Fußball-Bundesliga - Hertha sucht den Tierflüsterer
Trotz viermaliger Führung geht Hertha BSC beim 1. FC Magdeburg mit 4:6 unter. Die Berliner scheinen ihren Torfluch zwar besiegt zu haben, doch das historische Spektakel deckt neue Probleme der "alten Dame" auf. Trainer Pal Dardai ist gefordert. Von Marc Schwitzky
Seit jeher bemüht Pal Dardai Vergleiche aus dem Tierreich, um Situation und Menschen im Fußball zu charakterisieren. So bezeichnete der Ungar einst Ex-Herthaner Dodi Lukebakio als "rotes Känguru", da er über ähnliches Tempo verfügen würde. "Ich wollte Tierarzt werden, ich kenne alle Tiere – ob Haus- oder Wildtiere. Ihr könnt mir Fragen stellen, ich werde sehr gute Antworten geben", outete sich Dardai im Februar 2021 als Tierexperte.
Würde man Herthas Trainer nach der 4:6-Niederlage beim 1. FC Magdeburg am Samstagmittag fragen, mit welchem Verhalten aus dem Tierreich die Leistung seiner Mannschaft zu vergleichen wäre, würde er möglicherweise mit "Fische" antworten. Fische nutzen Schwarmverhalten, um nicht gefressen zu werden. Dabei schwirren alle Fische wild umher, um den natürlichen Gegner zu verwirren und das Risiko, gefressen zu werden, zu minimieren.
Was bei den Fischen klappt, geht bei Hertha BSC am 5. Spieltag gewaltig schief. Die Berliner verwirrten sich mit ihrem wilden Agieren vielmehr selbst, leisteten sich unerklärliche Fehler, sodass der Fressfeind namens Magdeburg letztendlich doch leichtes Spiel haben sollte.
Erstmals dieselbe Startelf
Dass Hertha in Magdeburg so wirr auftritt, ist auch deshalb so skurril, da die Hauptstädter mit derselben Startelf wie der beim 5:0-Kantersieg über Fürth antreten. Erstmals in der laufenden Saison konnte Trainer Dardai in zwei aufeinanderfolgenden Partien auf dieselbe Anfangsformation setzen. Darüber hinaus hat das Sommer-Transferfenster am 1. September seine Pforten geschlossen und Hertha das Ende seiner Transferaktivitäten verkündet – somit steht nach Monaten der ständigen Unsicherheit für alle Beteiligten fest, wie der Berliner Kader für die Hinrunde aussehen wird.
Beide Faktoren hätten neben dem brustlösenden ersten Liga-Sieg am vergangenen Wochenende eigentlich darauf einzahlen müssen, die benötigte Sicherheit ins eigene Spiel zu bekommen. Und Hertha beginnt die Begegnung auch mit einem direkten Erfolgserlebnis: bereits in der 2. Spielminute gehen die Berliner in Führung. Hertha stört das Aufbauspiel der Magdeburger früh, gewinnt den Ball am gegnerischen Strafraum und Fabian Reese erzielt aus kurzer Distanz das 1:0. Wie schon gegen Fürth erzwingen die Blau-Weißen die Führung durch eine gelungene Pressingaktion.
Von Anfang an Probleme
Von nun an entwickelt sich ein Spiel, das vielmehr einen Jochen-Schweizer-Gutschein ähnelt. Fußball als Extremsportart. Pures Chaos. Allein in der ersten Halbzeit fallen fünf Tore – zu diesem Zeitpunkt noch mit Vorteil für Hertha, das mit einer 3:2-Führung in die Halbzeitpause gehen wird.
Der frühe Führungstreffer bringt keinerlei Sicherheit, nur fünf Minuten später fällt der Ausgleich, der Herthas Defensivprobleme für die gesamte Partie offenbart. Im Versuch, Magdeburg weiter früh zu stören, geht Hertha die Balance völlig verloren – in der Ordnung gegen den Ball stimmt nahezu nichts mehr. Vor allem das Mittelfeldzentrum, das von Dardai-Mannschaften normalerweise mehr verdichtet wird als Kranplätze, ist komplett offen. Herthas Defensivspieler haben große Probleme mit den permanenten Positionswechseln der Hausherren, lassen sich auseinanderreißen und die Kompaktheit damit implodieren.
"Defensiv haben wir aber nicht gemeinsam verteidigt, wir waren oft einer zu wenig und insgesamt hat die Stabilität gefehlt", kritisiert Torschütze Reese nach dem Spiel treffend. Hertha findet gegen die schnelle und taktisch clevere Magdeburg-Offensive über die gesamte Begegnung keinen Zugriff – man ist schlichtweg überfordert. Das Ergebnis: sowohl im Kollektiv als auch individuell reihen sich hanebüchene Fehler einander, die auf diesem Niveau eigentlich nichts verloren haben. "Diese Naivität, durch die wir die Tore kassiert haben, ist mir neu", so Dardai.
