Überlastung von Kinderkliniken und Arztpraxen - Krankschreibungen für Berliner Schüler werden ausgesetzt

Do 15.12.22 | 18:39 Uhr
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Ein aufgeblasener Handschuh hängt als Spielzeug vor einem achteinhalb Monate alten Kind, das mit einem Atemwegsinfekt auf der Intensivstation der Kinderklinik liegt und non-invasiv beatmet wird. (Quelle: dpa/Christoph Soeder)
Video: rbb24 Abendschau | 15.12.2022 | Bild: dpa/Christoph Soeder

Kinderarztpraxen und -kliniken sind überlastet, zu den vielen kranken Kindern kommt auch noch krankes Personal - die Grenzen dieses Versorgungssystems zeigen sich momentan deutlich. Der Senat will den Druck mit mehreren Handlungen mildern.

In Berlin soll bis auf Weiteres auf Kinder-Krankschreibungen für Schulen verzichtet werden. Das teilte die Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) am Donnerstag nach einem Krisengespräch mit Vertreterinnen der Kinderärzte, der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), der Ärztekammer, von Kliniken sowie Fachpolitikerinnen der Koalitionsfraktionen mit.

Anlass ist die außergewöhnlich angespannte Lage in Berliner Kinderkliniken, Rettungsstellen, Kinder- und Jugendarztpraxen und Notdienstpraxen der Kassenärztlichen Vereinigung. Zum einen sind momentan stark überdurchschnittlich viele Kinder krank, zum anderen trifft es auch medizinisches Personal. "Wir müssen jetzt durch diesen Winter kommen und alles tun, damit unsere Kinder weiter bestmöglich versorgt werden", sagte Gote.

Ein Verzicht auf Krankschreibungen würde die Arztpraxen entlasten und Kapazitäten für die Behandlung der Kinder schaffen, sagte Gote als Begründung. Die Gesundheitsverwaltung habe sich deshalb an die zuständige Bildungsverwaltung gewandt. An Berliner Schulen wird in den meisten Fällen ein Attest verlangt, wenn ein Schüler oder eine Schülerin drei Tage oder länger im Unterricht fehlt oder beispielsweise an Tagen von angekündigten Klausuren und Klassenarbeiten. Auch am letzten Schultag vor einem Ferienbeginn kann ein solches Attest gefordert werden.

Lauterbach: "Jede zusätzliche Leistung wird bezahlt"

Besprochen worden sei bei dem Krisengespräch am Donnerstag auch ein Appell an Medizin-Studierende, damit diese sich bei den Krankenhäusern melden, um die Teams in den Kinderkliniken und Rettungsstellen zu unterstützen. Ein weiteres Thema sei die "Sofort-Einstellung" von zusätzlichem kinderärztlichen Personal in Notaufnahmen in Verantwortung der jeweiligen Krankenhäuser gewesen sowie der Ausbau der Koordinierungsstelle in der Charité, die sich aktuell darum kümmert, dass alle Kinder versorgt werden. Woher dieses zusätzliche kinderärztliche Personal kommen soll, führte Gote nicht näher aus. Es fehlte auch vor der aktuellen Krankheitswelle schon in drastischem Ausmaß.

Die Gesundheitsverwaltung verwies außerdem auf eine Reihe von Maßnahmen, die bereits in der Umsetzung sind. So führt die Charité aktuell keine Eingriffe mehr durch, die verschoben werden können, weil sie nicht akut sind - allerdings aus purer Not heraus. Außerdem wird versucht, Mitarbeiter von anderen Stationen in die Kinderstationen zu schicken, weil die Lage so desaströs ist. So hat die Charité etwa Personal in die Kinderklinik verlegt, um dort der RSV-Welle entgegenzutreten. Nach Ansicht der Krankenhausgesellschaft ist dieses Mittel aber begrenzt. "Flexibler Einsatz von Personal ist aufgrund zahlreicher Vorgaben und Gesetze sowie akutem Fachkräftemangel kaum möglich."Die Gesundheitssenatorin verwies hierzu am Donnerstag auf die Verantwortung des Bundes. Dieser habe die Medizin, darunter auch die Pädiatrie, also die auf die Betreuung von Kindern und Jugendlichen spezialisierte Disziplin, lange Jahre "strukturell unterfinanziert".

