Analyse des Klima-Volksentscheids - Gescheitert, aber mit Ansage
Historisch gut finanziert und dynamisch präsentierte sich der Volksentscheid "Berlin 2030 Klimaneutral". Das Ergebnis war dann aber ernüchternde Berliner Abstimmungsnormalität: eine Niederlage. Wie konnte es dazu kommen? Von Sebastian Schöbel
Klimaschützer argumentieren oft evidenzbasiert, verweisen auf die Wissenschaft und die Unbestechlichkeit von Zahlen. Mit Blick auf das Klima sprechen die nach Ansicht der meisten Expert:innen eine deutliche Sprache: Der Planet heizt sich auf, die Menschheit muss dringend ihren CO2-Ausstoß reduzieren – je schneller, desto besser.
Eigentlich ist es sogar fast schon zu spät.
Am Ende fehlten mehr als 150.000 Stimmen
Die Zahlen des Berliner Volksentscheids vergangenen Sonntag sprechen allerdings auch eine deutliche Sprache. 165.308 Ja-Stimmen haben den Initiatoren, die Berlin bis 2030 klimaneutral machen wollten, gefehlt. Das sind mehr Stimmen als Großstädte wie Leverkusen oder Osnabrück Einwohner:innen haben. Die knappe Mehrheit bei der Abstimmung reicht nicht, denn das Quorum wurde klar verfehlt. Da helfen auch keine trotzigen Jetzt-erst-recht-Rufe der Initiative: Fakt ist, dass es in der Berliner Bevölkerung aktuell nicht genug Zustimmung für ambitionierte Klimaziele gibt – auch nicht, wenn eine gut finanzierte Klimabewegung dafür trommelt.
Für Berlin wird dieser Volksentscheid dennoch nicht folgenlos bleiben: Die Stadt zeigt sich einmal mehr tief gespalten, zwischen Stadtgrenze und Zentrum prallen Welten aufeinander, und die Politik steht vor einer Mammutaufgabe, die keinen Aufschub erlaubt und gleichzeitig gar nicht konfliktfrei gemeistert werden kann - unabhängig vom Abstimmungsergebnis.
Aktivisten beklagen Gegenkampagne
Die Gründe für das Scheitern des Volksentscheids legt sich nun natürlich jede Seite passend zurecht. Die Klimabewegung beklagt eine massive Gegenkampagne der "fossilen Lobby", wie Initiativen-Sprecher Jessamine Davis es ausdrückt. Von Teilen der Wirtschaft über Parteien bis zu einigen Medien, vor allem der konservativen Boulevard-Presse: In ihrer Niederlage sehen sich die Initiatoren umzingelt von Gegnern. "Es gibt Kräfte in dieser Stadt und diesem Land", raunte die bekannte Klimaaktivistin Luisa Neubauer auf der Abschlussparty der Volksentscheid-Initiative, "die geben alles, was sie haben, um noch einen Funken länger weiterzumachen, wie bisher".
Senat verhinderte Volksentscheid am Tag der Berlin-Wahl
Natürlich hat auch die schwierige Gesamtsituation ihren Anteil daran: Die Klimakrise ist weit weg, wenn im Hier und Jetzt die Preise explodieren, die Heizung kalt bleibt oder das Eigenheim droht, zur Kostenfalle zu werden.
Dazu kommt die Erzählung der politischen Sabotage. Ausgerechnet der rot-grün-rote Senat hatte verhindert, dass die Abstimmung am gleichen Tag wie die Wahlwiederholung stattfand. Historisch ist das tatsächlich eine Hypothek für Volksentscheide: Acht gab es bislang in Berlin, drei davon fielen auf Wahlen und waren - auch Dank großer Beteiligung - erfolgreich. Vier Volksentscheide fanden abseits von Wahlen statt, und nur einer davon schaffte überhaupt das Quorum (2011 der zur Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner Wasserbetrieben).
Misserfolg jenseits der Wahltage
Dieses Mal lag die Abstimmungsbeteiligung mit 35 Prozent deutlich unter der Wahlbeteiligung bei der Wiederholungswahl und nicht einmal halb so hoch wie beim Volksentscheid über die Enteignung von Wohnungskonzernen, der parallel zur Berlin-Wahl 2021 stattfand. Dass die Grünen nun nachträglich der SPD-geführten Innenverwaltung vorwerfen, "den Weg versperrt" zu haben für einen zeitgleiche Abstimmung, mutet allerdings merkwürdig an: Sie selbst haben diese Entscheidung mitgetragen.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Dass sich Berlin nach der Pannenwahl 2021 keine Wiederholungswahl mit zeitgleichem Volksentscheid zutraute, wirft kein gutes Licht auf den Zustand der Wahlorganisation in der Bundeshauptstadt.