Ein neuer Glaube und Tabakovic halten Hertha lange in der Partie
So hätte die Begegnung allein aufgrund der Kräfteverhältnisse – Magdeburg wirkte in seiner Spielanlage deutlich reifer - schon viel früher in die Bahnen der Gastgeber verlaufen müssen, doch auch der FCM erwischt einen überaus unkonzentrierten Tag. Wie Hertha erlauben sich die Magdeburger dilettantische Defensivpatzer, um sich selbst das Leben schwerzumachen.
Nach jedem Ausgleichstreffer Magdeburgs kommt Hertha zurück. Das ist zum einen mit den Einladungen des Gegners zu erklären, zum anderen aber auch am neuen Glauben und Zusammenhalt der Mannschaft. Die Berliner reagieren auf Rückschläge deutlich anders als noch in vergangenen Tagen, fangen sich und können Antworten geben. Eine neue Widerstandsfähigkeit, die mit der deutlich besseren Teamchemie zu erklären ist.
Durch körperbetontes Spiel, viel Dynamik und großen Willen geht Hertha immer wieder in Führung. Dabei ist vor allem Herthas neue Lebensversicherung, Mittelstürmer Haris Tabakovic, die herausragende Figur. Der Schweizer ist wie schon gegen Fürth Dreh- und Angelpunkt des Berliner Angriffsspiels, in dem er zwei Tore erzielt, eins vorbereitet und unzählige Vorstöße durch Einsatz wie Spielverständnis einleitet. Der 29-Jährige ist der Hauptgrund dafür, dass Hertha bis zur 60. Minute noch Aussichten auf einen Punktgewinn hat.
Mit den Kräften am Ende
Vier Mal geht Hertha in Magdeburg in Führung – doch es soll dennoch nicht reichen. In der 58. Minute gleicht der FCM zum 4:4 aus, zehn Minuten später geht erstmals in Führung, was den Berlinern den Stecker zieht. Trotz zahlreicher Wechsel von Trainer Dardai kommt der Bundesliga-Absteiger nicht mehr zurück in die Partie, vielmehr fällt er noch stärker auseinander. Hertha wirkt mit den Kräften am Ende und kann Magdeburg nicht mehr herausfordern. Der Treffer zum 6:4 in der 93. Minute ist der verdiente Schlusspunkt.
So steht die vierte Niederlage im fünften Ligaspiel für Hertha BSC. "Unterm Strich hat die Mannschaft verloren, die mehr Fehler gemacht hat", fasst Tabakovic nach Schlusspfiff zusammen. In einem historisch anmutenden Spektakel, das eigentlich nur erlebt und nicht beschrieben werden kann, ist Hertha der verdiente Verlierer.
Erstmals in der langen Geschichte der 2. Bundesliga verliert das Team, das innerhalb einer Partie vier Mal geführt hat – die alte Dame kann es nur historisch.
"Es gab zwar einige gute Sachen, aber mehr Dinge, die wir besser machen müssen"
"Für uns ist es ein riesiger Lerneffekt", stellt Trainer Dardai nach der Partie fest. Der Ungar wird in der Länderspielpause die Aufgabe haben, diese völlig wilden über 100 Minuten Fußball in positive und negative Aspekte aufzugliedern.
Denn trotz der erneuten Pleite ist nicht alles schlecht. Allen voran ist festzuhalten, dass sich Herthas Knoten vor dem Tor gelöst hat – nach drei Partien ohne Tor haben die Berliner nun innerhalb von zwei Spielen gleich neunmal getroffen. Der Torfluch ist beendet und die Offensive aus Reese, Tabakovic, Marten Winkler und Palko Dardai findet sich immer besser. Auch das fortlaufende Aufbäumen gegen Magdeburg kann als Zeichen der verbesserten Resilienz einer sich findenden Mannschaft gewertet werden.
"Es gab zwar einige gute Sachen, aber mehr Dinge, die wir besser machen müssen", hält Reese fest. Defensiv präsentierte sich die Mannschaft so schwach wie kaum eine Dardai-Elf zuvor, sodass selbst die sechs Gegentreffer noch schmeichelhaft wirken. Hertha wird in den kommenden Wochen vor allem an der Balance aus Abwehr und Angriff arbeiten müssen, um konkurrenzfähig zu sein. Vor allem das Mittelfeldzentrum wirkt mit wie ohne Ball überfordert, sodass große Hoffnungen auf den Neuzugängen Andreas Bouchalakis und Bilal Hussein liegen. Hertha muss lernen, vor allem nach Führungen souveräner zu spielen. Es mangelt an Ruhe und Kontrolle.
Verbessert sich Hertha in jenen Kernkompetenzen nicht, wird es weitere Niederlagen wie gegen Magdeburg geben und Siege wie gegen Fürth die Ausnahme bleiben. Der Umstand, nun das Team beisammen zu haben, sollte der Entwicklung erheblich helfen, nimmt hingegen aber auch die Ausreden, sollte es nicht funktionieren.
Sendung: Atenne Brandenburg, 02.09.2023, 18:00 Uhr