Interview | Sexualpädagogin - "Und dann kann die Frage kommen: Hatten Sie denn schon mal Analsex?"
Sexualität ist von Geburt an Thema, sagt die Sexualpädagogin Lisa Frey. Dementsprechend früh sollte mit Kindern darüber gesprochen werden. Dabei müsse man als Pädagogin aber auch lernen, mit sehr persönlichen Fragen umzugehen.
rbb|24: Frau Frey, in welchem Alter sollte sexuelle Bildung bei Kindern und Jugendlichen starten?
Lisa Frey: Unserer Ansicht nach ist Sexualität von Anfang an ein Thema. Insofern sollte sozusagen ab der Geburt berücksichtigt werden, dass Kinder von klein an einen Zugang zu ihrem Körper haben, dass sie für ihr Lustempfinden keine Scham spüren, dass sie ihre Körperempfindungen zulassen können. Dass sie aber auch merken, was ihnen zu viel ist, wo sie Grenzen haben.
Insofern versuchen wir, Eltern zu erreichen, bevor die Kinder in die Pubertät kommen und die Sexualität offensichtlich zum Thema wird. Dazu gehört auch das Thema Selbstbefriedigung im Kita-Alter. Es gibt viele, gerade Eltern, die das gar nicht so verstehen, dass es in dem Alter ganz üblich ist, dass Kinder sich selbst erkunden und eben auch schon merken, dass sie sich selbst stimulieren können. Manche Eltern kommen auch in die Beratung, weil sie nicht wissen, ist das jetzt ein Hinweis auf eine Gewalterfahrung? Was in vielen Fällen, wenn es jetzt rein um eine Körpererkundung geht, gar nicht der Fall ist.
Gleichzeitig gibt es Eltern, die Sorge haben, zu früh mit ihren Kindern über das Thema zu reden.
Selbstverständlich würde ich mit einer 16-jährigen Jugendlichen anders sprechen als mit einem siebenjährigen Mädchen. Es ist wichtig zu schauen, was ist gerade die Perspektive des Kindes? Was ist die Welt, in der das Kind lebt, um es nicht zu überfordern. Aber es gibt aus meiner Sicht kein Thema, was man nicht in jedem Alter in irgendeiner Form besprechen könnte. Es sollte nie ein Tabu geben, es muss nur altersadäquat vermittelt werden.
Es ist ja auch Aufgabe der Schule, junge Menschen vorzubereiten auf das, was ihnen im Leben begegnet an Themen rund um Sexualität und sie dabei zu unterstützen, sich und ihre Gefühle kennenzulernen. Wie gut schafft Schule das heute?
Gerade in der Schule geht es ja in erster Linie um Wissensvermittlung, um Leistung. Generell kommt da die Frage, wie geht es den jungen Menschen eigentlich, manchmal zu kurz. Das Thema Sexualität ist aber eins, was von Anfang an viel mit Gefühlen zu tun hat. Mit guten Gefühlen, mit Lust, mit Neugier, mit Spaß, aber genauso mit Unsicherheit, mit Ängsten, manchmal auch mit Schmerz. Insofern ist es wichtig, dass dafür Raum in der Schule ist. Leider ist der in der Schule aus verschiedenen Gründen nicht immer ausreichend. Manchmal sind die Fachkräfte in der Schule nicht gut genug ausgebildet. Ich würde sogar soweit gehen, dass sie in der Regel nicht gut genug ausgebildet sind. Das Thema sexuelle Bildung ist nach wie vor nicht ausreichend Bestandteil der Ausbildung von Lehrkräften. An den Hochschulen, in den Instituten kommt Sexualität oftmals gar nicht oder viel zu wenig vor.
Insofern finde ich total nachvollziehbar, dass Lehrkräfte an manchen Stellen überfordert sind oder nicht wissen, wie sie vor einer Meute von pubertierenden jungen Leuten vernünftig über Sex sprechen sollen. Ich finde nachvollziehbar, wenn es Berührungsängste gibt und eine Lehrkraft dann sagt: Wir machen es ganz sachlich, schauen uns die Anatomie an, den Menstruationszyklus, die Verhütungsmittel, und dann haben wir das Thema auch abgehakt.
Bessere schulische Sexualaufklärung oder sexuelle Bildung funktioniert nur, wenn die Fachleute auch wirklich gut ausgebildet sind. Es ist nun mal kein leichtes Thema, über Sexualität zu sprechen in dem Rahmen. Wenn ich als Lehrkraft vor der Klasse stehe und dann auch mal persönliche Fragen bekomme wie: Hatten Sie denn schon mal Analsex? Damit muss man lernen umzugehen.
