Interview | Ehemaliger Landrat Rolf Lindemann - "Ich bin nicht als Konquistador angesehen worden"
Nach dem Mauerfall zog es viele Ostdeutsche gen Westen. Anders bei Rolf Lindemann: Er kam 1990 aus NRW nach Brandenburg, machte Karriere in der Kreispolitik und wurde Landrat von Oder-Spree. Die Zeit der Wende beschreibt er als "elektrisierend".
Der Jurist Rolf Lindemann kam im August 1990 aus Kamen (Nordrhein-Westfalen) nach Brandenburg, wo er Rechtsamtlseiter des damaligen Kreises Beeskow wurde. Dort erlebte Lindemann die Zeit der Wiedervereinigung und der Wende in der Brandenburger Kreispolitik.
Ab 1994 bekleidete der SPD-Politiker verschiedene politische Ämter im neu gegründeten Landkreis Oder-Spree und leitete jahrelang das dortige Jobcenter. Ende 2016 gewann Lindemann die Landratswahl und war bis Mai dieses Jahres Landrat von Oder-Spree. 33 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung zieht Lindemann eine positive Bilanz.
rbb|24: Herr Lindemann, Sie kamen im August 1990 nach Beeskow – bereits vor der deutschen Einheit. Wie hat es Sie aus Kamen in Nordrhein-Westfalen nach Beeskow verschlagen?
Rolf Lindemann: Die Wende fand nun mal zufälligerweise in dem Zeitfenster statt, in dem ich meine berufliche Orientierung versuchte: Ich hatte gerade mal mein zweites juristisches Staatsexamen abgelegt und war auf der Suche nach einer spannenden Aufgabe. Mich hat auch dieser Prozess, der in der DDR damals ablief, sehr elektrisiert. Ich bin auf der Rückfahrt eines Besuchs in Berlin in Beeskow vorbeigefahren - das war die neue Partnerstadt meiner Heimatstadt Kamen. Ich habe einfach mit dem Bürgermeister Kontakt aufgenommen und ihn gefragt, wie sich die Dinge da entwickeln und ob man nicht Unterstützung von juristischer Seite brauchen könnte.
Die Stadt konnte sich keinen juristischen Leiter leisten, aber im Landkreis fanden Sie eine passende Stelle. Wie schwer war es für Sie, als Westdeutscher in dieser doch sehr ländlich strukturierten Region Fuß zu fassen?
Das war für mich überhaupt nicht schwierig: Ich bin mit offenen Armen empfangen worden. Am Abend meines Vorstellungsgesprächs bei dem Landrat Jürgen Schröter hatte ich gleich Familienanschluss. Ich wurde zum Abendessen eingeladen und aus diesem Miteinander ist auch wirklich eine Freundschaft geworden, die bis zum heutigen Tage gehalten hat. Ich betrachte ihn als großes Vorbild: Fasziniert haben mich seine zupackende Art und seine Begeisterung für den ganzen Prozess, mit seinen politischen Weggefährten etwas ganz Neues aufzubauen.
Sie sind jetzt im Ruhestand, leben aber weiter in Beeskow. Zurück nach Kamen oder nach Nordrhein-Westfalen wollen Sie nicht, haben Sie schon mal gesagt. Wie ostdeutsch fühlen Sie sich?
Ich bin in meinem Leben die längste Zeit hier wohnhaft gewesen, ich habe hier meine Familie gegründet, meine Töchter sind Brandenburgerinnen. Insofern gibt es da kein Zurück nach 33 Jahren. Zudem fühle ich mich auf dem Lande wohl: Ich habe ja eine Ruhrgebiet-Sozialisierung und das passte natürlich auch zur Mentalität in der damaligen DDR, dieses Sich-Gegenseitig-Unterstützen.
Es gibt ja eine Diskussion gerade im Osten, die auch durch das Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" von Dirk Oschmann verstärkt wurde, in dem er die These aufmacht, dass der Westen den Osten kolonisiert habe. Wie nehmen Sie solche Diskussionen wahr?
