Sexuelle Bildung an Schulen - Warum im Unterricht auch über Pornos gesprochen werden sollte
Nacktbilder an den Freund, Pornos im Klassenchat: Kinder und Jugendliche werden heutzutage früh konfrontiert mit Sex. Der Aufklärungs- und Redebedarf ist groß, doch Lehrkräfte sind mit diesen Themen oft überfordert. Von K. Spremberg und R. Knop
Weiche Sitzkissen liegen im Kreis auf dem Boden, in einer Kiste stapeln sich plüschige Körperteile aus Stoff: eine Vulva, ein Penis, ein Uterus. Gleich wird hier über Gefühle, Gesundheit, Genitalien geredet. Ohne Lehrerinnen und Lehrer, weit weg vom Klassenraum ist die Sexualpädagogin Lisa Frey für alle Fragen der Schülerinnen da. Nebenan übernimmt ein Kollege die Jungs.
In den Gruppenräumen des Familienplanungszentrums Balance in Berlin-Hohenschönhausen geben Lisa Frey und ihre Kolleg:innen Workshops für Schulklassen rund um die Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft - und schließen dabei eine Lücke, die Familien und Schulen oft hinterlassen. Die Herausforderung sei es, alle jungen Leute auf einen ähnlichen Wissensstand zu bekommen, sagt Frey. "Einzelne sind total gut informiert, haben korrektes Wissen, können offen und selbstbewusst über Sex sprechen und Fragen stellen. Andere sind es gar nicht gewohnt, über Sex zu reden und damit überfordert."
Das Thema Sexualerziehung ist im Berliner und im Brandenburger Schulgesetz verankert. Laut Rahmenlehrplan gehören Sexualerziehung und die Bildung für sexuelle Selbstbestimmung zu den fachübergreifenden Themen. Sie sollen beispielsweise in Biologie, Ethik, Deutsch, Politik, Sport und einer ganzen Reihe anderer Fächer vermittelt werden.
Sexualkunde als purer Biologie-Unterricht
Die Realität sieht oft anders aus. "Der Fokus lag immer auf der geschlechtlichen Fortpflanzung: Wie wir es verhindern, wie wir es machen und wie wir es notfalls abbrechen", erzählt Jule*, die im Sommer in Berlin-Friedenau Abitur macht.
Die Sexualpädagogin Lisa Frey wundert das nicht, denn auch für Lehrer:innen sei Sexualerziehung so verunsichernd wie kein anderes Lehrthema. "Ich finde nachvollziehbar, wenn es Berührungsängste gibt und wenn eine Lehrkraft dann sagt: Wir machen es ganz sachlich, schauen uns die Anatomie an, den Menstruationszyklus, die Verhütungsmittel, und dann haben wir das Thema auch abgehakt", so Frey. Einer der Gründe: In der Ausbildung der Lehrkräfte an den Hochschulen käme das Thema Sexualität oftmals gar nicht oder viel zu selten vor.
Laut einer vom Bundesbildungsministerium geförderten Untersuchung von 2019 wurden tatsächlich nur rund 20 Prozent der Lehramtsstudierenden im Studium mit Angeboten zur sexuellen Bildung und Sexualpädagogik erreicht. Und das obwohl bei den Studierenden das Interesse groß ist, wie die quantitativen Erhebung im Verbundprojekt Sexuelle Bildung für das Lehramt (SeBiLe) ebenfalls ergab.
Früher Kontakt mit sexuellen Bildern
"Das erste Mal, dass ich mit Pornografie Kontakt hatte, war auf eigene Faust", erzählt Jules Freundin Anna*. Die angehenden Abiturientinnen hätten sich in der Schulzeit mehr Wissen und Unterstützung gewünscht, während sie ihre eigene Sexualität entwickelt und entdeckt haben. "Wenn man zwölf oder dreizehn Jahre alt ist, fängt man an, sich für Dinge wie Pornografie zu interessieren." Ihren Eltern hat sie damals nichts gesagt.
"Guckt’s euch nicht an!", hieß es dann in der Schule, erinnert sich Jule. Natürlich hätten viele Schüler:innen darauf nicht gehört und zum Teil gewalttätige, erschreckende Bilder gesehen. Heute ist sie überzeugt, die Erwachsenen hätten anders reagieren sollen: "Man muss spezifischer sagen: Was ist denn das Problem an Pornos? Und nicht: Das darfst du nicht sehen, weil du elf bist!"
Pornos nicht verbieten, sondern darüber reden
Laut Sexualpädagogin Lisa Frey ist es nahezu unmöglich zu verhindern, dass junge Menschen solche potenziell überfordernden Videos online sehen. Bei rund der Hälfte der befragten jungen Menschen passiert das schon vor dem vierzehnten Geburtstag, ergab die Jugendstudie "Partner 5" im Jahr 2021. Im Schulunterricht wird aber nur bei 34 Prozent der Befragten überhaupt über Pornografie geredet.
"Das Wichtige ist, darüber zu sprechen, um es zu verarbeiten und sich distanzieren zu können", sagt Frey über einen guten Umgang junger Menschen mit Pornos. "Dann muss das nicht im Kopf hängen bleiben. Wenn man die Jugendlichen aber alleine lässt, ist das auf lange Sicht gefährlich." Grundsätzlich sei das Interesse an Pornos und allgemein an Sexualität auch bei jüngeren Kindern nichts Verwerfliches, auf keinen Fall sollten Eltern Verbote aussprechen. "Die große Gefahr ist, dass sich junge Leute nicht mehr anvertrauen aus Angst, Medienverbot zu bekommen."
Das Ziel ist sexuelle Selbstbestimmung
Die knappen Rahmenlehrpläne helfen Lehrkräften wenig konkret dabei, zeitgemäßen Unterricht zu gestalten. Darum haben Bildungsexpert:innen aus Berlin und Brandenburg ein ergänzendes Papier verfasst: den Orientierungs- und Handlungsrahmen (OHR) zu Sexualerziehung und sexueller Selbstbestimmung. Die Bildungsgewerkschaft GEW Berlin hat an dem Papier mitgearbeitet. Sie kritisiert, die Berliner Senatsbildungsverwaltung würde seit Veröffentlichung "den Mantel des Schweigens" darüberbreiten und es nicht aktiv an den Schulen bekannt machen. Auf Anfrage von rbb|24 teilt die Senatsverwaltung mit, eine auf dem OHR aufbauende Handreichung werde im laufenden Schuljahr erscheinen, darüber hinaus gäbe es freiwillige Fortbildungen.
So komplex Sexualbildung in der Schule ist, so einfach lässt sich ihr Ziel auf den Punkt bringen: Kinder und Jugendliche sollen ein sexuell selbstbestimmtes Leben führen können. Sexuelle Selbstbestimmung heißt aber auch, die eigene sexuelle Identität entdecken und kennenlernen zu können. Inwieweit zum Beispiel queere Schüler:innen und ihre Lebenswirklichkeit im Sexualkundeunterricht stattfinden? "Gar nicht", antworten die Abiturientinnen Jule und Anna im Chor beim Gedanken an ihren Biologieunterricht.
*Die Nachnamen sind der Redaktion bekannt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 27.02.2023, 06:40 Uhr