Digitales Bezahlen - Der Trick mit dem Trinkgeld
Wie viel Trinkgeld ist angemessen? Beim Bezahlen ohne Bargeld macht neuerdings das Kartengerät Vorschläge dazu. Wer keins geben möchte, muss dann aktiv Nein sagen. Praktisch oder aufdringlich? Von K. Spremberg, H. Daehler und J. von Bülow
"Möchten Sie Trinkgeld geben?" Wer in der hippen Bäckerei in der Berliner Hermannstraße so direkt fragt, ist kein selbstbewusster Verkäufer, sondern ein Kartenlesegerät. Die Frage erscheint auf dem Touch-Display und die Kundin mit Kaffee und Croissant muss sich nun entscheiden: Möchte sie 10, 15, 20 oder sogar 25 Prozent Trinkgeld geben? Auch kein Trinkgeld ist eine Option - sie steht unten rechts auf dem Display. Erst nachdem sie, beobachtet vom Verkäufer, mit dem Finger eine Auswahl getroffen hat, wird die Kartenzahlung aktiviert.
Ungefähr die Hälfte der Kundschaft zahle Backwaren und Kaffee hier inzwischen ohne Bargeld, sagt der Geschäftsführer der Bäckerei. Ihm zufolge war es ein Wunsch der Kundinnen und Kunden, auch per Karte Trinkgeld geben zu können. Ganz selbstverständlich läuft das aber noch nicht. Ein Gast nach dem anderen tritt an die Kasse, wieder und wieder muss das Personal erklären: "Hier müssen Sie eine Entscheidung treffen."
Im Laufe der nächsten Jahre könnte das sehr viel selbstverständlicher werden. Immer mehr Anbieter von Kartenzahlungssystemen bieten das Konzept mit Auswahlmöglichkeiten zur Trinkgeldzahlung auch in Deutschland an. Ein profitables Geschäft: In der Regel verdienen sie einen festen Anteil an den Kartenumsätzen - also auch vom Trinkgeld. In den USA ist das System schon länger etabliert. Nun verändert sich auch die deutsche Trinkgeldkultur.
"Stimmt so!" reicht nicht mehr
Denn ohne Bargeld ist es mit einem schnellen "Stimmt so!" nicht mehr getan. Stattdessen also Trinkgeld per Touchscreen – die Kundin, die sich gerade ein Croissant geholt hat, sieht so einen Vorschlag zum ersten Mal. Zum Trinkgeld sagt sie: "Hier ist ja Selbstbedienung, da finde ich das eigentlich gar nicht nötig. Aber wenn man, wie hier, eine Entscheidung treffen muss - irgendwie MUSS man dann ja."
Wenn so ein Gefühl entsteht, dann liegt das am "Nudging". Der Ökonom Christian Traxler von der Berliner Hertie School erklärt den Begriff aus der Verhaltensökonomik als "das Anstupsen von Verhalten, um es in bestimmte Richtungen zu lenken - man könnte auch bösartig sagen: zu manipulieren." Nudge bedeutet Stups oder Schubs.
Dieses Anstupsen hat im Fall des Trinkgelds zwei Ebenen. Erstens macht es Kundinnen und Kunden darauf aufmerksam, dass sie überhaupt Trinkgeld geben könnten - auch zum Beispiel in einer Bäckerei mit Thekenverkauf, wo das weniger üblich ist als in Restaurants.
Höhere Vorschläge - mehr Trinkgeld?
Zweitens beeinflusst der "Nudge" die Frage nach dem "Wie viel?". Der Ökonom Christian Traxler sagt, hier werde implizit der Rahmen kommuniziert, in dem Trinkgeld erwartet wird - zum Beispiel durch Standardwerte von 10 bis 25 Prozent. Zwar bieten die Kartengeräte auch die Möglichkeit, einen abweichenden Betrag einzugeben. Diese Option nutze aber nur ein Bruchteil der Leute.
