Interview | Leiter des Berliner Einwanderungsamtes - "Die Einwanderungsbehörden sind dysfunktional"
Die Ministerpräsidenten beraten ab Donnerstag darüber, wie die Zahl von Asylanträgen noch bewältigt werden kann. Engelhard Mazanke, Leiter im Berliner Einwanderungsamt, sieht die Grenzen des Machbaren schon jetzt erreicht und fordert ein klares Signal.
Im Berliner Landesamt für Einwanderung arbeiten derzeit 670 Personen. Zwölf Prozent aller aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten in Deutschland werden dort bearbeitet. Damit ist das Landesamt die größte Einwanderungsbehörde bundesweit.
Engelhard Mazanke leitet seit 2011 die Berliner Ausländerbehörde, 2020 wurde diese in Landesamt für Einwanderung umbenannt. Mazanke ist in Hannover geboren und hat Rechtswissenschaften studiert. In der Zeit von 1994 bis 2004 war er als Referent bei der Berliner Senatsverwaltung für Inneres zuständig.
rbb|24: Mitte des Jahres haben Sie in einem Interview gesagt, dass Ihre und auch andere deutsche Einwanderungsbehörden an der "Grenze zur Dysfunktionalität" angekommen seien. Hat sich seitdem etwas getan?
Engelhard Mazanke: Es ist in der Tat so, dass sich einiges getan hat. Nur leider ist die Belastung nicht weniger geworden, sondern gestiegen.
Wir sind jetzt mit einer Prognose bei circa 350.000 Asylsuchenden für Deutschland in diesem Jahr. Das ist fast ein Drittel aller Asylanträge in der gesamten Europäischen Union. Weiterhin fliehen Menschen aus der Ukraine und wir sehen auch, dass sich das Problem der Fachkräfteeinwanderung - wobei ich das eigentlich nicht als Problem sehe, sondern als Riesenbedarf, den Berlin und die Bundesrepublik haben - weiterhin entwickelt. Es bräuchte bundesweit eigentlich sogar mehr als 400.000 Fachkräfte pro Jahr und trotzdem führt uns diese Zahl schon an unsere Grenzen.
Wenn ich im Sommer gesagt habe, die Einwanderungsbehörden stehen bundesweit an der Grenze zur Dysfunktionalität, müsste ich jetzt eigentlich sagen: Sie sind dysfunktional!
Was genau meinen Sie damit?
Im Paragrafen 75 der Verwaltungsgerichtsordnung wird die sogenannte Untätigkeitsklage geregelt. Wenn eine Behörde einen Antrag vor sich zu liegen hat, der vollständig und entscheidungsreif ist, dann muss sie innerhalb von drei Monaten darüber entscheiden. Wir sind jetzt in einzelnen Referaten hier bei uns im Haus bei sechs Monaten Wartezeit auf den nächsten freien Termin. Das nenne ich Dysfunktionalität.
Wie geht es Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wenn Sie jetzt sagen, die Grenze ist eigentlich überschritten?
Da ist die Entwicklung aus meiner Sicht ganz positiv. Die Haushaltsberatungen im Land Berlin gehen jetzt auf die Zielgerade und ich bin sehr optimistisch, dass wir mehr Stellen bekommen werden. Wir müssen dann natürlich für die Stellen auch die Menschen finden.
Was die Stimmungslage hier in der Behörde angeht: Wir haben hier ein großes Wir-Gefühl. Wir sehen, dass wir uns wechselseitig stärken, aber auf Dauer macht diese Belastungssituation krank. Wenn Sie jeden Tag an ihr Limit gehen, weil Sie den Menschen helfen wollen und am nächsten Tag immer ein Mehr an Belastung sehen, obwohl sie schon an Ihrer Grenze sind, dann ist das eine Form, die irgendwann zu einem absoluten Überforderungsgefühl führt. Deshalb brauchen wir jetzt ein Signal und dann auch mittelfristig eine deutlich spürbare Entlastung.
An welchen Stellen erleben Sie in Ihrer Behörde ganz praktisch Dysfunktionalität, die die Prozesse verlangsamt?
