Schlangenbader Straße - Wohnhaus schluckt Autobahn - eine Chance für Berlin?
Wohnraum und Verkehr müssen keine Gegensätze sein - das zeigt die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Seit 1980 gibt es hier über der A104 bezahlbare Wohnungen. Ein Konzept für die Zukunft? Von Jannis Hartmann
Autobahnen werden zu unrecht verteufelt, findet Ralf Mennicke. Er sagt, man solle auch die Chancen sehen, die diese Straßen mit sich bringen. Dabei denkt er vor allem an sein Wohnhaus: die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße, kurz Schlange. In die ist der Händler für Bastel- und Künstlerbedarf vor rund 25 Jahren gezogen.
1980 wurde das Gebäude von der städtischen Degewo fertiggestellt, samt A104. Die Autobahnröhre verläuft auf 600 Metern mitten durch das Wohnhaus. Das gab's vorher noch nie.
Leben hoch über der Autobahn
Bis April dieses Jahres war der hauseigene Autobahntunnel tatsächlich in Betrieb. Jahrelang wurde der marode Tunnel nicht saniert und deshalb geschlossen – der Senat will die Autobahn ohnehin stilllegen. Dass durch sein Haus keine Autos mehr fahren, bemerke Mennicke nur daran, dass jetzt die Nebenstraßen voll sind. Autobahnlärm sei nie ein Problem gewesen.
Der architektonische Trick: Der weiß-blau-gelbe Komplex verschlingt zwar förmlich die Autobahnröhre, er berührt sie aber nicht. Veranschaulicht wird das in den Fahrstühlen des Wohngebäudes – da ist ein Gebäudequerschnitt abgebildet. Mennicke nutzt die Fahrt mit dem Fahrstuhl für eine kurze Orientierung: "Wir sind bis zu 14 Stockwerke hoch. Unten ist die Autobahn, die steht auf einem eigenen Fundament. Und oben drüber ist der Gebäudekörper draufgemacht worden."
Ausstieg auf Etage vier, es geht zur Gemeinschaftsterrasse. Mennicke lehnt sich ans blaue Geländer und schaut auf den Wohnkomplex. Der türmt sich in terrassenbauweise vor einem auf, gesäumt von üppigen Grünanlagen. "Die ersten Tage bin ich von Vogelgezwitscher aufgewacht, das war ich gar nicht mehr gewohnt", so Mennicke, der vorher im Wedding wohnte. Für ihn ist klar: Die Schlange hat Modellcharakter.
Werden Autobahnen und Wohnraum also zu Unrecht als Gegensatz gesehen? Berlin hat immerhin 77 Kilometer Autobahn – aber für Bauland soll eher das Tempelhofer Feld herhalten als die A100 nebenan. Wurde eine bessere Lösung gegen die Platznot vielleicht schon längst gefunden?
Andere Städte haben die Überbauung auf jeden Fall wiederentdeckt: Hamburg deckelt gerade die A7; das amerikanische Boston hat schon 2007 einen Expressway tiefer gelegt, um darüber die Innenstadt zusammenwachsen zu lassen. Sollte sich Berlin das zum Vorbild nehmen?
Probleme und Protest
Als die Schlange entstand, war der Berliner Westen ein Experimentierfeld: Der skulpturale Bierpinsel, das futuristische ICC – oder eben die erste Autobahnüberbauung der Welt. In Sachen Maßstab planten die Architekten Heinrich und Krebs-Brüder bescheidener. Ende der Siebziger hieß das: Anstatt 20.000 Wohnungen wie in Gropiusstadt wurden es nur rund 1.750.
Nicht nur Wohnen und Verkehr sollten verbunden werden. Das Projekt brachte auch eine höchst gegensätzliche Protest-Allianz bürgerlicher Schmargendorfer und autobahnkritischer Studierender zusammen. Schlagzeilen gab es auch, weil beim Bau ein Gebäudeteil absackte. Als der private Bauunternehmer in Schwierigkeiten geriet, übernahm die Degewo. Die Baukosten: umgerechnet 2.300 Euro pro Quadratmeter. Für Sozialbau üblich waren 1.700 Euro. Das Gebäude galt als Flop, bevor die ersten Schlüssel übergeben wurden.
Auch Mennicke erinnert sich: "Ich habe gesehen, wie das Ding gebaut wurde. Und für mich als Schmargendorfer war es ein unmögliches Monster" – bis er dann später die Wohnungen gesehen habe. Die begeistern ihn bis heute. Über die Empfehlung eines Bekannten kam er schließlich Mitte der Neunziger an seine Wohnung: Maisonette, 12. und 13. Stock, Blick zum Alex oder Grunewald. Für rund sieben Euro den Quadratmeter kalt.
