Lieferdienst in Berlin - Warnstreik bei Lieferando: Strampeln bis zur nächsten Bonuszahlung
Lieferando-Kuriere protestieren in Berlin. Mit der Forderung nach einem Tarifvertrag wollen sie auch einem umstrittenen Bonussystem entgegenwirken. Wer extra verdienen will, muss derzeit nämlich eine bestimmte Voraussetzung erfüllen. Von Hasan Gökkaya
Sie fahren, wenn die Sonne scheint, und sie fahren auch, wenn es regnet: Lieferboten von Diensten wie Lieferando, Getir und Wolt tragen in Berlin und Brandenburg seit Jahren bei Wind und Wetter Essen und Einkäufe aus. In Deutschland fahren Tausende Essenzusteller täglich auf Fahrrädern, obwohl die Bezahlung sich nur am Mindestlohn entlanghangelt - und zum Teil leistungsabhängig ist.
Das führte am Donnerstag zu einem Warnstreik vor der Unternehmenszentrale von Lieferando in der Hauptstadt. Tatsächlich brodelt es schon seit Monaten im Hintergrund: Auf der einen Seite steht der Marktführer Lieferando, der betont, Jobs zu sichern. Auf der anderen eine Gewerkschaft, die die Kuriere vertritt und dem Unternehmen vorwirft, auf eine "Hinhalte-Taktik" zu setzen und Kosten zu Lasten der Kuriere drückt.
Gewerkschaft: "Die 14 Euro sind keineswegs sicher"
Konkret fordert die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) von Lieferando Verhandlungen, um einen Tarifvertrag zu besiegeln - bislang gibt es keinen, obwohl der Marktführer bundesweit mit 35.000 Restaurants kooperiert und Tausende Kuriere beschäftigt. Hinter dem Unternehmen steht der niederländische Konzern Just Eat Takeaway. Tarifverhandlungen seien bisher seitens des Unternehmens abgelehnt worden.
Auf Nachfrage von rbb|24 teilt eine Sprecherin von Lieferando mit, dass der aktuelle Stundenlohn bei durchschnittlich mehr als 14 Euro liege - das sei mehr als Beschäftigte in der normalen Gastronomie verdienten. NGG will aber einen Stundenlohn von mindestens 15 Euro als Basiszahlung und ein 13. Monatsgehalt durchsetzen. Außerdem sollen Zuschläge für Sonn- und Feiertagsschichten fließen.
Doch zurück zum Stundenlohn: 14 Euro pro Stunde? "Das ist mehr, als Servicekräfte der Gastronomie verdienen und vergleichbar viel wie Lieferfahrer der Systemgastronomie nach Tarif", so die Sprecherin. Mark Baumeister von der Gewerkschaft NGG kontert und spricht von "Fake News".
Konkret erhalten die Kuriere Baumeister zufolge den Mindestlohn von 12 Euro - erst durch "zeitlich befristete Zuschläge" wie etwa für spätes Arbeiten würden die Fahrer auf 14 Euro pro Stunde kommen. "Die Zuschläge kann der Arbeitgeber aber jederzeit widerrufen. Die 14 Euro sind also keineswegs sicher." Den Vergleich mit der Gastronomie hält er für falsch, weil es in der Gastronomie Urlaubs- und Weihnachtsgeld gebe, anders als bei Lieferdiensten.
Fahrer: Geld über Sicherheit gestellt
Der Warnstreik hat das Bezahlsystem des Unternehmens weiter in die Öffentlichkeit getragen. Laut NGG sieht es bei anderen Unternehmen, die Kuriere beschäftigen, allerdings nicht besser aus. Tatsächlich zahlt nach rbb|24-Informationen auch das Unternehmen Getir pro Stunde ähnlich viel. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Istanbul schluckte Ende 2022 das in Berlin rasant gewachsene Start-up Gorillas, seitdem gibt es "Gorillas" noch als Marke, aber nicht mehr als Unternehmen. Zuvor hatte es bei Gorillas erhebliche Kritik an den Arbeitsbedingungen gegeben.