Ein Beispiel ist die sogenannte Wohnsitzauflage. Wir haben über eine Million aus der Ukraine geflüchtete Menschen in Deutschland, 56.000 von ihnen leben in Berlin. Sie bekommen grundsätzlich die Auflage, in dem Bundesland zu wohnen, dem sie zugewiesen sind, solange sie nicht wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen. Jetzt haben wir einen Wohnungsmangel. Menschen bemühen sich um Integration, Kita- und Schulplätze für ihre Kinder und wollen dann möglicherweise umziehen - auch über die Stadtgrenze hinaus. Das wird ein Riesenproblem für Berlin und Brandenburg. Wir müssen in jedem Einzelfall in einem unglaublich aufwendigen Verfahren in beiden Ausländerbehörden die Aufnehmenden und Abgehenden prüfen und uns abstimmen. Das bindet hier zwei Mitarbeiter, die nichts anderes machen als so etwas zu prüfen.
Was wären Ihre konkreten Vorschläge, um die Situation zu verbessern?
Wir brauchen so etwas wie einen Dreiklang. Zum einen brauchen wir mehr Personal, weil die Zahl [der beschiedenen Asylanträge, Anm. d. Redaktion] seit 2019 um 77 Prozent gestiegen ist. Das haben wir hier geleistet, ohne dass wir entsprechend mehr Personal dazubekommen hätten. Wir werden verstärkt durch Nachwuchskräfte. Aber da brauchen wir mehr!
Zweitens, und da setze ich wirklich ganz auf die Ministerpräsidentenkonferenz und den Bundesgesetzgeber: Wir brauchen jetzt schnell eine deutliche Verschlankung der bürokratischen Prozesse. Einiges ist auch schon umgesetzt worden. Neu einreisende Fachkräfte bekommen beispielsweise inzwischen fast alle für ein Jahr ein Visum. Früher musste alle drei Monate neu entschieden werden. Das ist zwar ein Riesenfortschritt. Aber da gibt es noch mehr. Im November tritt das Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung in Kraft, die sogenannte Blaue Karte. Und auch da gibt es unglaublich viele bürokratische Hürden. Da muss der Gesetzgeber jetzt wirklich handeln, um uns zu entlasten.
Und drittens: das Thema der Digitalisierung. Wir müssen dazu kommen, den Menschen einen schnellen Zugang zur Behörde zu ermöglichen, über den sie ihre Anträge vollständig online bearbeiten können. Da gibt es mit dem sogenannten Onlinezugangsgesetz im Bund Vorgaben im Sinne von Rechtsrahmen. Wir werden als Landesamt für Einwanderung in den nächsten anderthalb Jahren versuchen, dafür auch mehr Personal einzusetzen, um mehr digitale Anträge anzubieten.
Sie haben das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, die sogenannte Blaue Karte angesprochen. Das ist zunächst eine EU-Richtlinie, die dann in einzelnen Mitgliedsländern umgesetzt wird. Prüft Deutschland hier zu engmaschig?
Es gibt für den Bundesgesetzgeber Spielräume und teilweise sind die auch großzügig. Das größte Problem sind aber die vielen definierten Prüfungsschritte. Sie sind Akademikerin, sie haben eine Stelle, in der sie angemessen bezahlt werden, eine Wohnung und eine Krankenversicherung. Müssen Sie trotzdem in den ersten Monaten jedes Mal die Ausländerbehörde Erlaubnis bitten, wenn Sie den Arbeitgeber wechseln wollen? Das ist komplett überflüssig, und das brauchen wir auch in der Regelung nicht.
Ich frage mich dann immer, was daran so schlimm ist, wenn jemand als Akademiker beschließt, dass er dann doch am Ende ein Spezialitätenrestaurant aufmachen will. Wir prüfen 10.000 Blaue-Karten-Inhaber, um zu verhindern, dass drei Menschen ein Restaurant eröffnen oder Taxi fahren. Das halte ich für komplett übertrieben.
Ab Januar soll Ihre Behörde noch mehr Verantwortung bekommen und für alle Einbürgerungen in Berlin zuständig sein. Sind Sie dafür ausgestattet?
Die Behörde wird sich erweitern und wir werden eine komplett neue Abteilung bekommen in einem neu anzumietenden Dienstgebäude mit Mitarbeitenden, die teilweise aus den Bezirken kommen und die wir teilweise jetzt für diese Aufgabe neu einstellen. Nichtsdestotrotz werden wir viele Aufgaben haben, die zu der allgemeinen Belastungssituation dazukommen.
Ich denke, dass wir als Gesellschaft verstanden haben, dass wir hier ein gemeinsames Thema haben und auch eine gemeinsame Herausforderung. Einwanderung ist aus meiner Sicht in erster Linie eine Chance. Nur müssen wir uns darauf einlassen. Aber es wird, denke ich, noch mal ein stückweit anstrengender, bis es besser wird.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Birgit Raddatz
Sendung: rbb24 Inforadio, 12.10.2023, 09:45 Uhr