Angespannte Lage in Berlin - "Die Versorgungssituation für junge Geflüchtete hat das Limit überschritten"
Der Berliner Flüchtlingsrat warnt: Junge Geflüchtete müssen zu lange warten, bis sie eine Perspektive erhalten. Das bestätigen Akteure, die mit Betroffenen arbeiten. Ihr gemeinsames Fazit: Es fehlt in Berlin an allem, was junge Menschen brauchen. Von Frank Preiss
- Mehr als 2.000 unbegleitete Minderjährige kamen 2023 nach Berlin
- Es fehlen Unterkünfte, Schulplätze, Sozialarbeiter und Vormunde
- Junge Geflüchtete warten bis zu zehn Monate auf eine Perspektive
- Hilfsorganisation fordert Politik zum Nachsteuern auf
Sie kommen allein, haben meist lange und beschwerliche Reisen hinter sich und kämpfen oft mit traumatischen Erfahrungen: minderjährige Geflüchtete, die ohne Angehörige in Berlin ankommen.
Ihre Zahl ist in den zurückliegenden Monaten gestiegen. In der Erstaufnahmestelle in Berlin-Wilmersdorf werden täglich durchschnittlich 15 unbegleitete Minderjährige empfangen. Die meisten von ihnen kommen aus Syrien und Afghanistan, aus den Kurdengebieten, aus afrikanischen Staaten wie Benin - und natürlich auch aus der Ukraine.
Nach Angaben der Senatsjugendverwaltung sind in diesem Jahr bislang mehr als 2.200 junge Menschen ohne Erziehungsberechtigte in Berlin angekommen, die zwischen 15 und 17 Jahre alt sind. Im Jahr 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, waren mehr als 4.000 minderjährige Geflüchtete nach Berlin gekommen.
Lange Wartezeit in prekären Wohnverhältnissen
Für die, die jetzt kommen, fehlt es derzeit in Berlin an allem, beklagt Andrea Niemann. Sie ist Geschäftsführerin der Trägerin der Erstaufnahmestelle, der Stiftung für Soziale Dienste FSD. Es fehle an Geld, an Wohnraum, an Schulplätzen und ehrenamtlichen Helfern, erklärt sie auf rbb-Anfrage: "Berlin hat nach 2015/16 die Unterbringungsplätze abgebaut und Einrichtungen geschlossen, jetzt werden die Kapazitäten wieder hochgefahren. Allerdings ist es jetzt schwieriger als 2015/16, weil der Arbeitsmarkt sehr anders ist. Sozialpädagogen und Erzieher lassen sich kaum noch finden", beklagt Niemann. Das hat zur Folge: Heute könnten mit den vorhandenen Strukturen sinnvoll nur ein bis zwei Erstaufnahmen pro Tag bewältigt werden - statt eben der benötigten 15.
Berlin hat schon grundsätzlich zu wenige Schulplätze und auch psychologische Therapieplätze. Das fällt den jugendlichen Geflüchteten besonders stark auf die Füße. Meist sind die Minderjährigen in großen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Wenn sie Glück haben, landen sie in Zwei- oder Dreibettzimmern in Hostels. Und dort beginnt dann das bange Warten.
"Es hakt überall dort, wo sie andocken müssen, um hier anzukommen", erklärt Niemann. Meist warten sie acht bis zehn Monate, was "irre lang" sei. "Sie bleiben zu lang in diesem Schwebezustand, das ist das, was sie zermürbt: ihre verlorene Jugend", berichtet Niemann. Sie bräuchten das Gefühl endlich anzukommen nach langer Flucht, "sie brauchen eine adäquate Betreuung, einen Schulplatz, also Struktur".
Sechs Monate bis zum "Erstgespräch"
Das Verharren in der Warteschleife sei das Schlimmste für die Jugendlichen, bestätigt auch Janina Meyeringh, Leiterin des Kinder und Jugendbereichs bei Xenion, einem Träger, der psychologische und soziale Hilfe anbietet und Vormundschaften vermittelt.
Minderjährige Geflüchtete werden nach ihrer Ankunft zunächst in Obhut genommen. "Normalerweise sollte nach der Inobhutnahme innerhalb von einer Woche das sogenannte Erstgespräch bei der Senatsverwaltung erfolgen, in dem eine Altersfeststellung vorgenommen wird", berichtet Vanessa Höse, die Sprecherin von Xenion, aktuell würde das "bis zu einem halben Jahr oder länger" dauern. Erst dann kann das so genannte Clearing-Verfahren laufen, bei dem die individuellen Bedarfe, eine vormundschaftliche Vertretung, der Schulbesuch und viele weitere Rechte der Minderjährigen geklärt werden.
Xenion sorgt dafür, dass unbegleitete Minderjährige Vereinsvormundschaften oder ehrenamtliche Vormundschaften erhalten. Denn klar ist: Die überlasteten Jugendämter schaffen es nicht allein, Amtsvormunde zu vermitteln. Statt der gesetzlich vorgeschriebenen 50 Mündel (Menschen, die unter Vormundschaft stehen) pro Vormund müssten die teils 70 bis 80 Mündel vertreten.
"Kinderschutz muss gewährleistet sein"
Xenion leistet hier einen großen Beitrag: Im vergangenen Jahr konnte die Organisation 158 unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten oder jungen Volljährigen eine ehrenamtliche Vormundschaft oder Patenschaft vermitteln. Als Vormundschaftsverein hat Xenion darüber hinaus im vergangenen Jahr 174 unbegleitete Minderjährige vormundschaftlich vertreten - "das ist mehr als eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr", bilanziert Höse.
Der Bedarf übersteigt auch in diesem Bereich bei weitem das Angebot. Xenion sucht dringend Menschen, die sich eine ehrenamtliche Vormundschaft vorstellen können. Voraussetzung dafür sei nicht etwa fachliche Kompetenz, "aber eine Bereitschaft, sich mit Behörden und verschiedenen Institutionen oder Akteur:innen auseinanderzusetzen, die im Leben ihres Mündels eine Rolle spielen", erklärt Höse. Besonders wichtig seien ein hohes Maß an Selbstreflektion und Empathievermögen sowie Respekt. Potentielle Vormunde werden geschult und von Xenion eng begleitet.
Mit gewisser Sorge blicken derweil auch die Aktiven bei Xenion auf die kommenden Monate. "Die Versorgungssituation für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Berlin ist tatsächlich am Limit - oder besser gesagt hat dieses bereits überschritten", so Höse. Besonderen Handlungsbedarf sieht sie bei der Unterbringungssituation: "Sie muss langfristig ausgebaut, die Betreuung einheitlich verbessert werden, Wartezeiten für die Bereitstellung von Vormundschaften verkürzt und Kinderschutz für alle Kinder und Jugendlichen gewährleistet werden."
Sendung: rbb24 Inforadio, 25.09.2023, 19:30 Uhr