Berliner Jüdin über das Ende des Zweiten Weltkriegs - "Mutti, wir haben überlebt"

Di 02.05.23 | 14:17 Uhr | Von Oliver Noffke
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Das Berliner Nikolaiviertel im Frühsommer 1945, sämtliche Häuser sind zerstört, bei Stadtschloss und Dom sind nur noch die Skelette der Kuppeln übrig (Quelle: DPA/Berliner Verlag)
Bild: DPA/Berliner Verlag

Menschen, die unter Panzerwagen geraten. Diesem Anblick ist Ruth Winkelmann ausgesetzt, als die Rote Armee 1945 Berlin erreicht. Gleichzeitig ist es der Moment ihrer Befreiung. Als Kind lebte die Jüdin lange im Untergrund. Von Oliver Noffke

Eine frühere Version dieses Textes wurde am 2. Mai 2020 veröffentlicht. Es werden Situationen und Kriegshandlungen beschrieben, die verstörend wirken können. Ruth Winkelmann ist heute 94 Jahre alt. Sie besucht weiterhin Schulklassen und Hochschulseminare, um über ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs zu berichten.

"Die Stalinorgeln sausten die ganze Zeit. Das war furchtbar. Aber das hat sich immer weiter entfernt." Wann das Dauerpfeifen der sowjetischen Raketenwerfer endgültig verstummte, weiß Ruth Winkelmann nicht mehr ganz genau. Irgendwann am späten Nachmittag des 2. Mai war plötzlich Ruhe. Kein Knallen aus Gewehren, kein Zischen aus den "Stalinorgeln", keine Einschläge, keine Schreie. Berlin hatte kapituliert. Die stolze Hauptstadt des Nazireichs, das Tausend Jahre halten sollte, war nach einer etwa zweiwöchigen Schlacht nichts weiter als eine rauchende Ruinenlandschaft. Ausgebombt, zusammengeschossen, besiegt.

Dass sie das Ende des Kriegs fast nicht erlebt hätte, ist der 91-Jährigen hingegen deutlich in Erinnerung geblieben. Fast wäre sie von einem Panzer überfahren worden. Der Hunger hatte sie zu früh aus einem Bunker in Wittenau getrieben. Schon Tage zuvor, am 21. April, war die Rote Armee dort angekommen. Anschließend war die Frontlinie weitergezogen, die Berliner Innenstadt wurde immer fester eingeschnürt.

Frau Winkelmann sitzt im Wohnzimmer ihres kleinen Reihenhauses in Waidmannslust. Ein Fenster, groß wie eine Ladenauslage, holt den Garten in das Zimmer. Tulpen umrahmen ein akkurat geschnittenes Fleckchen Rasen, Meisen hüpfen auf den Außenmöbeln. Drinnen schrillen die Eurythmics aus dem Radio. "Das ist sicher eh nicht Ihre Musik? Viel zu alt." Sie schaltet das Radio ab, um sich dem Schatz zu widmen, der bereits auf dem Tisch bereitliegt: eine schwarze Mappe, einem dünnen Fotoalbum gleich. Kopien von Bildern sind darin, Ausweise, Lebensmittelkarten. Erinnerungen an die beide Teile ihrer Familie.

Die Berlinerin Ruth Winkelmann in ihrem Wohnzimmer (Quelle: rbb/Oliver Noffke)
Bild: rbb/Oliver Noffke

Zwangsscheidungen, Deportationen, Ermordungen

Die protestantische Seite ihrer Mutter hat den Krieg größtenteils überlebt. Nur nicht "Vatis Familie". Der jüdische Zweig ihrer Wurzeln, der nahezu komplett ausgelöscht wurde.

Ein Foto der Familie Jacks liegt neben der Mappe. Zwei Dutzend Personen sind zu sehen. Ruth, das "Mischlingsmädchen ersten Grades", wie sie vom Naziregime herabgewürdigt wurde, sitzt auf dem Schoß ihres Großvaters. Ihr Zeigefinger klopft auf das Bild. "Davon sind 15 in Auschwitz geblieben." Nur ein Cousin hat das Todeslager überlebt. Sein Bruder war hingegen als Erster deportiert worden.

