Nicht genug Hilfe - Kinder psychisch kranker Eltern: Zu früh zu viel Verantwortung

Fr 13.09.24 | 06:44 Uhr | Von Yasser Speck und Helena Daehler
Didi* (links, *Name von der Redaktion geändert), Tochter einer psychisch kranken Mutter, im Gespräch mit rbb-Redakteur Yasser Speck am 03.09.2024 (Quelle: rbb).
Audio: rbb24 Inforadio | 13.09.2024 | Helena Daehler | Bild: rbb

In Deutschland wächst jedes vierte Kind mit einem psychisch kranken oder suchtkranken Elternteil auf. Diese Kinder kümmern sich oft um die eigenen Eltern, Geschwister und den Haushalt. Hilfsangebote erreichen sie zu selten. Von Yasser Speck und Helena Daehler

Didi* will über ihre Kindheit sprechen. Ihre Mutter ist psychisch krank, seit sie sich erinnern kann. Beim Treffen in einem Wald am Berliner Stadtrand zieht Didi ihre Schuhe aus und läuft barfuß über den steinigen Weg. Das entspanne sie, sagt die 37-Jährige. Was sie in ihrer Kindheit erlebt hat, beschäftigt sie bis heute. "In meiner Familie war die Erkrankung nicht direkt ein Tabu", erzählt Didi, "aber man hat es nicht nach außen kommuniziert. Es blieb ein Geheimnis innerhalb der Familie."

Didi musste früh Verantwortung zu Hause übernehmen, ohne dass ihre Lehrer:innen oder andere Bezugspersonen davon wussten. Sie versuchte, möglichst nicht aufzufallen, kein "Störfaktor" zu sein, erinnert sie sich. "Niemand hätte vermutet, dass das der Grund ist, warum ich zu spät komme oder sehr viel nachdenke oder sehr viel zu Hause zu tun habe", sagt die Brandenburgerin.

Winterstiefel im Sommer

Ihre Großeltern und ihr Vater übernahmen viel Betreuungs- und Erziehungsarbeit, die die Mutter auf Grund der Krankheit nicht leisten konnte. Dadurch blieb Didi wie viele andere betroffene Kinder und Jugendliche auffällig unauffällig - fast immer: "Ich habe mich oft selbst angezogen morgens. Deswegen gab es manchmal Nachfragen in der Schule, weil ich im Sommer auch mal mit Winterstiefeln unterwegs war."

Erst als sie erwachsen wurde, wurde ihr klar, wie anders ihre Kindheit im Vergleich zu anderen war. "Meine Mutter war viel mit ihrer eigenen Welt beschäftigt", erinnert sich Didi. "Mit Fragen wie: Was macht das Leben aus? Warum müssen wir sterben? Solche Dinge haben mich stark beeinflusst. Dinge, die für andere Jugendliche normal waren– auf Partys gehen oder für einen Popstar schwärmen – waren mir völlig fremd."

Dr. Koralia Sekler vom AFET - Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. (Quelle: Axel Herzig).
"Sie werden viel zu schnell erwachsen": Koralia Sekler vom Bundesverband für Erziehungshilfe. | Bild: Axel Herzig

Hilfsangebot ermöglicht Betroffenen feste Bezugsperson auf Zeit

Früh Verantwortung in der Familie zu übernehmen sei typisch für Kinder psychisch kranker Eltern, sagt Koralia Sekler vom Bundesverband für Erziehungshilfe: "Diese Kinder übernehmen oft Aufgaben wie das Haushaltsmanagement oder Behördengänge. Sie werden viel zu schnell erwachsen, zu schnell selbstständig und überspringen wesentliche Entwicklungsphasen."

Im Vergleich zu den 90ern, in denen Didi damals aufgewachsen ist, gibt es mittlerweile spezielle Hilfsangebote für betroffene Kinder und Jugendliche. Dazu gehören Beratungsstellen wie Nacoa [instagram.com], KidKit [instagram.com], oder das Berliner Patenschaftsangebot AMSOC [amsoc.de]. Die Organisation, die sich bis 2021 ausschließlich über Spenden finanzierte, ermöglicht Kindern und Jugendlichen bis 17 Jahren eine feste Bezugsperson, bei der sie einmal im Monat übernachten und im Notfall bis zu acht Wochen bleiben können. Dies entlastet die erkrankten Eltern, damit sie sich bei Bedarf klinisch behandeln lassen können.