Ein weiterer Kritikpunkt am Bezahlsystem solcher Unternehmen ist das Bonussystem. Bei Lieferando verdienen Fahrer ein Basisgehalt und oben drauf Bonuszahlungen. Einem Bericht von Report Mainz zufolge [ardmediathek.de] hängt die Bonuszahlung aber von der Anzahl der Fahrten und der Strecke der Lieferstrecke ab. Wozu das führe, formuliert in dem Bericht ein Fahrer so: "Ich habe manchmal das Geld über meine Sicherheit gestellt." Der Fahrer gibt an, ohne Bonuszahlungen monatlich 1.700 Euro brutto zu verdienen.
Denn ob "Bonus", "Trinkgeld" oder "variable Lohnkomponente", wie Lieferando es formuliert: Das Boni-System legt in dieser Branche nahe, dass Kuriere mehr Gehalt verdienen, wenn sie schlicht mehr Kunden abwickeln - und eben weniger, wenn zum Beispiel keine Bestellungen eingehen, obwohl die Arbeitsuhr weiterhin tickt.
Derzeit zahlt Lieferando nach eigenen Angaben ab der 26. Lieferung im Monat Boni, ab der 100. Lieferung gibt es einen "erhöhten Bonus". Für einen Lieferboten in Vollzeit ergebe das einen Zusatzverdienst von durchschnittlich 400 Euro monatlich.
Gibt es eine gesetzliche Grauzone?
In der Lieferdienst-Branche stehen solche Boni nicht nur in der Kritik, weil sie zu erheblichen Schwankungen im Einkommen führen können. Sondern auch, weil sie die Sicherheit der Fahrer gefährden sollen. Eigentlich regelt die Fahrpersonalverordnung Ruhezeiten und Pausen und betrifft vor allem Berufskraftfahrer, um die Sicherheit im Verkehr zu regeln. So ist beispielsweise der Akkordlohn für Lkw-Fahrer verboten, damit sichergestellt wird, dass sie sich nicht - um mehr Geld zu verdienen - übermüdet ans Steuer setzen oder zu schnell fahren.
Gewerkschafter halten diese Verordnung auch für die Mitarbeiter von Lieferdiensten anwendbar. Zum einen seien ohnehin Teile der Flotte mit Autos oder Rollern unterwegs, zum anderen würden Elektrofahrräder im Straßenverkehr eingesetzt werden, argumentiert Baumeister von NGG. Er sagt, dass Lieferando die Verordnung ignoriere und sich bewusst in einer Grauzone aufhalte.
Denn mit der Verordnung wäre das Bonus-System im Lieferdienst gar nicht erlaubt - und das halte er auch für richtig, so Baumeister. "Von der Gefährdung her ist es eine Analogie, ob jemand auf dem Fahrrad ohne Knautschzone durch die Stadt fährt oder in einem Lkw mit Airbag unterwegs ist."
Mit Lieferando scheint Baumeister einen zähen Gegenspieler zu haben. Wie weit das Unternehmen bereits verzweigt ist, zeigte sich am Donnerstag, als der Warnstreik lief: "Berliner Konsumenten können weiterhin mittels Lieferando bestellen", hieß es in einer Mitteilung von Lieferando. Denn Restaurants mit eigenen Fahrern seien gar nicht vom Streik betroffen.
Hinweis: In einer früheren Version stand im Text: Auf Nachfrage von rbb|24 teilt eine Sprecherin von Lieferando mit, dass der aktuelle Stundenlohn bei 14 Euro liege. Tatsächlich teilte die Sprecherin mit, dass der aktuelle Stundenlohn bei durchschnittlich mehr als 14 Euro liege. Der Fehler wurde korrigiert.
Sendung: Abendschau, 17.08.2023, 19:30 Uhr