Egon Jacks wurde abgefangen, als er in einem Laden einkaufen wollte - eine Viertelstunde bevor es im erlaubt war. Viele Geschäfte waren während des Krieges nur für eine Stunde am Nachmittag zugänglich. Der arische Teil der Bevölkerung blieb so den Rest des Tages ungestört. Egon betrat einen Lagen 15 Minuten zu früh. Das war sein Verbrechen. Im Herbst 1941 wurde er ins Ghetto von Riga verschleppt. Im Sommer des nächsten Jahres folgte die Deportation, drei Tage später starb der 18-Jährige im Gas und wurde schließlich verbrannt. "Diese Brennöfen wurden da ausprobiert und dann kamen die nach Auschwitz."

Sie ist dem Tod während des Kriegs mehrmals knapp entkommen. Da ist sie sich sicher. Vom Zufall oder weil sie als Mädchen schnell kapierte, dass manche Situationen schnell eskalieren konnten. Im Sommer '42 war es ihr Vater, der ihr Leben bewahren wollte.

Hermann Jacks hatte von einem Nachbar gehört, dass man Kinder aus sogenannten "Mischehen" für "arisch" erklären lassen konnte. Die Eltern müssten nur bei der zuständigen Behörde erklären, dass sie in Trennung lebten. Eine Scheidung würde ewig dauern, so der Nachbar. In der Zwischenzeit würde sich das mit den Kindern geklärt haben. Ruth war 1928 geboren, die kleine Schwester Esther 1937. Nach der Anfrage beim Amt erhalten die Eltern schnell einen Brief. Ohne Anhörung wurde die Ehe zwangsgeschieden. Die Kinder blieben jedoch "Mischlinge ersten Grades". Der Nachbar hatte gelogen.

Mutter Elly musste mit den Kindern ausziehen, in der Pappelallee in Prenzlauer Berg fanden sie eine kleine Wohnung. Der Vater war als alleinstehender Jude ab diesem Zeitpunk Freiwild.

Flucht nach Wittenau

Die Gestapo (Geheime Staatspolizei) versuchte immer wieder, die Kinder abzuholen. Elly Jacks musste mit ihren Töchtern untertauchen. Ab 1943 lebten sie hauptsächlich in Wittenau. Ein Bekannter hatte ihnen dort seine Laube zur Verfügung gestellt. Nicht mehr als ein Bretterverschlag sei das gewesen, erinnert sich Frau Winkelmann. "Sowas von primitiv. Wenn draußen 10 Grad minus waren, waren drinnen 10 Grad minus." Elektrik gab es keine, Wasser musste im Garten aus einem Brunnen gepumpt werden.

In die Schule durfte die kleine Ruth zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Die 14-Jährige musste zwangsarbeiten. Sie musste ungewaschene Soldatenuniformen flicken, von denen sie Hautkrankheiten bekam. Auf dem Weg von Wittenau zur Näherei in Friedrichshain habe sie sich jeden Morgen auf dem Bahnhof Alexanderplatz in eine Toilette verdrückt, sagt sie. Dort zog sie eine Weste über, auf die der gelbe Stern aufgenäht worden war. Nach der Arbeit schlich das Mädchen sich wieder auf die Bahnhofstoilette. So kam das Judenmädchen, das den ganzen Tag lang Lumpen von der Front ausbessern musste bis sie von der Krätze angefallen wurde, als Christin in der Laube an.

Dort wusste niemand Genaueres über die Jacks. "Für die anderen Laubenbewohner waren wir ja Ausgebombte aus Berlin", sagt sie. "Da wurden keine Fragen gestellt." Wenn es zu kalt wurde, trauten die drei sich in die Pappelallee, um nicht in dem Verschlag zu erfrieren. Wenn Bomben fielen, rannten sie zu einem nahegelegenen Bunker. "Wir hatten bis zu viermal täglich Fliegeralarm." Immer saßen sie auf denselben Plätzen. So auch am Morgen des 21. April 1945.

Ruth Winkelmann blättert in einem Album, in dem sie Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg gesammelt hat (Quelle: rbb/Oliver Noffke)
Bild: rbb/Oliver Noffke

"Die Russen sind schon da!"

Die ganze Nacht habe es Dauerbeschuss gegeben. In einer Feuerpause beschloss Ruth, etwas gegen den Hunger zu unternehmen. "Das Einzige, was wir hatten, waren rote Rüben. Die konnte man kochen und dann mit Haferkörnern anrühren. Die mussten erst durch die Kaffeemühle gejagt werden, damit wir ein bisschen Mehl hatten." Frau Winkelmann verzieht die Miene beim Gedanken daran. "Das war unser einziges Essen, was wir in den letzten vier Wochen hatten." Der Rübenbrei und das Essgeschirr lagen in der Laube. "Beeil dich", habe die Mutter zu ihrer damals 16 Jahre alten Tochter gesagt. "Nicht, dass die Russen kommen und wir sind getrennt."

