Antisemitismus-Konferenz in Potsdam - "Das ist ein eigenes, deutsches Problem"
Für die jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland hat sich seit dem Angriff der Hamas auf Israel die Sicherheitslage verschärft. Auf einem Fachkongress in Potsdam rufen Antisemitismus-Experten die Zivilgesellschaft auf, Jüdinnen und Juden beizustehen. Von Ismahan Alboga
Eine Gruppe von Jugendlichen läuft am 19. Oktober 2023 in Gransee (Brandenburg) durch die Regionalbahn und grölt mehrmals "From the River to the Sea", "Free Palestine" und "Allahu Akbar". Einer der Männer soll dabei seine geballte Faust gehoben haben.
In Berlin wird am 31. Oktober, neben einem Hauseingang eine antisemitische Markierung in Form eines Davidsterns angebracht.
An einer Litfaßsäule werden am 21. Oktober in Weimar (Thüringen) Plakate mit Fotos der von der Hamas entführten Menschen mit dem Satz "Alle Juden lügen" überschrieben.
Dies sind nur einige der Vorfälle, die vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) erfasst werden. Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel gebe es einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle im gesamten Bundesgebiet, erklärt Benjamin Steinitz von RIAS. Zwischen dem 7. Oktober und dem 9. November seien in Deutschland im Schnitt jeden Tag 29 antisemitische Vorfälle festgestellt worden.
Einen deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle kann auch Felix Klepzig von der Fachstelle Antisemitismus Brandenburg feststellen. "Sachbeschädigungen, Beleidigungen bis hin zu körperlichen Übergriffen. Also das können wir definitiv unterstreichen", so Klepzig.
"Seit dem 7. Oktober tobt sich auf deutschen Straßen ein geballter Israel-Hass aus", beklagte auch Olaf Glöckner vom Moses-Mendelssohn-Zentrum der Universität Potsdam. Daher zögen sich viele Juden aus der Öffentlichkeit zurück und lebten nur noch in ihren geschlossenen Gemeinschaften, bedauert Glöckner.
Sichtbarkeit von Jüdinnen und Juden in Gefahr
Auf Konferenz "Antisemitismus in Ostdeutschland" in Potsdam haben jüdische Gemeinden aus Potsdam, Jena und Rostock am Dienstag über Ihre Erfahrungen berichtet.
Nach dem Terrorangriff der islamistischen Hamas habe sich für die Jüdische Gemeinde in Potsdam das Leben grundlegend verändert, sagt Jewgeni Kutikov, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in der Brandenburger Landeshauptstadt. "Jetzt haben wir Angst davor, dass wir von einem antisemitischen Mörder angegriffen werden könnten", erzählt Kutikov. Der Vorstand habe die Sicherheitsvorkehrungen für die Gemeinderäume massiv erhöht und stehe im ständigen Kontakt mit der Polizei.
Gianna Marcuk vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Rostock kennt diese Ängste. Man habe die Gemeinde abgesichert und es gebe eine enge Zusammenarbeit mit der Polizei und der Stadtverwaltung. Aber die Gemeindemitglieder würden ihrer Arbeit nachgehen und sie würden versuchen, ihr Leben zu leben. Die jüdische Gemeinde in Rostock wolle sich nicht verstecken. "Das ist eine bewusste Entscheidung. Mutig, tapfer und weiterhin jüdisch zu bleiben. Warum sollen wir unser Leben reduzieren? Das wollen wir nicht", so Gianna Marcuk.
Joel Ben-Yehoshua, Mitglied der jüdischen Landesgemeinde in Thüringen und Sprecher der deutsch-israelischen Gesellschaft Jena, fühlt sich von ehemaligen Verbündeten allein gelassen. Er beklagt mangelnde Solidarität. Menschen, die sich gegen Rassismus und Sexismus einsetzen, migrantische Netzwerke, mit denen er sonst zusammenarbeiten würde, würden aktuell bestenfalls schweigen oder die Taten der Hamas verharmlosen oder befürworten. "Es fühlt sich an als würde man zermahlen", sagt Joel Ben-Yehoshua.
Hinzu komme die Bedrohung von rechts. Sie sei in Thüringen so allgegenwärtig und präsent, er stelle sich selbst die Frage, wie lange er noch dort bleiben könne. Im nächsten Jahr finden auch in Thüringen Landtagswahlen statt. Die Leute, mit denen er eigentlich nächstes Jahr kooperieren müsste, um einen Wahlerfolg der AfD zu bekämpfen, würden im Ernstfall wahrscheinlich nicht an der Seite der Juden stehen, befürchtet Joel Ben-Yehoshua.
Antisemitismus anders im Osten als im Westen?
In ostdeutschen Bundesländern beobachtet Professor Oliver Decker von der Uni Leipzig einen Anstieg von Antisemitismus auch vor dem 7. Oktober. In den 2000er Jahren sei das noch anders gewesen. Da sei der Antisemitismus in Westdeutschland deutlich weiter verbreitet gewesen. Doch durch soziale Ächtung sei er in Westdeutschland rückläufig gewesen.
Der aktuell deutschlandweite Anstieg von antisemitischen Vorfällen sei aber kein importiertes Phänomen, sagt Decker. "Unser Problem kommt nicht von außen, das ist ein eigenes, deutsches Problem. Was nicht leichter wird, dadurch dass sich hier eben israelbezogener Antisemitismus als 'Brückenideologie' sowohl im migrantischen Milieu als auch bei Deutschen findet."
"Der Kampf gegen den Antisemitismus darf nicht Aufgabe der Jüdinnen und Juden sein", mahnt Dervis Hizarci von der Fachstelle Antisemitismus im Land Brandenburg. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 habe die mörderische Dimension des Antisemitismus erneut vor Augen geführt. Dagegen müsse sich die ganze Gesellschaft wenden.
Felix Klepzig von der Fachstelle Antisemitismus Brandenburg fordert die Zivilgesellschaft auf, Widerspruch zu leisten. Etwa wenn man mit antisemitischen Slogans, Sprüchen oder Phrasen konfrontiert wird. Solche Aussagen sollten nicht in der Öffentlichkeit unkommentiert stehen gelassen werden, sagt er. Natürlich müsse man dies immer in Abwägung auch der eigenen Sicherheit tun, so Klepzig.
Benjamin Steinitz von RIAS sieht das auch so. "Jüdinnen und Juden müssen in dieser schwierigsten Zeit, die sie in diesem Land erleben, ganz deutlich erfahren, dass sie mit diesem Erleben nicht alleine sind." Es brauche Solidarität von Politik und Gesellschaft. Auch in ganz natürlichen Alltagssituationen sollten Juden nicht das Gefühl haben, alleine in dieser Situation dazustehen. Eigentlich seien alle Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, einzuschreiten und Position zu beziehen. Steinitz fordert an dieser Stelle mehr Zivilcourage.
Sendung: Antenne Brandenburg, 05.12.2023, 19 Uhr