Wichtiger Sieg gegen Stuttgart - Herthas Herz schlägt noch
Pal Dardai und Hertha BSC sind dem Abstieg vorerst von der Schippe gesprungen. Im direkten Duell mit Stuttgart zeigte die Mannschaft, dass noch Leben in ihr steckt. Eine Leistung die für die restlichen Spiele Mut machen sollte. Von Till Oppermann
Jessic Ngankam spielt seit 17 Jahren bei Hertha BSC, mit sechs Jahren hat er angefangen. Bis in die Profimannschaft hatte es der Stürmer geschafft. Am Samstag gegen Stuttgart wurde er endgültig zum Symbol für den "Berliner Weg" der Hertha. Dabei hatte es Ngankam nicht einmal in Pal Dardais Startelf geschafft. Nach seiner Einwechslung glänzte er weder mit einem starken Dribbling noch mit gutem Torabschluss. Dafür zeigte Ngankam, wie ein Profi spielt, der wirklich für seinen Verein brennt. Er warf sich in jeden Zweikampf, riss seine Arme in die Luft und feuerte die Fans an.
Schließlich blickte Ngankam ins Publikum und schlug sich voller Wucht auf die Hertha-Fahne über seinem Herzen. Sehr passend, denn so laut wie im Abstiegsduell mit dem VfB Stuttgart schlug das Hertha-Herz lange nicht mehr. Mit Kampf, Leidenschaft und großer Willenskraft siegte die Mannschaft mit 2:1 gegen den direkten Konkurrenten aus Süddeutschland. Abwehrchef Marc Oliver Kempf brachte es auf den Punkt: "Dass wir als Mannschaft noch leben, haben wir gezeigt."
Pal Dardai als Herzdruckmassage
Das musste sie auch. Zwar hatte Trainer Pal Dardai unter der Woche selbstbewusst das Ziel "vier Spiele, vier Siege" ausgerufen, aber ohne einen Erfolg gegen den Tabellennachbarn Stuttgart wäre seine Mannschaft wahrscheinlich selbst mit drei Dreiern aus den letzten drei Spielen mausetot gewesen. Denn vor dem Spiel lag Hertha abgehängt auf dem letzten Platz, mit sechs Punkten Rückstand auf Stuttgart.
In diesem Jahr sind die Hertha-Fans zahlreich wie selten zuvor zu Auswärtsspielen gefahren, zu Hause steuert der Verein auf den sechstbesten Zuschauerschnitt seiner Geschichte zu. Doch auf dem Spielfeld taumelte die Mannschaft in den vergangenen Wochen dem Abstieg entgegen. Während die Konkurrenz punktete, blieb Hertha acht Spiele in Serie sieglos. Die Leistungen waren derart blutleer, dass kurz vor Saisonende Trainer Sandro Schwarz entlassen wurde. Das Training seines Nachfolgers Pal Dardai scheint auf den scheintoten Kader wie eine Herzdruckmassage gewirkt zu haben.
Der Plan geht auf
Auch am Samstag pilgerten wieder über 60.000 ins Olympiastadion und sahen eine Mannschaft, die offensichtlich verstanden hatte, dass es gegen Stuttgart um alles ging. Entsprechend gestaltete sich das Spiel. Oft sah es so aus wie das Finale eines Turniers. Dardai hatte das Team zwar nominell mit seinem Sohn Marton als Sechser im 4-2-3-1-System ins Spiel geschickt, doch das Mittelfeld war ab der ersten Minute so gut wie aufgelöst. Hin und her flogen die hohen Bälle: Beide Teams versuchten, schnell und direkt in die Spitze zu spielen. Zwar kombinierte der VfB mit etwas mehr Struktur, aber Hertha kam im ersten Durchgang von Anfang an häufiger zum Abschluss.
Mit zwei Treffern nach Standardsituationen, die Dardai wohl in den ersten 15 Tagen seiner dritten Amtszeit besonders intensiv trainieren ließ, gingen die Berliner trotz eines unnötigen Gegentors mit Vorsprung in die Pause.
Daran hatte der Trainer großen Anteil: Durch das direkte Spiel in die Spitze verloren seine Herthaner im Zweifel erst tief in Stuttgarts Hälfte den Ball. So blieb genug Zeit, sich vor den Gegenangriffen der Schwaben ordentlich zu organisieren. Deren schwache Passquote von 68 Prozent erzeugte kaum Gefahr für das eigene Tor. "Es war alles unter Kontrolle, wir haben die Gegner dahin gelenkt, wo wir wollten", so Dardai.
Qual schlägt Qualität
Dardai sage der Mannschaft, sie solle Spaß haben zu verteidigen, berichtete Kempf nach dem Spiel. Wenn das der Maßstab ist, müssen die Spieler in der zweiten Halbzeit einen besonders lustigen Tag erlebt haben. Trotz des dünnen Vorsprungs stellte sich Hertha fast nur noch hinten rein. Als Marton Dardai in der 54. Minute einen Stuttgarter Angriff mit einem Befreiungsschlag beendete, nahm der VfB-Verteidiger Dan-Axel Zagadou seinen Ball völlig unbedrängt in Herthas Hälfte an. Die Stürmer Florian Niederlechner und Stevan Jovetic standen als offensivste Hertha-Spieler 30 Meter vor dem eigenen Tor.
Damit beherzigten sie zwar Dardais Grundprinzip, nie mehr als ebendiese 30 Meter Abstand zwischen dem hintersten und dem vordersten Feldspieler zu lassen. Allerdings bedeutete das auch, dass Stuttgart die Berliner mit ihrem Angriff schon bis zur Grundlinie zurückgedrängt hatte. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Spieler in diesen Momenten 60.000 ängstlich klopfende Herzen auf dem Spielfeld hören konnten.
Denn Stuttgart zeigte immer wieder in Ansätzen, wie viel individuelle Klasse in der Mannschaft steckt. So richtig gefährlich wurde es aber nur bei einem Distanzschuss von Enzo Millot. Den Grund kennt Kempf: "In dieser Phase kommt es nicht mehr auf fußballerische Qualität an, sondern darauf, wie man als Mannschaft fightet."
Hertha braucht weiter Siege
Für viele Spieler im oft gescholtenen Kader ist das vor den drei ausstehenden Spielen eine gute Nachricht. Andere wie Dodi Lukebakio, die mehr können, als nur zu verteidigen, muss Hertha aber besser in Szene setzen, wenn es noch für die Relegation oder gar den direkten Klassenerhalt reichen soll. Dardai fand: "Es tut weh, dass wir unsere Konter nicht ausspielen konnten. Da müssen wir besser werden." Bereits am kommenden Freitag wird seine Mannschaft dazu die Gelegenheit bekommen.
Im nächsten Endspiel um den Klassenerhalt geht es zum 1. FC Köln. Hertha BSC hat gegen Stuttgart das Wort "Abstiegskampf" erstmalig in dieser Saison mit Leben gefüllt. Doch folgen keine weiteren Siege, hat das Herz der Mannschaft am Samstag zum letzten Mal geschlagen. "Wenn wir ehrlich sind, wissen wir, was passiert wäre, wenn wir verlieren" , sagte Pal Dardai.
Sendung: rbb24, 07.05.2023, 18 Uhr