Die Höhe der Standardwerte, die mit nur einem Fingertipp ausgewählt werden können, wirkt sich Traxler zufolge doppelt aus: Programmiert der Anbieter eher hohe Werte ein, fallen auch die einzelnen Trinkgeldbeträge tendenziell höher aus. Gleichzeitig sinke aber die Zahl der Menschen, die überhaupt Trinkgeld geben. Zahlungsanbieter und Gastronomen suchen also den Kompromiss: Sie wollen Kundinnen und Kunden anstupsen, aber nicht verprellen.
"Menschen sind höchst manipulierbar"
Wenn es beim Bezahlen ums Trinkgeld geht und das Kopfrechnen beginnt, dann sei das eine Stresssituation. So formuliert das der Wirtschaftswissenschaftler Sascha Hoffmann von der Hochschule Fresenius, der dazu geforscht hat, wie sich die Trinkgeldhöhe beeinflussen lässt. Moderne Geräte zur Kartenzahlung, die konkrete Prozentwerte vorschlagen, sieht er prinzipiell positiv: "In dieser Stresssituation ist das eine mentale Abkürzung."
Problematisch sei, dass schon der niedrigste vorgeschlagene Wert häufig über dem liege, was Kundinnen und Kunden normalerweise an Trinkgeld geben würden: laut Hoffmanns Studie im Schnitt etwa acht Prozent. Schlägt die Kasse 10 bis 25 Prozent vor, dann sei das für deutsche Verhältnisse zu viel. "Genau hier sind Menschen höchst manipulierbar", so Hoffmann, "indem ich ihnen Alternativen unterjubele, die sie bei längerem Nachdenken gar nicht gewählt hätten."
Früher fünf, jetzt bis zu zehn Prozent im Durchschnitt
Am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte kommen viele Tourist:innen in das Grillrestaurant von Veiko Narten. Er hat vor einigen Wochen auf neue Kartengeräte umgestellt. Wenn sie Trinkgeld geben möchten, bekommen die Gäste hier nun Werte zwischen fünf und 20 Prozent vorgeschlagen. Seine Servicekräfte hätten sich das neue System gewünscht, sagt Narten.
"Früher waren wir unter fünf Prozent. Jetzt sind wir zwischen fünf und zehn Prozent Trinkgeld. Das ist eine deutliche Verbesserung", sagt Kellner Jizhong W., der in dem Restaurant arbeitet. Er sei mit dem Trinkgeld zufrieden, die Abrechnung jeden Tag transparent, so W. Das Kartensystem trennt Rechnungssummen und Trinkgelder automatisch. Was an Trinkgeld per Karte reinkommt, nimmt sich das Team zum Feierabend bar aus der Kasse. Dann wird mit Küchen- und Barpersonal geteilt.
"In den meisten Betrieben gibt es keine Transparenz"
So transparent laufe das nicht immer, sagt Sebastian Riesner. Der Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Berlin-Brandenburg sieht darin einen zentralen Nachteil digitalen Trinkgelds. Die Beschäftigten seien darauf angewiesen, dass der Arbeitgeber die Mehreinnahmen wirklich weitergibt, so Riesner. "Daran gibt es erhebliche Zweifel. In den meisten Betrieben gibt es darüber keine Transparenz."
Die Gewerkschaft NGG ist dem Thema Trinkgeld gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt. Was die Beschäftigten in der Gastronomie zum Leben brauchen, müsse per Lohn gezahlt werden – und nicht vom Wohlwollen der Gäste abhängen. "Gastronomen stehlen sich aus der Verantwortung", sagt Riesner - immer wieder würden niedrige Löhne mit dem Zusatzverdienst Trinkgeld gerechtfertigt. Anders als beim Lohn gehen vom Trinkgeld keine Steuern ab, aber auch keine Rentenbeiträge. Je größer der Anteil des Trinkgelds am Verdienst der Beschäftigten ist, desto größer ist ihr Risiko, in Altersarmut zu rutschen. Dabei ist egal, ob das Trinkgeld in bar oder per Karte kommt - die Regeln sind dieselben.
Sendung: rbb24 Abendschau, 07.11.2023, 19:30 Uhr