Verhindern, dass betroffene Kinder "fremdplatziert" werden müssen

Dank des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes von 2021 hat sich auch auf institutioneller Ebene einiges verbessert: Der Zugang zu Hilfen ist einfacher geworden und Kinder und Jugendliche haben gesetzlich festgelegt auch einen Anspruch auf Beratung ohne die Zustimmung von Erziehungsberechtigten. Doch laut Sekler reichen die bisherigen Änderungen nicht aus: "Aktuell richtet sich die Hilfe noch immer stark an die erkrankte Person. Diese wird medizinisch betreut, stabilisiert, aber die Angehörigen – und besonders die Kinder – geraten oft aus dem Blick", sagt sie.

Auch die Politik hat das Problem erkannt. Ein überparteilicher Antrag von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Bundestag fordert, die Hilfsangebote für psychisch kranke Menschen stärker mit den Bedürfnissen ihrer Kinder zu vernetzen. Diese Kinder haben laut Studien ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko, später selbst psychisch zu erkranken. "Tatsächlich ist es so, dass es dem Unterstützungssystem bei derartigen Problemlagen häufig nicht gelingt, die Kinder und die Familien zu stabilisieren", sagt die CDU- Bundestagsabgeordnete Bettina Margarethe Wiesmann. Im Extremfall müssten Kinder aus den Familien "fremdplatziert" werden. Dies gelte es zu verhindern.

"Im Optimalfall hätte eine Familie so etwas wie eine Fallmanagerin oder einen Fallmanager"

Die Fraktionen zeigen sich einig, dass eine Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen Gesundheitsdienst, der Jugendhilfe und anderen Beratungsangeboten stark verbessert werden muss. "Diese Art der interinstitutionellen Kooperation schlägt, gemessen an ihrem Nutzen, finanziell auch gar nicht so sehr zu Buche", sagt Wiesmann. Der Antrag zur Verbesserung der Hilfe für betroffene Kinder und Jugendliche wurde im Juli dieses Jahres an den Familienausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses überwiesen. Dessen Mitglieder werden die nächsten Monate darüber beraten, um Betroffenen schließlich besser helfen zu können.

Die Erziehungshilfeexpertin Koralia Sekler kritisiert, betroffene Familien hätten zu viele unterschiedliche Ansprechpartner:innen "Im Optimalfall hätte eine Familie so etwas wie eine Fallmanagerin oder einen Fallmanager, die sich um die Belange der Familie kümmern und die Hilfen, die dort angeboten werden, aufeinander abstimmt."

Didi* (links, *Name von der Redaktion geändert), Tochter einer psychisch kranken Mutter, bei Dreharbeiten zum Thema Kinder psychisch kranker Eltern am 03.09.2024 (Quelle: rbb)
Als sie sich einer Selbsthilfegruppe anvertraute, konnte Didi die Gefühle aus ihrer Kindheit und Jugend das erste Mal richtig verarbeiten.

"Über Trauer Wut und Ängste sprechen"

Didi hat sich erst Hilfe gesucht, als sie Mitte Zwanzig selbst in einer Lebenskrise steckte. Sie suchte im Netz nach "Kinder von psychisch Erkrankten" und fand eine Selbsthilfegruppe in Berlin. "Es hat mich erleichtert, dass da andere sind, die über ihre Trauer, Wut und Ängste sprechen und ihre Gefühle über ihre Eltern. Das hat mir sehr geholfen, das von anderen zu hören und auch, dass die anderen nachvollziehen können, was ich sage.", erzählt sie. Durch den Halt der Gruppe schaffte sie es aus ihrer Krise heraus und schöpfte neuen Lebensmut .

Didi hat heute ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter, für die sie mittlerweile viele Aufgaben übernimmt. Das Verhältnis sei fürsorglich - trotz allem.

*Name auf Wunsch der Gesprächspartnerin geändert.

Sendung: rbb24 Abendschau, 14.09.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Yasser Speck und Helena Daehler

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