Interview | Coming-out in der Kirche - "Wir müssen mutig bleiben und dürfen keine Konsequenzen fürchten"
Thomas Spinrath ist Mitte 20, gläubig - und hat sich 2022 in dem ARD-Film "Wie Gott uns schuf" öffentlich geoutet. Im Interview erzählt er, was sich im letzten Jahr für ihn verändert hat.
Ende Januar 2022 wagten 100 Menschen im Dienst der katholischen Kirche, die sich als nicht-heterosexuell definieren, den Schritt in die Öffentlichkeit. Priester, Ordensbrüder, Gemeindereferentinnen, Bistums-Mitarbeitende, Kindergärtnerinnen, Sozialarbeiter und viele mehr berichteten in der ARD-Dokumentation "Wie Gott uns schuf" von Einschüchterungen, Denunziationen, tiefen Verletzungen, Benachteiligungen, jahrzehntelangem Versteckspiel und Doppelleben.
Es ist Zeit nachzufragen: Hat sich die Situation queerer Beschäftigter in der katholischen Kirche verbessert? Wie ist es denen ergangen, die sich geoutet haben? "Wie Gott uns schuf - nach dem Coming Out" - der Film von Hajo Seppelt und Katharina Kühn ist jetzt in der ARD Mediathek zu sehen und am 24.5., 22 Uhr, im rbb Fernsehen.
Ulrike Bieritz hat sich mit Thomas Spinrath, einer der 100 Protagonisten, der heute in Berlin lebt, getroffen.
rbb: Thomas Spinrath, Sie waren Anfang 2022 einer der über 100 Menschen, die sich öffentlich geoutet haben. Wie viel Mut brauchten Sie, um an die Öffentlichkeit zu gehen?
Thomas Spinrath: Dieser letzte Coming-out-Schritt brauchte gar nicht mehr so viel Mut. Schon in den Jahren zuvor hatte ich damit begonnen, im katholischen Umfeld sehr viel offener mit meiner Queerness umzugehen. Ich habe mich also bereits im queeren katholischen und interreligiösen Aktivismus bewegt. Die kleineren, aber viel wichtigeren Schritte dahin haben mir mehr Mut abverlangt. Dann war es fast ein konsequenter letzter Schritt, auch Teil dieser großen Kampagne zu werden.
Aber es ist ja nochmal ein Unterschied, ob man es face-to-face jemandem erzählt oder ob man dann wirklich mit Bild und Ton oder im Digitalen auftaucht.
Das stimmt, das merkt man dann auch an den vielen Reaktionen, die gekommen sind. Ich glaube, mir ist das erst in den Tagen und Wochen danach bewusst geworden, was für eine große Öffentlichkeit wir wirklich durch den Film und die Kampagne #OutInChurch erreichen konnten.
Welche Reaktionen haben Sie denn ganz persönlich bekommen?
Sehr viele positive Reaktionen. Es haben sich zum Beispiel viele Leute aus meiner Schulzeit gemeldet, mit denen ich bis dahin sechs, sieben Jahre gar keinen Kontakt mehr hatte. Das war schön, weil viele mir gesagt haben: Du gibst auch meiner Erfahrung eine Stimme! Es war total bestärkend zu wissen, ich mache das nicht alleine für mich. Ich gebe auch anderen queeren Personen, die im katholischen Umfeld sozialisiert wurden, eine öffentliche Sichtbarkeit. Und es wurde eine Debatte angestoßen, die es einfach zu lange nicht gegeben hatte in Deutschland. Deswegen war es sehr berührend, das von vielen Leuten zu hören.
Gab es auch negative Reaktionen?
Direkt, ganz persönlich nicht. Ich kann mir natürlich auch vorstellen, dass sich manche Leute nicht trauen, das persönlich zu sagen. Ich glaube, und das ist ja auch Teil meiner Erfahrung, dass ich am Ende doch in einem - für katholische Verhältnisse - relativ liberalen Umfeld groß geworden bin und viele meiner Sorgen, ob Queers dort einen Platz haben können, gar nicht berechtigt waren.
Auf einer größeren, institutionellen Ebene haben wir als Kampagne Gegenwind, Ablehnung, organisierten Hass aus rechtskatholischen Kreisen bekommen. Aber das sind Dinge, mit denen ich dann weniger persönlich konfrontiert wurde.
War es für Sie einfacher, sich zu outen oder an die Öffentlichkeit zu gehen, weil Sie jung sind und queer zu sein nicht mehr so ein Tabu ist?
