingang in den Akten vorhanden sein sollen. Nur eines ist klar: das Aufnahmedatum des Videos ist ebenfalls der 28.11.2016. Ein Zufall? Wird der BND genau an jenem Tag hochaktiv, als klar wird: Der abgelehnte Asylbewerber Amri ist hochmobil, kriminell und gefährlich. In der Summe müssen die Ermittler des BND nun damit rechnen, dass Amri einen Anschlag plant. Warum aber wird Amri dann nicht von der Straße geholt?
"Gab es eine schützende Hand?"
Ebenfalls von Bedeutung könnte sein: Amri hatte zu diesem Zeitpunkt Kontakte nach Libyen - er chattet im Herbst 2016 regelmäßig mit IS-Kadern. Amri ist im November 2016 mit seinen Kontakten zum IS auch für ausländische Geheimdienste wertvoll - das ist unbestritten.
Und gibt es einen Zusammenhang zum Bombenangriff der Amerikaner auf ein IS-Terrorcamp in Libyen am 19. Januar 2017 – genau 4 Wochen nach dem Anschlag? Sollte Anis Amri nicht hinter Gitter, weil er ehrgeizige Geheimdienste ans Ziel führen sollte? Zu den Hintermännern des islamistischen Terrors auch auf europäischem Boden? Konstantin von Notz stellt sich nun die Frage: "Gab es eine schützende Hand? Oder hat sich Amri unter einer Käseglocke über ein Jahr lang in Deutschland bewegt, bis er dann schließlich, obwohl alle um seine Gefährlichkeit wussten, diesen Anschlag begehen konnte? Und deswegen ist die These der Involvierung eines ausländischen Nachrichtendienstes eine schlüssige Arbeitsthese, die aber noch nicht erwiesen ist."
Fragen, die den BND in Bedrängnis bringen könnten und klar machen: Die deutschen Dienste waren im Fall Anis Amri entgegen anderslautender Aussagen aktiv. Auf Anfrage von rbb|24 Recherche wollte sich der BND zu den Vorgängen nicht äußern. Auskünfte zu operativen Aspekten des Dienstes erteile man "grundsätzlich nur gegenüber der Bundesregierung und den zuständigen, geheim tagenden Gremien des Deutschen Bundestages."
Sendung: Inforadio, 05.12.2019, 06.20 Uhr