Um den Druck ein wenig zu mildern, sollen Kinderarztpraxen auch endbudgetiert werden. "Jede zusätzliche Leistung wird bezahlt", sagte der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Donnerstag. Das soll sicherstellen, dass die Praxen auch am Jahresende wirtschaftlich arbeiten können, obwohl ihre von den gesetzlichen Kassen gedeckelten Budgets schon ausgegeben sind.

Vivantes: "Die Rettungsstellen sind voll. Und auch die Kinderkliniken sind voll"

Die Situation ist enorm angespannt, weil momentan eine außergewöhnlich große Krankheitsverbreitung auf ein offenkundig ausgehöhltes Versorgungssystem trifft. Mehrere Infektionskrankheiten kursieren zurzeit: Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) ist die Zahl der Grippefälle in Deutschland in der vergangenen Woche stark angestiegen. Neben dem Influenzavirus kursiert das Respiratorische Synzytialvirus (RSV) weiter stark, das vor allem für kleine Kinder und Säuglinge gefährlich sein kann. Vor allem Kinderkliniken und -stationen sind dadurch im Moment stark ausgelastet. "Die Rettungsstellen sind voll. Und auch die Kinderkliniken sind voll", sagte ein Sprecher des Krankenhauskonzerns Vivantes in Berlin.

Hinzu kommt: Auch Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegepersonal stecken sich an. "Der Krankenstand ist deutlich erhöht, das sehen wir", sagte der Vivantes-Sprecher. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seien an Influenza, RSV und Corona erkrankt. "Das führt zu Krankschreibungen und Isolationspflicht. Die Leute fehlen dann." Auch die Berliner Charité spricht von einem "anhaltenden und sich verstärkenden krankheitsbedingten Ausfalls" des Personals.

Krankenhausgesellschaft: "Milliardenschwerer Investitionsstau durch den Senat"

Hinzu kommt, dass in vielen Kliniken schon vorher Personal fehlte. Nicht zuletzt deshalb mussten und müssen kranke Kinder aus Berlin bis weit nach Brandenburg gebracht werden, weil sie in der Hauptstadt nicht versorgt werden können. Wirtschaftlicher Druck und "milliardenschwerer Investitionsstau durch den Berliner Senat" hätten zu Einsparungen beim Personal geführt, so die Kritik der Berliner Krankenhausgesellschaft.

Eine Entspannung der Lage ist erstmal nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Krankenhausgesellschaft warnt angesichts des fehlenden Personals vor einer Zuspitzung. "Mit der erwarteten hohen Zahl an zusätzlichen RS-Infektionen und weiterhin einem hohen Krankenstand beim Krankenhauspersonal kann sich die Lage über die Weihnachtsfeiertage weiter zuspitzen."

Sendung: rbb24 Abendschau, 15.12.2022, 19:30 Uhr

24 Kommentare

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  1. 24.

    Nochmal: diese Atteste brauchen berufstätige Eltern, um das Kinderkrankengeld zu beziehen. Ansonsten müssten Eltern für solche Fälle Urlaub nehmen. Das Problem ist also nicht, dass Schulen Atteste fordern. Sondern dass diese nötig sind für die Beantragung der Kinderkrankentage bei der Krankenkasse.

  2. 23.

    Ach so, ich konnte mir also selbst aussuchen, ob ich ambulant oder stationär operiert werde. Wusste doch schon immer, dass unser Gesundheitssystem ein Ponyhof ist. Haben sie noch mehr solche Weisheiten?

  3. 22.

    " Fakt ist, dass die Schule am 4. Tag ein Attest sehen will!"
    Fakt ist auch, dass dies in der entsprechenden Verordnung anders geregelt ist, wie andere Kommentatoren schon schrieben.
    Vielleicht sollte die Schulsenatorin die jetzige Situation zum Anlass nehmen und Schulen und Eltern darauf hinweisen, dass Atteste in der Regel nicht erforderlich sind. Vielleicht sollten die betroffenen Schulen die jetzige Situation zum Anlass nehmen, ihre Attest"pflicht" aus der Schulordnung zu streichen.
    Man fasst sich an den Kopf: Da ist das Gesundheitssystem überlastet, da steigen die Kosten unaufhörlich. Und dann werden Kinder und ihre Familien zu einem ansonsten überflüssigen Arztbesuch genötigt, nur weil Schulen den Eltern und ihren Entschuldigungen pauschal misstrauen.