Lebensqualität hat ihren Preis
Dass sich die Angebote in der Einkaufspassage unten mittlerweile an Ältere richten, sei nicht verwunderlich, meint Mennicke. "Ich kenne viele Nachbarn, die sagen, man trägt mich hier aus dieser Wohnung nur mit den Füßen vorwärts raus." Ähnliches berichtet Stefan Weidelich von der Degewo: "Einige Mieter sind sogar mehrfach im Gebäude umgezogen, gerade wenn weiter oben eine Wohnung frei wird". Solche Umzüge im selben Haus seien sonst ungewöhnlich.
Die hohe Lebensqualität habe aber ihren Preis. Die Instandhaltung der Schlange sei vergleichsweise teuer. Das lege vor allem an den 150 verschiedenen Wohnungsgrundrisse und der verschachtelten Terrassen – und nicht an der Autobahn. Weidelich zeigt auf eine Lücke, zwischen Fahrbahnröhre und Gebäude: "Das sind zwei komplett getrennte Baukörper. Der Autobahnbetreiber kann unten seiner Arbeit nachgehen und wir können oben das Haus erhalten". Gebe es doch mal eine Überschneidung, kämen sie reibungslos an eine Zugangsberechtigung.
Prüfung im Sande verlaufen
Neue Autobahnüberbauungen plane die Degewo trotzdem nicht, sagt Weidelich – auch wenn man Flächen nachhaltig nutzen wolle. "Da bietet sich eine Doppelnutzung natürlich förmlich an", so der Degewo-Sprecher, "aber das muss auch wirtschaftlich immer darstellbar sein".
Ganz verworfen wurde die Idee nach der Eröffnung der Schlange nicht. 1990 schlugen der Architekt und die Architektin des ICC vor, die AVUS zu überbauen. Das verlief jedoch im Nichts. Vor vier Jahren dann, wurde eine Machbarkeitsstudie vom Senat beauftragt. Diesmal ging es um den Abschnitt nördlich der Kaiserdammbrücke. Die Ergebnisse wurden nie veröffentlicht, die Senatsverwaltungen für Verkehr und Stadtentwicklung verweisen gegenseitig aufeinander. Und dem Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf seien solche Projekte zu teuer – auch wenn er Überbauungen grundsätzlich begrüße.
Hohe Baukosten, günstige Grundstücke
Wie viel teurer ein Gebäude auf einer Autobahn ist, weiß Felix Theuring, Bauwirtschaftler. Er forscht an der TU Berlin zu Überbauungen von Infrastruktur. "Man muss schon mit den doppelten Errichtungskosten rechnen", so Theuring. Allerdings sei das nur die halbe Rechnung: "Baukosten sind maßgeblich von Grundstückspreisen getrieben. Werden die Flächen vergünstigt abgegeben, könnte das einen Ausgleich schaffen".
Technisch seien alle Herausforderungen gut gelöst. Schall und Erschütterungen könne man mit massiven Konstruktionen fern halten. Oder mit sogenannten Isolmer-Matten dämpfen: "Das kann man sich vorstellen wie die schwarze Matte, die man unter die Waschmaschine legt", so Theuring. Allerdings: Je mehr Etagen die Überbauung hat, desto materialintensiver werden die Konstruktionen. Der günstigste Kompromiss: fünf bis acht Etagen, die Höhe der Berliner Mietskasernen.
Das größte Problem sei das Baurecht, sagt Theuring. Denn Grundstücke würden in Deutschland nicht in der Höhe aufgeteilt. Ist es einmal zur Infrastrukturfläche gewidmet, darf keine Wohnüberbauung mehr drauf. Umgehen könne man das, indem man Straße und Überbauung zusammen baue – wie bei der Schlange. Dann könne man die Flächen später widmen.
Nachträglich zu überbauen sei kniffliger: "Da muss das Gebäude rechtlich auf dem Nachbargrundstück stehen und die Straße überragen", so der Bauwirtschaftler. Oder Berlin müsste sein Baurecht weiterentwickeln, etwa mit dem Vorbild der USA. Das gibt es die sogenannten Air-Rights, die eine Doppelnutzung in der Höhe erlauben, schon lange.
Initiative für Autobahnwiederbelebung
Für das Kombinieren von Wohnen und Verkehr steht die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße seit 2017 unter Denkmalschutz. Dass der Autobahntunnel einfach gesperrt wurde, ärgert Bewohner Ralf Mennicke. Mit anderen Mieterinnen und Mietern hat er darum eine Initiative gegründet. Er will ein neues Verkehrskonzept, eine temporäre oder langfristige Öffnung des Tunnels könne er sich gut vorstellen – damit der Verkehr nicht durch Nebenstraßen rauscht, sondern wieder mitten durch sein Wohnhaus.
Sendung: rbb24 Inforadio, 31.08.2023, 9:25 Uhr