Überlastung von Kinderkliniken und Arztpraxen - Krankschreibungen für Berliner Schüler werden ausgesetzt
Kinderarztpraxen und -kliniken sind überlastet, zu den vielen kranken Kindern kommt auch noch krankes Personal - die Grenzen dieses Versorgungssystems zeigen sich momentan deutlich. Der Senat will den Druck mit mehreren Handlungen mildern.
In Berlin soll bis auf Weiteres auf Kinder-Krankschreibungen für Schulen verzichtet werden. Das teilte die Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) am Donnerstag nach einem Krisengespräch mit Vertreterinnen der Kinderärzte, der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), der Ärztekammer, von Kliniken sowie Fachpolitikerinnen der Koalitionsfraktionen mit.
Anlass ist die außergewöhnlich angespannte Lage in Berliner Kinderkliniken, Rettungsstellen, Kinder- und Jugendarztpraxen und Notdienstpraxen der Kassenärztlichen Vereinigung. Zum einen sind momentan stark überdurchschnittlich viele Kinder krank, zum anderen trifft es auch medizinisches Personal. "Wir müssen jetzt durch diesen Winter kommen und alles tun, damit unsere Kinder weiter bestmöglich versorgt werden", sagte Gote.
Ein Verzicht auf Krankschreibungen würde die Arztpraxen entlasten und Kapazitäten für die Behandlung der Kinder schaffen, sagte Gote als Begründung. Die Gesundheitsverwaltung habe sich deshalb an die zuständige Bildungsverwaltung gewandt. An Berliner Schulen wird in den meisten Fällen ein Attest verlangt, wenn ein Schüler oder eine Schülerin drei Tage oder länger im Unterricht fehlt oder beispielsweise an Tagen von angekündigten Klausuren und Klassenarbeiten. Auch am letzten Schultag vor einem Ferienbeginn kann ein solches Attest gefordert werden.
Lauterbach: "Jede zusätzliche Leistung wird bezahlt"
Besprochen worden sei bei dem Krisengespräch am Donnerstag auch ein Appell an Medizin-Studierende, damit diese sich bei den Krankenhäusern melden, um die Teams in den Kinderkliniken und Rettungsstellen zu unterstützen. Ein weiteres Thema sei die "Sofort-Einstellung" von zusätzlichem kinderärztlichen Personal in Notaufnahmen in Verantwortung der jeweiligen Krankenhäuser gewesen sowie der Ausbau der Koordinierungsstelle in der Charité, die sich aktuell darum kümmert, dass alle Kinder versorgt werden. Woher dieses zusätzliche kinderärztliche Personal kommen soll, führte Gote nicht näher aus. Es fehlte auch vor der aktuellen Krankheitswelle schon in drastischem Ausmaß.
Die Gesundheitsverwaltung verwies außerdem auf eine Reihe von Maßnahmen, die bereits in der Umsetzung sind. So führt die Charité aktuell keine Eingriffe mehr durch, die verschoben werden können, weil sie nicht akut sind - allerdings aus purer Not heraus. Außerdem wird versucht, Mitarbeiter von anderen Stationen in die Kinderstationen zu schicken, weil die Lage so desaströs ist. So hat die Charité etwa Personal in die Kinderklinik verlegt, um dort der RSV-Welle entgegenzutreten. Nach Ansicht der Krankenhausgesellschaft ist dieses Mittel aber begrenzt. "Flexibler Einsatz von Personal ist aufgrund zahlreicher Vorgaben und Gesetze sowie akutem Fachkräftemangel kaum möglich."Die Gesundheitssenatorin verwies hierzu am Donnerstag auf die Verantwortung des Bundes. Dieser habe die Medizin, darunter auch die Pädiatrie, also die auf die Betreuung von Kindern und Jugendlichen spezialisierte Disziplin, lange Jahre "strukturell unterfinanziert".
Um den Druck ein wenig zu mildern, sollen Kinderarztpraxen auch endbudgetiert werden. "Jede zusätzliche Leistung wird bezahlt", sagte der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Donnerstag. Das soll sicherstellen, dass die Praxen auch am Jahresende wirtschaftlich arbeiten können, obwohl ihre von den gesetzlichen Kassen gedeckelten Budgets schon ausgegeben sind.
Vivantes: "Die Rettungsstellen sind voll. Und auch die Kinderkliniken sind voll"
Die Situation ist enorm angespannt, weil momentan eine außergewöhnlich große Krankheitsverbreitung auf ein offenkundig ausgehöhltes Versorgungssystem trifft. Mehrere Infektionskrankheiten kursieren zurzeit: Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) ist die Zahl der Grippefälle in Deutschland in der vergangenen Woche stark angestiegen. Neben dem Influenzavirus kursiert das Respiratorische Synzytialvirus (RSV) weiter stark, das vor allem für kleine Kinder und Säuglinge gefährlich sein kann. Vor allem Kinderkliniken und -stationen sind dadurch im Moment stark ausgelastet. "Die Rettungsstellen sind voll. Und auch die Kinderkliniken sind voll", sagte ein Sprecher des Krankenhauskonzerns Vivantes in Berlin.
Hinzu kommt: Auch Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegepersonal stecken sich an. "Der Krankenstand ist deutlich erhöht, das sehen wir", sagte der Vivantes-Sprecher. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seien an Influenza, RSV und Corona erkrankt. "Das führt zu Krankschreibungen und Isolationspflicht. Die Leute fehlen dann." Auch die Berliner Charité spricht von einem "anhaltenden und sich verstärkenden krankheitsbedingten Ausfalls" des Personals.
Krankenhausgesellschaft: "Milliardenschwerer Investitionsstau durch den Senat"
Hinzu kommt, dass in vielen Kliniken schon vorher Personal fehlte. Nicht zuletzt deshalb mussten und müssen kranke Kinder aus Berlin bis weit nach Brandenburg gebracht werden, weil sie in der Hauptstadt nicht versorgt werden können. Wirtschaftlicher Druck und "milliardenschwerer Investitionsstau durch den Berliner Senat" hätten zu Einsparungen beim Personal geführt, so die Kritik der Berliner Krankenhausgesellschaft.
Eine Entspannung der Lage ist erstmal nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Krankenhausgesellschaft warnt angesichts des fehlenden Personals vor einer Zuspitzung. "Mit der erwarteten hohen Zahl an zusätzlichen RS-Infektionen und weiterhin einem hohen Krankenstand beim Krankenhauspersonal kann sich die Lage über die Weihnachtsfeiertage weiter zuspitzen."
Sendung: rbb24 Abendschau, 15.12.2022, 19:30 Uhr