Sie schaffte es, unbehelligt dorthin zu rennen. Auf dem Rückweg rollten bereits sowjetische Panzerwagen durch die Straßen. Kurz vor dem Bunker habe sie bereits sehen können, wie Menschen panisch mit den Arm wedelten; schnell reinkommen! Die Zeit wurde knapp. Vor ihr rannte eine Frau mit einem Jungen los. "Ich hab's noch gesehen, wie die da zu einem Soldaten in so ein Panzerloch reinjehumbst sind." Sie sieht, wie ein schweres Fahrzeug auf die Grube zurollt. Die drei darin zogen die Köpfe ein. Dann beginnt sich der Panzerwagen über dem Unterschlupf im Kreis zu drehen. Er zermalmt alles.

Ruth fällt kurz darauf selbst in ein Erdloch. Ein Wehrmachtssoldat hatte das Mädchen hineingerissen und brüllte sie nun an, in Deckung zu gehen. Hinter den Stahlpanzerungen hörten die Sowjets die Schreie offenbar nicht. Als der Panzerwagen weggefahren ist, sputet Ruth zum Bunker. Vorbei an den blutigen Leichen der drei Überfahrenen. "Du Mutti, die Russen sind schon da", sei sie ihrer Mutter direkt in die Arme gefallen. "Und ich sage zu ihr: 'Mutti wir haben überlebt. Wir haben's geschafft, wir sind frei.'"

Offiziersskat zu dritt

"Wir sind doch jetzt nicht frei? Wir sind doch jetzt besetzt", raunten ihnen die Verwunderten im Bunker entgegen. "Die wussten ja nicht, dass ich Halbjüdin bin. Ich habe ja keinen Stern drangehabt", erinnert sich Frau Winkelmann. "Die wussten nicht, was sie damit anfangen sollten. 'Wir sind doch nicht frei', sagten die immer wieder." Ihre Fäuste klopfen auf die schwarze Mappe. "'Aber wir sind frei. Wir sind Verfolgte des Naziregimes gewesen', sagte ich. 'Na das wussten wir ja alle gar nicht.' Obwohl wir zwei Jahre fast jede Nacht mit denen zusammengesessen haben."

Gegenüber der Laubenkolonie, in der sich die Jacks versteckt hielten, befand sich damals ein Arbeitslager. Vor allem Osteuropäer und Italiener schufteten dort unter Zwang. Ruth bittet eine polnische Gefangene auf einen Zettel auf russisch zu schreiben, dass sich Juden in der Laube versteckt hielten. Sie riss ihren Judenstern von der Weste und hängte ihn mit dem Papier an die Tür. Als zwei russische Soldaten vorbeiliefen und lasen, was da stand, hätten diese beim Anblick der Bretterhütte fassungslos mit den Köpfen geschüttelt und seien weitergezogen.

Auch zwei Nachbarn entging der Stern nicht; ein kinderloses, älteres Ehepaar, das ihnen aus einem kleinen Häuschen zuwinkt. "Da rief der Mann: 'Frau Jacks, Sie kommen zu uns. Wir teilen uns das Schlafzimmer hier. Ich möchte, dass Sie heile bleiben.'" Der Frau war es gelungen, Lebensmittel zu horten. "Die hatte Mehl gehabt und alles. Wir haben da nicht mehr gehungert von dem Moment an." Mit dem Einzug der roten Armee stellen Amerikaner und Briten die Bombardierung ein.

Zwei oder drei Nächte später klopften drei Soldaten von der Roten Armee an die Tür des kleinen Hauses. "Einer konnte Deutsch, das war ein Offizier mit hervorragenden Manieren." Sie wollten sich von den Kämpfen in der Stadt erholen. "Die wollten sich waschen und schlafen." Während zwei der Soldaten in Schichten schliefen, spielte der dritte mit dem Mann und Ruths Mutter Skat in der Küche. So ging das ein paar Tage. "Die waren immer sechs Stunden da." Ruth schlief währenddessen unter der Küchenbank. Mit jedem Tag entfernte sich der Krawall der Schlachten etwas. Irgendwann war Stille.

