Gerichtsurteil in rechter Neuköllner Anschlagsserie - "Inzwischen heißt die Beschäftigung von T. nicht mehr NPD, sondern der III. Weg"
Das Amtsgericht Tiergarten hat einen 36-jährigen Rechtsextremen vom Vorwurf der Brandstiftung in der Neuköllner Brandanschlagsserie freigesprochen. Und doch wurde er auch verurteilt - unter anderem wegen Bedrohung. Von Ulf Morling
Schon Ende Dezember war Tilo P.(39) freigesprochen worden im Zusammenhang mit zwei Brandanschlägen in Neukölln auf die Autos des Politikers der Linken Ferat Kocak und des Buchhändlers Heinz O. am 01. Februar 2018.
Sein mutmaßlicher Komplize Sebastian T. wurde am Dienstag ebenfalls freigesprochen, was die Brandstiftung der beiden Autos betrifft. Zwar hätten beide in der rechtsextremen Szene gut vernetzten Männer noch zwei Wochen vor den Anschlägen die beiden gegen Rechtsextremismus engagierten Männer, unter anderem im Internet, ausgespäht. Es fehle aber ein Indiz, was dieses Ausspähen von Adressen und anderen persönlichen Daten mit den Taten zwei Wochen später zusammenbringe, heißt es im Urteil. Zur zweifelsfreien Überzeugung habe es dem erweiterten Schöffengericht nicht gereicht.
Gefängnisstrafe wegen Sozialleistungsbetruges
Allerdings wurde der 36-jährige T. unter anderem wegen jahrelangen Sozialleistungsbetrugs verurteilt. So habe T. gegenüber dem Jobcenter nicht angegeben, dass er seine Wohnung vermietet hatte, für die er Zuschüsse kassierte. Im April 2020 habe er "Corona-Soforthilfen" in Höhe von 5.000 Euro bei der Investitionsbank Berlin unberechtigt beantragt. Zudem wurde T. wegen 27-facher Sachbeschädigung durch das Anbringen von Aufklebern mit rechtsextremen Inhalten und der Bedrohung von Neuköllnern verurteilt, die gegen Rechtsextremismus aktiv sind.
T. hätte teilweise gemeinschaftlich mit P. in deren Wohnumfeld Sprüche gesprüht mit deren Namen in Verbindung mit den Begriffen "9mm" (Patronenkaliber einer Schusswaffe) und "Kopfschuss". Damit hätten die beiden ihr Vorhaben umgesetzt, "gegen Rechtsextremismus in Neukölln engagierte Personen einzuschüchtern und diesen gegenüber ihre Missachtung kundzutun", hatte die Generalstaatsanwaltschaft in der Anklage ihnen vorgeworfen.
"Seit 2009 eine rechte Anschlagsserie"
Über 70 Straftaten sollen vor allem in Neukölln zivilgesellschaftlich gegen Rechts engagierte Männer und Frauen getroffen haben. Täter: mutmaßlich aus der rechten Szene.
Linke-Politiker Ferat Kocak, der bei dem Brandanschlag auf sein Auto seine Eltern aus dem nebenstehenden Haus retten musste und dessen Mutter kurz darauf einen schweren Herzinfarkt erlitt, drängt auf weitere Aufklärung des sogenannten Neukölln-Komplexes. "Das rechte Netzwerk muss aufgeklärt werden, damit wir wieder ruhig schlafen können", sagt Kocak gegenüber rbb|24 nach dem Urteil.
Aktuell hätten Betroffene weiter Angst. Bei dem Neuköllner Buchhändler Heinz O. war es bereits das zweite Auto, das am 1. Februar 2018 ausbrannte. Nicht nur in diesem Fall des "Neukölln-Komplexes" fand die Polizei bis heute keine Täter. Laut Oberstaatsanwältin Eva-Maria Tombrink würde noch in einem weiteren Fall einer Neuköllner Brandstiftung und weiteren Taten ermittelt der organisierten politisch rechten Szene in Berlin. Nähere Angaben wollte sie unter Hinweis auf die laufenden Ermittlungen nicht machen.
Ferat Kocak: Rolle des Verfassungsschutzes undurchsichtig
Fast fünf Jahre liegen die beiden jetzt verhandelten Brandstiftungen an den Autos politischer Gegner zurück, davor gab es Dutzende andere Anschläge. Erst vor zwei Jahren zog die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen an sich und will eine Serie von Straftaten aus der rechten Szene erkannt haben. Seitdem ermittelt sie.
Die Rolle des Verfassungsschutzes ist für Ferat Kocak und seine Anwältin Franziska Nedelmann dabei undurchsichtig, denn es gäbe zu wenige Informationen, selbst wenn der Verfassungsschutz mutmaßliche Täter abgehört habe. So sei ironischerweise die Bedrohung eines aktiv gegen Rechtsextremismus aktiven Opfers im Prozess nur bewiesen worden, weil das Opfer – ein Linker- offenbar von einer Videokamera des Verfassungsschutzes überwacht worden sei.
Weiter seien im Prozess gegen T. dem Gericht vom Verfassungsschutz lediglich drei Ausschnitte von überwachten Telefonaten der beiden ursprünglich angeklagten Rechtsextremen P. und T. zur Verfügung gestellt worden, die zwei Wochen vor den Brandanschlägen von ihnen geführt wurden. Die Ermittlungsakten würden Lücken aufweisen, sagt Nedelmann. "Wir hätten vom Gericht erwartet, dass es sagt: Das wollen wir uns genauer angucken!", um eine umfassende Tatsachengrundlage für die Beurteilung von Schuld oder Unschuld zu bekommen. Doch wegen angeblicher Aussichtslosigkeit habe das Gericht nicht weiteres Material vom Verfassungschutz angefordert.
In ihrem Plädoyer sprach Nedelmann von einer "Bankrotterklärung des Gerichts gegenüber dem Verfassungsschutz."
Prozess geht weiter
Während Tilo P. wegen des Anbringens von acht Aufklebern mit teilweise nationalsozialistischen Symbolen zu einer Geldstrafe von 4.500 Euro im Dezember verurteilt wurde und vom Vorwurf der beiden Brandstiftungen freigesprochen war wie T., muss der am Dienstag verurteilte mutmaßliche Komplize T. allerdings anderthalb Jahre ins Gefängnis, wenn das Urteil rechtskräftig wird.
Das Gericht könne keine positive Sozialprognose sehen für den teilweise einschlägig vorbestraften Angeklagten, hieß es im Urteil. "Inzwischen heißt die Beschäftigung von T. nicht mehr NPD, sondern der III. Weg" (rechtsextreme Kleinpartei), außerdem habe T. wohl wieder eine Auseinandersetzung in Treptow gehabt. Das Gericht müsse juristisch konsequent sein und könne die ausgesprochene anderthalbjährige Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung aussetzen.
Gegen das Urteil ist die Berufung vor dem Berliner Landgericht möglich. Gegen das Dezember-Urteil gegen den mutmaßlichen Konplizen von Tilo P. hat die Generalstaatsanwaltschaft bereits Berufung eingelegt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 08.02.2023, 10:40 Uhr