"Die Forderungen des Volksentscheids wären nicht umsetzbar gewesen"
Die Kritiker des Volksentscheids wiederum verweisen nun darauf, dass die Ziele der Aktivisten als zu ambitioniert abgelehnt worden seien. "Die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner sieht, dass die Forderungen des Volksentscheides nicht umsetzbar gewesen wären", analysiert die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey. "Auch nicht, wenn sie in ein Gesetz gegossen sind." Ihr potenzieller Koalitionspartner CDU pflichtet bei. "Dem Klima wäre mit unrealistischen Zielen oder unbezahlbaren Gesetzen nicht geholfen", so CDU-Generalsekretär Stefan Evers.
Hämischer drückt sich die AfD aus. "Die Berliner haben ihren Verstand nicht an der Garderobe abgegeben", so Landeschefin Kristin Brinker. Eine "radikale Minderheit" und "Haltungsjournalismus" hätten vorab falsch informiert und verschleiert, dass "Öko-Utopien teuer und freiheitsfeindlich" seien, so Brinker.
Klima-Abstimmung spiegelt Wahlwiederholung
Auch anerkannte Klimaforscher:innen hatten vor der Abstimmung bezweifelt, dass Berlin bis 2030 klimaneutral werden kann. Gleichzeitig bezweifelten sie keinen Moment, dass der Klimawandel real ist und der Kampf dagegen intensiviert werden muss – was unter den Berliner Parteien nur die AfD anders sieht.
Die teils aggressive Klima-Debatte, nicht zuletzt auch im letzten Wahlkampf, polarisierte äußerst erfolgreich, das zeigt der Blick auf die Karte: Innerhalb des S-Bahn-Rings stimmte die Mehrheit für den Volksentscheid, außerhalb des Rings die Mehrheit dagegen. Ein Spiegelbild der jüngsten Abgeordnetenhauswahl: In der Innenstadt bekommen die Grünen mit Forderungen nach autofreien Kiezen und mehr Radwegen die Mehrheit, drumherum dominiert die CDU, die als Anwalt der Autofahrer auftritt und die Autobahn A100 bis Lichtenberg verlängern will. Die Wahl des Verkehrsmittels ist in Berlin längst auch eine Frage der politischen Überzeugung geworden.
Menschen außerhalb des Rings brauchen Alternativen zum Auto
Der Volksentscheid hat nun gezeigt: Für mehr Tempo in der Klimapolitik ist ein Großteil der Berliner Bevölkerung aktuell nicht bereit. Die Politik beeinflussen wird die Abstimmung dennoch, und zwar langfristig. Dass CDU und SPD noch eilig vor dem Volksentscheid Milliardeninvestitionen für den Klimaschutz ankündigten und Tempo bei der Klimaneutralität versprachen, geschah auch in Reaktion auf den Volksentscheid. Die Frage, wo das ganze Geld investiert werden soll, hat das Abstimmungsergebnis ebenfalls gezeigt: Die Menschen, die außerhalb des S-Bahn-Rings leben, brauchen funktionierende Alternativen für das eigene Auto, sonst lehnen sie politische Maßnahmen zu Lasten des Pkw vehement ab.
Ist Klima-Aktivismus zu aggressiv?
Zugleich muss sich die Klimabewegung fragen, warum sie es nicht geschafft hat, genug Menschen zu überzeugen – gerade in Berlin, wo das Potential vorhanden sein sollte. Auch hier lohnt ein Blick auf die Zahlen: Mit 442.210 Ja-Stimmen hat der Volksentscheid das Zweitstimmenergebnis der Grünen bei der Wiederholungswahl klar übertroffen - das Anliegen ist also keine reine Klientelpolitik der Grünen.
Allerdings haben die Initiatoren überhaupt nur in einem einzigen Bezirk, Friedrichshain-Kreuzberg, mehr als 25 Prozent der Abstimmungsberechtigten überzeugt. Und dass fast 1,5 Millionen Menschen, die abstimmen durften, gar nicht erst teilgenommen haben, kann nicht allein mit dem Termin begründet werden. Die Kampagne hat letztlich nicht genug Menschen mobilisiert.
Dazu gehört einerseits die Erkenntnis, dass es nicht reicht, in der eigenen innerstädtischen Blase Applaus zu bekommen. Andererseits muss sich die Bewegung damit auseinandersetzen, wie stark die Ablehnung gegen radikale Protestformen wie Straßenblockaden geworden ist. In den von der "Letzen Generation" verursachten Staus standen vermutlich vor allem Menschen, die jenseits von Mitte, Kreuzberg oder Schöneberg leben – und mit ihrer Ablehnung den Volksentscheid scheitern ließen.
Ohne diese Menschen aber wird Berlin die Klimaneutralität auch bis 2045 nicht erreichen.
Sendung: rbb24, 27.03.2023, 13 Uhr