Bereits kurz nach Mitternacht am 2. Mai hatte eine russische Division einen Funkspruch erhalten, mit dem ein deutsches Panzerkorps um die Einstellung des Feuers bat. 13 Uhr kapitulierte, was von der Wehrmacht übrig war. Gegen 17 Uhr sollen die letzten Scharmützel eingestellt worden sein. Der Führer war da längst tot. Am 30. April hatte er sich in seinem Bunker erschossen. Eva Braun, am Tag davor noch seine Braut, schluckte Zyankali.

Hitler ließ die Bevölkerung mit der ausgebombten Stadt allein zurück. Den Untergang hatte er am Ende noch selbst befeuert. Am 22. April hatte er die Waffen-SS durch die Straßen Berlins gehetzt, um Zivilisten und Soldaten erschießen zu lassen, die im Verdacht standen, den Kriegserfolg der Nazis zu gefährden. Unzählige waren auf diese Weise ermordet worden, geht aus Dokumenten des Deutschen Historischen Museums hervor. Nach dem Fall der Reichshauptstadt dauerte es noch einige Tage, bis die Wehrmacht endgültig kapitulierte. Am 8. Mai endete der Krieg.

Das letzte gemeinsame Bild

Ein weiteres Bild in der schwarzen Mappe. Fünf adrett gekleidete Personen stehen eng beieinander vor einem Gartenzaun. Hermann Jacks, der Vater von Ruth Winkelmann, ist in der Mitte zu sehen. Über dem weißen Hemd trägt er eine schicke Weste. An seiner linken Seite steht Mutter Elly in einem hellen Kleid mit breitem Kragen. Auf Ruths Schulter ruht die Hand einer Tante. Auch sie tragen Sommerkleider. Daneben steht Esther, die kleine Schwester. Gerade fünf Jahre alt. Esther grinst breit, genau wie Hermann. Das Lächeln von Elly wirkt etwas gezwungen. Ruths ebenso. Sie hält ihre Arme vor dem Bauch verschränkt. "Das ist das letzte gemeinsame Bild von uns."

Das Bild entstand im Sommer '42. Kurz darauf wurde Hermann Jacks von den Nazis in ein Arbeitslager entführt. Er stirbt später in Auschwitz. Esther überlebt die Strapazen im Versteck nicht. Im Winter vor dem Kriegsende ist sie plötzlich schwer krank geworden. Am 8. März wird das Kind beerdigt, kurz nach seinem achten Geburtstag.

Ruth Winkelmann legt die Mappe zur Seite und holt ein kleines blaues Büchlein hervor. Vor einigen Jahren hat das Heimatmuseum Reinickendorf ihre Erfahrungen aufschreiben lassen und verlegt. Mit einer Journalistin hat sie dafür ausführlich über ihre Kindheit gesprochen. Erlebnisse eines jüdischen Mädchens im Berlin der dreißiger Jahre. "Mittlerweile habe ich bestimmt hundertmal daraus vorgelesen." Bei Gemeindeabenden und vor allem in Schulen hat sie immer wieder erzählt. Vom Krieg, vom Untergrund.

Dennoch wollte sie auch nach dem Krieg nicht wegziehen. "Für mich gibt es eigentlich gar keine andere Stadt als Berlin", sagt sie. "Und auch Brandenburg. Ich liebe Brandenburg, diese schönen Wälder, diese herrlichen Seen." Sie hofft, dass es nicht zu lange dauern wird, bis sie wieder eine Schulklasse besuchen kann.

Das letzte Bild auf dem Ruth Winkelmann mit ihren Eltern und ihrer Schwester beisammen steht (Quelle: rbb/Oliver Noffke)

Sendung: rbb24 Inforadio, 02.05.2023, 15.30 Uhr

Beitrag von Oliver Noffke

3 Kommentare

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  1. 3.

    Eindeutig ja. Und diese "U-Boote" waren kein Einzelfall. Auch der bekannte Entertainer Hans Rosenthal überlebte dank mutiger Berliner, die damit ihr eigenes Leben riskierten.

    Leider werden die untergetauchten Menschen jüdischen Glaubens und deren Helfer immer noch zu wenig gewürdigt. Unvergessen auch Ruth Andreas-Friedrich und andere weniger bekannte Widerstandskämpfer, siehe link.

    Jetzt wo wieder Rechtsextremisten und Faschisten in deutschen Parlamenten sitzen wichtiger denn je!

  2. 2.

    Solche Zeitzeugenberichte sind so wertvoll. Danke. Es werden immer weniger, die davon erzählen können.

  3. 1.

    Eine wirklich beeindruckende Frau.

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