Aktuelle Zahlen - Antisemitische Vorfälle in Berlin erreichen Höchststand
Bedrohungen, Beschimpfungen, Davidstern-Markierungen an Wohnhäusern: Nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel schnellte die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Berlin nach oben. Laut der Recherchestelle Rias waren es es fast acht Fälle pro Tag.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (Rias) meldet einen Höchststand von antisemitischen Vorfällen in der Hauptstadt. Wie die Stelle am Dienstag in einem Bericht bekannt gab, verzeichnete sie zwischen dem 7. Oktober, dem Tag der Angriffe der radikalislamischen Hamas auf Israel, und dem 9. November insgesamt 282 judenfeindliche Taten. Das entspricht acht Fällen pro Tag.
Blicke man nur auf den Oktober, habe es seit Beginn der Dokumentationsarbeit im Jahr 2015 keinen Monat gegeben, in dem Rias Berlin so viele Vorfälle bekannt geworden seien, sagte eine Sprecherin. Im Vergleichszeitraum im Jahr 2022 waren es demnach durchschnittlich zwei bis drei Vorfälle pro Tag. Die Zahlen in dem aktuellen Bericht sind laut Rias nur vorläufig, es seien bereits "zahlreiche weitere Vorfälle gemeldet worden, die noch nicht verifiziert werden konnten", hieß es.
Beratungsstelle OFEK meldet fast so viele Gespräche wie in einem gesamten Jahreszeitraum
Einen ebenfalls drastischen Anstieg von Beratungsanfragen berichtet die Stelle OFEK Berlin, die Opfer antisemitischer Vorfälle berät. Alleine zwischen 7. Oktober und 9. November dieses Jahres habe es 160 Beratungsfälle gegeben. Zum Vergleich: Von Juli 2022 bis Juni 2023, also im Zeitraum eines gesamten Jahres, waren es laut OFEK 161 Fälle. "OFEK Berlin wird weiterhin nicht nur häufiger aufgesucht, sondern auch im Zusammenhang mit heftigeren Vorfällen als in früheren Jahren. Die Verdichtung der antisemitischen Bedrohung in den letzten Wochen wird das Sicherheitsempfinden der jüdischen und israelischen Berliner_innen langfristig beeinträchtigen", sagte die leitende OFEK-Beraterin Tabea Adler.
Bericht: Jüdischsein wird aus Angst vor Angriffen noch stärker versteckt
Genau das zeigt sich laut der Berichte bereits jetzt: Laut Rias gaben Jüdinnen und Juden an, jüdische Zeichen und Symbole noch mehr als zuvor zu verstecken, um nicht erkennbar zu sein. Sie trügen beispielsweise eine Mütze über der Kippa, sprächen nicht mehr Hebräisch auf der Straße oder versteckten Davidstern-Anhänger unter einem Schal. "Ich und meine Frau reden in der U- und S-Bahn generell nicht mehr Hebräisch, um uns nicht zu gefährden", sagte Elieser Zavadsky, Mitglied einer Gemeinde in Charlottenburg und gebürtiger Israeli, Mitte Oktober rbb|24 bei einem Gottesdienst in der Synagoge. Das Paar lebt seit Jahrzehnten in Berlin.
Die jüdische Gemeinde zu Berlin beispielsweise kürzt seit den Massakern der Hamas die Nachnamen von Mitgliedern in ihrer Gemeindezeitschrift ab, denen zum Geburtstag gratuliert wird. "Das Problem ist, dass die Zeitschrift auch im Internet abrufbar ist - und da wollten wir unsere Gemeindemitglieder schützen. Die Zeitschrift wird auch schon seit etwa zehn Jahren nur noch in neutralen Umschlägen verschickt", sagt Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der jüdischen Gemeinde, rbb|24. Ähnlich handhabt es die "Jüdische Allgemeine" inzwischen, auf Wunsch von Abonnenten.
