Theaterkritik | "Das Himmelszelt" am DT - Wenn Frauen Frauen verurteilen
Das Jahr 1759 in England: Eine Frauenjury entscheidet über die Schwangerschaft einer verurteilten Mörderin. Jette Steckel inszeniert Lucy Kirkwoods Gerichtsdrama "Das Himmelszelt" als feministischen Thriller mit grandiosen Schauspielerinnen. Von Barbara Behrendt
Nebeldunst zieht über die nachtschwarze Bühne. Hunde bellen in der Ferne. Im Dunkeln das Glimmen einer Zigarette. Eine zweite Figur huscht herein. "Ich dachte, du schläfst", sagt die Frau. Der Mann: "vier Monate?" So lange war Sally weg, durchgebrannt mit einem Kerl. Ihr Ehemann zieht den Gürtel aus und befiehlt Sally, den Rock zu heben. Da fällt fahles Licht herein und er schreckt zurück: Sallys Kleid, Sallys Arme – alles voller Blut. Und es ist nicht ihr eigenes.
Gerichtsdrama mit Suspense
Dieser perfekt ausgeleuchtete Auftakt des nun folgenden Gerichtsdramas "Das Himmelszelt" beweist, dass die Autorin Lucy Kirkwood mit Jette Steckel einer kongenialen Regisseurin begegnet: In puncto Spannungsaufbau macht den beiden niemand etwas vor.
Eine Szene weiter: Zwölf Mütter werden vom Gericht in einen Bretterverschlag beordert, um als sogenannte Matronenjury über das Schicksal der mittlerweile inhaftierten Sally zu entscheiden, während draußen der Mob tobt und sie hängen sehen will.
Doch schon die Kostüme zeigen, dass alle Frauen in diesem englischen Dorf 1759 Gefangene der Gesellschaft sind: Ihre langen Kleider sind Guantanamo-orange gefärbt; die schwarzen Hauben mit Scheuklappen lassen an Kopftücher im Iran denken.
Nur als Schwangerschaftsexpertinnen spielen Frauen eine Rolle
In der Tat hat die Frauenjury hier deutlich weniger Macht als die zwölf Geschworenen im gleichnamigen Film-Klassiker. Sally und ihr Liebhaber sind bereits zum Tode verurteilt worden, zusammen sollen sie ein kleines Mädchen ermordet haben. Der Liebhaber ist schon gehängt, Sallys Tod kann nur aufgeschoben werden – sofern die Mütter ihr glauben, dass sie ein Kind erwartet. Nur als Schwangerschaftsexpertinnen spielen sie eine Rolle im Rechtssystem. Von Frauensolidarität kann keine Rede sein. "Der kann nicht geholfen werden. Sie ist ein Tier", heißt es immer wieder.
Allein die Hebamme Elizabeth hält flammende Plädoyers, die Schwangerschaft anzuerkennen: "Weil sie zum Hängen verurteilt wurde aufgrund der Aussage eines betrogenen Ehemanns. Weil das Leben ihr nur schlechte Karten ausgeteilt hat, heute und seit vielen Jahren. Weil sie von Männern verurteilt wurde, die so tun, als hätten sie Gewissheit über Dinge, von denen sie nicht die geringste Ahnung haben, und jetzt stehen wir hier und machen es ihnen nach."
Die Frauen stützen das frauenfeindliche System
Lucy Kirkwood ist eine gefragte feministische Autorin, auch für Fernsehserien. Eines ihrer jüngsten Stücke verhandelt den wahren Fall eines Polizisten, der in England 2021 eine Frau vergewaltigt und ermordet hat. Im "Himmelszelt" geht es ebenfalls um Misogynie – allerdings, und das ist ungewöhnlich, stehen hier neben den patriarchalen Strukturen auch die Frauen selbst am Pranger. Solche, die das System willig unterstützen, das Frauen als Huren tituliert und als Hexen verurteilt, sofern es ihren Neid und ihre Missgunst befriedigt. Das ist mutig – und auch ein wenig gefährlich. Denn der Vorwurf "Zickenkrieg" ist immer nur einen Steinwurf entfernt.
Jette Steckel inszeniert das als psychologisches Kammerspiel mit einer wilden, waidwunden Kathleen Morgeneyer als geschundene Kreatur Sally und einer kämpferischen Maren Eggert als Hebamme, die allerdings auch so einige Leichen im Keller hat. Aberglaube, mangelnde Bildung und Opportunismus steigert Steckel mit mystischen Bildern und Veitstänzen zur selbstgemachten Hexenjagd. Zum Song "Me and The Devil" von der Frauenband "Soap & Skin" führen die Furien in einem der vielen lauten Höhepunkte einen explosiven Teufelstanz auf.
Berührendes Netflix-Theater
Die Vollprofis Steckel und Kirkwood spitzen Dialoge klug zu und halten über fast drei Stunden die Spannung – das soll ihnen und diesem 15-köpfigen Spitzenensemble erst mal jemand nachmachen. Alle spielen sie präzise und grandios, ausnahmslos: Ursula Werner, Almut Zilcher, Linda Pöppel, Anja Schneider...
Allerdings teilen Autorin und Regisseurin auch dieselben Schwächen: Sie wollen zu viel. Ein Plot-Twist jagt den nächsten, eine Figur nach der anderen muss desavouiert werden, es fühlt sich bald an wie eine Serie im Schnelldurchlauf. Die Inszenierung übertreibt es zudem mit ihrem Bombast und den Analogien zu Foltergefängnissen wie Abu Ghraib.
Trotzdem ist es bestes Netflix-Theater, dessen Ende einem die Tränen schmerzlich in die Augen treiben kann. Denn was die Frauen sich hier mühsam aufbauen, reißen die Männer schließlich wieder ein. Wem gehört der Körper einer Frau? Und wie nutzen Frauen ihre Machtspielräume? Das wird in diesem Well-Made-Play deutlich bewegender verhandelt, als es so mancher krawallfeministische Theaterabend der Hauptstadt derzeit tut.
Sendung: rbb24 Inforadio, 14.11.2022, 9:55 Uhr