In unserer digitalen Gesellschaft kommen Menschen immer früher mit sexualisierten Inhalten in Kontakt. Schon Kinder stolpern - oder suchen auch aktiv - nach Pornos im Internet, ohne diese überhaupt schon einordnen zu können. Was bedeutet das für die Sexualerziehung und die sexuelle Bildung?
Das ist ein Riesenthema. Dabei ändert es sich von Jahr zu Jahr, welche Plattform, welche Medien junge Menschen nutzen, man hat keine Chance, da hinterherzukommen. Aber man sollte nachfragen, hinhören, die jungen Leute ernst nehmen. Das ist ihre Lebenswelt.
Die sozialen Kontakte, auch die sexuellen Kontakte passieren häufig online. Viele sind auch früh konfrontiert mit sexuellen Inhalten, mit pornografischem Material. Wenn dann der erste Kontakt mit Sexualität ein pornografischer ist, manchmal vielleicht noch gewaltvoll, dann kann das überfordern, auch Angst machen. Da ist es umso wichtiger, in Kontakt zu bleiben. Die große Gefahr ist, dass junge Leute sich nicht anvertrauen, weil sie Angst haben, Medienverbot zu bekommen.
In den Beratungen oder Workshops höre ich immer wieder: Ich habe Nacktfotos verschickt, jetzt werden die online gestellt oder werden verbreitet über eine WhatsApp-Gruppe. Aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Wenn ich das meinen Eltern sage, dann nehmen sie mir mein Handy weg. Es muss einen Weg geben, die Kinder einerseits zu schützen, aber andererseits nicht nur über Verbote zu arbeiten. Denn sie finden ihre Wege und sind dann damit alleingelassen, wenn was schiefgeht.
Welche Rolle haben eigentlich neben Ihrer Arbeit und neben der Schule die Familien, die Eltern?
Die Familie ist der wichtigste Ort für die sexuelle Bildung, weil es der erste und früheste Kontakt zu dem Thema ist. Die Kinder und Jugendlichen wachsen ja nicht in der Schule auf, sondern erst mal zu Hause in ihren Familien oder wo sie eben leben. Die frühesten Jahre sind die prägendsten in der Regel, und da lernen wir die Grundlagen in Bezug auf die Wahrnehmung unserer Gefühle, die Grenzen, die respektiert werden - oder auch nicht.
Wenn wir an dieser Stelle auf zum Beispiel streng gläubige christliche oder muslimische Familien schauen, in denen mindestens eine Hemmung, wenn nicht sogar Antipathie gegen Aufklärungsthemen und alle anderen Themen rund um Sexualität herrscht, wie kann da ein guter Kompromiss aussehen?
Grundsätzlich gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen von Sexualität und sexueller Selbstbestimmung, die auch mit religiösen Werten verbunden sein können - nicht müssen. Das ist eine Herausforderung, die ich auch als Sexualpädagogin habe. Eltern haben in Deutschland das Recht, dass ihre Werte vermittelt werden an die Kinder und Jugendlichen.
Gleichzeitig haben die Kinder und Jugendlichen ein Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität, unabhängig davon, welche Religion oder welches Wertesystem zuhause vorherrscht. Wir bestärken die Kinder und Jugendlichen in ihren Rechten auf sexuelle Selbstbestimmung. Das kann auch unbequem sein für Eltern, die eine andere Vorstellung haben von eher regressiven oder rigiden Erziehungsformen. Wenn die Vorstellung von Eltern ist: Meine Tochter darf vor 18 oder vor der Ehe keinen Sex haben. Aber ich dann sage: Rechtlich darfst du natürlich auch schon vor der Ehe Sex haben, kann es natürlich Spannungen geben.
Im Grunde denke ich aber, es ist wichtig, zusammenzuarbeiten, also wirklich zu verstehen, woher kommt das? Was steckt dahinter? Welche Sorge vielleicht? Manchmal geht es dann auch darum, diese Sorge auszuhalten. Man kann Kinder nicht vor allem beschützen, man kann sie nicht einsperren. In anderen Bereichen des Lebens geht das nicht und auch nicht im Bereich Sexualität.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Konrad Spremberg.
Sendung: rbb|24 Inforadio, 27.02.2022, 10:45 Uhr