Das hat ein bisschen den Anschein, als habe da eine Strategie dahintergesteckt. Das war doch alles nicht so: Als wir 1990 mit der Situation umgehen mussten, wusste doch keiner im Prinzip, was die richtige Lösung für diese oder jene Frage war. Wir haben uns doch alle voran geirrt! Insofern finde ich das völlig überzogen.
Es gibt sicherlich Charaktere, die andere kolonisieren oder bevormunden wollen. Die gibt es aber in jedem System. Dass eine flächendeckende Kolonisierung oder eine Erfindung des Ostens stattgefunden hätte, nein, war mit Sicherheit so nicht. Ich habe das jedenfalls nicht so empfunden, und mir ist das auch nicht so entgegengehalten worden. Ich bin nicht als Konquistador angesehen worden.
Der Osten musste sich in den vergangenen 33 Jahren radikal verändern. Merken Sie eine Angleichung der Mentalitäten oder eher einen Versuch oder ein Bedürfnis, sich zu spalten und nicht eins sein zu wollen?
Ich würde nicht sagen, dass eine Spaltung Ost-West im Gange ist. Es gibt sicherlich eine unterschiedliche Auffassung zu bestimmten Punkten. Das hängt mit der Sozialisierung zusammen. Man geht offensichtlich von ganz unterschiedlichen Demokratie-Begriffen aus. Im Westen haben wir eine bürgerliche, repräsentative Demokratie vor Augen gehabt. Das ist in der DDR anders gewesen. Da hatte man das Räte-Modell, also die unmittelbare Entscheidungsteilnahme.
Doch ich wollte als Politiker gar nicht zu jeder Frage gefragt werden, weil ich auch nicht jede Frage beantworten kann, ohne dass ich mich intensiv in sie hineinschaffe. Insofern bin ich mit diesem System durchaus glücklich. Ich glaube schon, dass die Rechte des Bürgers hier optimal geschützt sind. Und unser Grundgesetz ist ja wirklich eine Verfassung, die fantastisch ist.
Es ist sehr bezeichnend, dass am stärksten die AfD mit ostdeutschen Revolutionsslogans wirbt. Viele Ostdeutsche folgen jetzt wieder westdeutschen Männern: Gauland, Höcke, Kalbitz, aber auch Frau Weidel. Kriegen Sie das in Ihrem Kopf zusammen?
Das ist irgendwie ein bisschen verrückt. Ich meine, wir haben doch wirklich alle Möglichkeiten, uns in dieser Gesellschaft einzubringen. Nur: Wir müssen es tun. Und ich beklage ein wenig, dass unsere, ja demokratische Teilhabe ein bisschen konsumistisch organisiert ist. Da erwartet man ein Angebot, ähnlich wie in einem Laden, wo man sich dann das Entsprechende für sich herauspicken kann. Und da muss die Politik das liefern.
Und es ist doch eigentlich eher umgekehrt, entsprechend dem Kennedy'schen Satz "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage lieber, was du für dein Land tun kannst". Das scheinen diejenigen, die da die beklagte Auffassung haben, zu verkennen.
Wird es in zehn oder zwanzig Jahren diese Ost-West-Diskussion noch geben? Oder wird sie sich erübrigen?
Die Ost-West-Diskussion hat es auch vor 100 oder 150 Jahren schon gegeben. Der Begriff von der "kalten Heimat" machte vor vielen Jahren schon die Runde. Alles, was jenseits der Elbe lag, galt irgendwie als Terra Incognita. Selbst Adenauer soll ja immer, wenn er mit dem Zug nach Berlin die Elbbrücke überfahren hat, die Fenstervorhänge zugezogen haben, weil er den Anblick der "asiatischen Steppe" angeblich nicht ertragen konnte.
Also die Ost-West-Diskussion gab es schon immer. Es gibt ja auch Nord-Süd-Unterschiede. Es ist nicht unüblich, dass man da übereinander lästert und Mentalitäten anspricht. Das sollte man alles als kulturelle Fußnote sehen, aber nicht mehr.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lindemann!
Das Interview führte Andreas Oppermann.
Bei dem Text handelt es sich um eine redigierte und gekürzte Fassung.