Betroffene: fehlende Solidarität von Umstehenden bei antisemitischen Beleidigungen
Betroffene schilderten laut dem Rias-Bericht außerdem, dass sie sich bei antisemitischen Übergriffen im Alltag allein gelassen fühlten, ob in der U-Bahn, am Arbeitsplatz oder in der Kneipe. Umstehende Passanten oder Zeugen hätten nicht reagiert und ihnen nicht geholfen, während sie antisemitisch beschimpft worden seien. In mehreren Fällen schilderten Betroffene außerdem, sie seien direkt von Nachbarn angefeindet worden.
Die Beschimpfungen und Bedrohungen geschahen laut Bericht in allen möglichen Bereichen des Alltags, am Arbeitsplatz, in der Uni, in der Schule, in der U-Bahn und parallel dazu in sozialen Medien. Seit dem 7. Oktober zählte Rias in Berlin 14 Fälle, in denen Wohnhäuser mit Davidsternen markiert wurden, um jüdische Bewohnerinnen und Bewohner einzuschüchtern. "Das Problem wird sein, die Täter zu fassen - ähnlich wie bei Graffiti ist die Chance sehr gering, sie zu ermitteln und vor Gericht zu bringen. Und das ist angesichts des unfassbaren Umstands, dass die Haustüren von Jüdinnen und Juden mit einem Stern markiert werden, doch sehr frustrierend", sagt Sigmount Königsberg von der jüdischen Gemeinde.
Die meisten Vorfälle, nämlich 58, registrierte die Informationsstelle innerhalb der knapp fünf Wochen im Bezirk Mitte. Das ist mehr als halb so viel wie im gesamten Jahr 2022. Dazu kann auch beigetragen haben, dass hier mehrere Demonstrationen stattfanden, deren Teilnehmer israelfeindliche und antisemitische Parolen riefen, was die Polizei unter anderem am Alexanderplatz und am Potsdamer Platz dokumentiert hat. Auf Platz 2 folgt Neukölln mit 46 Vorfällen, danach Friedrichshain-Kreuzberg mit 34.
Ereignisse eröffnen "Gelegenheitsstruktur"
Die Berliner Polizei registrierte zwischen dem 7. Oktober und dem 21. November insgesamt 1.440 Straftaten mit Bezug auf den Nahostkonflikt. Mehr als 82 Prozent der Taten stufte die Polizei als antiisraelisch oder antisemitisch motiviert ein, sagte ein Sprecher rbb|24. Gut ein Viertel der Straftaten waren demnach gewalttätige Übergriffe.
Dass die Zahlen so viel höher sind als in Vergleichszeiträumen der Vorjahre, dürfte auch an der Ausnahmesituation in den Wochen nach den Hamas-Terrorangriffen liegen - auch wenn ein Abflauen der Vorfälle bisher nicht abzusehen ist. Zu diesem Schluss kommt auch der Rias-Bericht. Ob im Sommer 2014, im Dezember 2017 oder im Mai 2021: Immer wenn der israelisch-palästinensische Konflikt in den vergangenen Jahren eskalierte, stieg die Zahl antisemitischer und antiisraelischer Vorfälle auch in Berlin. Die Rias bezeichnet das als "Gelegenheitsstruktur": Ereignisse wie die Terrorangriffe vom 7. Oktober senken demnach die Hemmschwelle, sich antisemitisch zu äußern oder noch enthemmter auf Jüdinnen und Juden loszugehen. Gezielte Mobilisierungen durch Social-Media-Kampagnen oder Versammlungen wie mehrere pro-palästinensische und israelfeindliche Demos in Berlin könnten solche Entwicklungen verstärken, heißt es in dem Rias-Bericht. Je mehr sich Antisemiten in ihrem Handeln bestätigt und bestärkt sehen, desto alleingelassener und unsicherer fühlen sich jüdische Menschen in Berlin.
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.11.2023, 09:40 Uhr