Am Ende ist es eine persönliche Frage, wie wohl ich mich fühle, mit meiner Geschichte in der Öffentlichkeit zu stehen. Auch wenn dieser kollektive Schritt befreiend sein kann, kollektiv ist es nicht immer einfach, weil viele schmerzhafte Erfahrungen neu hochgekommen sind. Ich weiß nicht, ob es eine Altersfrage ist. Ich denke, ich hatte als eine Person, die ehrenamtlich unterwegs ist, eine gewisse Freiheit. Ich wusste, dieser Schritt wird für mich keine finanziell existenziellen Konsequenzen haben können. Und das ist schon eine Dimension, die man auf keinen Fall unterschätzen darf.
Die Kampagne #OutInChurch hat inzwischen über 500 Mitglieder. Wir haben Menschen wieder neuen Mut geben können, auch trotz existenzieller Sorgen um die Anstellung bei der katholischen Kirche offen Teil der Bewegung zu sein.
Es gab ja keine Konsequenzen. Am Ende hat niemand seinen Job verloren.
Uns hat in gewisser Weise die Öffentlichkeit geholfen. Diese große Öffentlichkeit zu haben, hat wahrscheinlich schon einen gewissen Schutz geboten, weil für Verantwortungsträger sicherlich die Gefahr bestanden hätte, auf sehr viel öffentlichen Gegenwind zu stoßen, wenn personelle Konsequenzen gezogen worden wären.
Die Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts heißt, dass die sexuelle Orientierung oder die private Lebensführung keine Rolle mehr spielen und kein Kündigungsgrund mehr sein dürfen. Was hat sich für Sie persönlich in diesem Jahr verändert, seit dem ersten Film?
In einem Jahr passiert viel, gerade wenn man Mitte 20 ist. Ich habe mich nach zehn Monaten entschieden, aus der katholischen Kirche auszutreten. Zunächst einmal, weil ich gemerkt habe, dass es mir schwerfällt, kirchenrechtlich und steuerrechtlich Teil dieser Kirche zu sein.
Ich wollte nicht verantworten, dass mein Geld in einem autoritären System auch an queerfeindliche, rechtsradikale katholische Kreise verteilt werden kann. Das war gleichzeitig aber auch eine schmerzhafte Entscheidung. Nicht erst durch die Kampagne kenne ich viele Menschen, die eine wertvolle Arbeit leisten, die auch durch Kirchensteuermittel finanziert wird. Aber ich bin an den Punkt gekommen, wo ich skeptisch geworden bin, ob wir es schaffen, das große, autoritäre und am Ende halt strukturell menschenfeindliche und strukturell queerfeindliche Machtsystem der katholischen Kirche in absehbarer Zeit zu brechen.
Solange es dieses Machtsystem gibt, helfen uns meiner Meinung nach graduelle Verbesserungen wie jetzt im Arbeitsrecht nur sehr bedingt.
Braucht es vielleicht auch so eine Art Graswurzelbewegung von unten, um die Kirche zu verändern? Sehen Sie, angesichts von Bischöfen, die keine Reformen wollen, dennoch Chancen auf Veränderung?
Wir brauchen meines Erachtens eine gesellschaftliche Aufarbeitung des Leids und der Gewalt, die von der katholischen Kirche an queeren Menschen verübt wurde und bis heute verübt wird. Das wird die katholische Kirche alleine nicht leisten können. Das sehen wir ja daran, wie sie kläglich daran scheitert, sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen aufzuarbeiten.
Der Synodale Weg (Anm. d. Red.: Reformprozess der katholischen Kirche) hat bei allen Schwierigkeiten gezeigt, dass es zumindest in der Breite der katholischen Kirche immer noch ganz viele Menschen gibt, die den Wandel möchten. Dass dieser Wandel jetzt nicht so radikal und überzeugend ausgefallen ist, wie ihn sich wahrscheinlich viele gewünscht haben, liegt daran, dass es eine Machtelite an Bischöfen gibt, die das verhindert.
Aber es gibt viele Menschen, die sich weiterhin zusammentun müssen und einfach Kirche so leben, wie sie es möchten. Da müssen wir mutig bleiben und dürfen keine Konsequenzen fürchten, auch wenn das immer wieder bedeutet, reaktionären Widerstand zu kriegen. Das ist Teil jeder Befreiungsbewegung, dass man sich leider mit Hass und Widerstand auseinandersetzen muss. Aber ja, es hält uns ja niemand davon ab, Christentum und Religiosität so zu feiern, zu leben und zu gestalten, wie wir das möchten. Wir müssen viel mutiger sein, das einfach zu tun.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch mit Thomas Spinrath führte Ulrike Bieritz für rbbKultur. Der Text ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung. Das vollständige Gespräch können Sie im Audio-Player oben nachhören.
Sendung: rbb Fernsehen, 24.5.2023, 22 Uhr