  4. 21.

    " Fakt ist, dass die Schule am 4. Tag ein Attest sehen will!"
    Fakt ist auch, dass dies in der entsprechenden Verordnung anders geregelt ist, wie andere Kommentatoren schon schrieben.
    Vielleicht sollte die Schulsenatorin die jetzige Situation zum Anlass nehmen und Schulen und Eltern darauf hinweisen, dass Atteste in der Regel nicht erforderlich sind. Vielleicht sollten die betroffenen Schulen die jetzige Situation zum Anlass nehmen, ihre Attest"pflicht" aus der Schulordnung zu streichen.
    Man fasst sich an den Kopf: Da ist das Gesundheitssystem überlastet, da steigen die Kosten unaufhörlich. Und dann werden Kinder und ihre Familien zu einem ansonsten überflüssigen Arztbesuch genötigt, nur weil Schulen den Eltern und ihren Entschuldigungen pauschal misstrauen.

  5. 20.

    Schüler, die wegen Krankheit Klassenarbeiten nicht mitschreiben können, melden sich erstmal beim Fachlehrer ab und schreiben die Arbeit nach. Natürlich mit anderen Aufgaben.

    So handhaben wir es. Allerdings bestehen wir drauf, dass sich der Schüler beim Fachlehrer vor der Klassenarbeit abmeldet.

  6. 19.

    Das ist nicht ganz richtig. Bevor vor Jahren die Privatisierungswelle einsetzte, wurden viele Kliniken kommunal betrieben. Und das mit so massiven Verlusten, dass die Privatisierung unumgänglich war.

    Auch kommunale oder staatliche Kliniken müssen kostendeckend arbeiten.

    Das Problem ist u.a. das unwirtschaftliche Verhalten vieler Patienten. Ambulant mögliche OP werden stationär durchgeführt und binden so unnütz Personal und erzeugen hohe Kosten.

  7. 18.

    Die Krankenhäuser gehören verstaatlicht! Private Krankenhäuser sind zu teuer. Man sollte in der Gesundheitsversorgung keine Gewinnabsicht zulassen. Ehrliche, bezahlbare und gute Gesundheitsversorgung sollte ausschließlich in staatlicher Hand liegen.

  8. 17.

    Die Krankschreibung brauche ich doch für den Arbeitgeber. Solange, dass nicht ausgehebelt wird, hat das ganze keinen Sinn.

  9. 16.

    Ja, die Eltern können (je Elternteil und Kind) 10 Kinder-krank-Tage nehmen. Aber dafür benötigt man eine Bescheinigung vom Arzt, die man dann beim Arbeitgeber und der Krankenkasse einreicht - um dann eben dieses Tagegeld der KK zu bekommen (ich glaube ca 66% des Tagesgehalts). Also müssen die Eltern doch wieder zum Kinderarzt um sich diese Bescheinigung holen zu lassen. Erst bei älteren Kindern (12 oder 14, ich weiß das nicht genau) entfällt dieser Anspruch glaube ich.
    Also in meinen Augen nicht wirklich eine Entlastung der Praxen, weil ne Bescheinigung wird ja trotzdem gebraucht.
    Bei uns kann ich wenigstens diese Bescheinigung telefonisch "anfordern" und muss nicht unbedingt zur Untersuchung in die Praxis - sofern ich die Erkältung mit Hausmitteln selbst versorgen kann ;)

  10. 15.

    Diese Kinderkranktage sind aber daran gekoppelt, dass der Arzt mein Kind krankschreibt. Ausnahme ist, wenn du anderes im Arbeitsvertrag stehen hast, das ist aber bei den allermeisten nicht der Fall.

  11. 14.

    Das ist ja mal wieder eine Bankrotterklärung! Das Gesundheitssystem ist an seinen Grenzen und was macht die Politik? Nicht etwa das System stärken/verbessern, sondern die Probleme verdecken und verschieben. Oder anders ausgedrückt: Einfach Nebelkerzen werfen und hoffen, dass es niemand merkt.
    Dass damit wahrscheinlich niemandem geholfen ist, wissen die Entscheidungsträger garantiert genau, was das Ganze noch viel schlimmer macht!
    Berlin (eigentlich ganz Deutschland) gleicht einem Zug ohne Bremse. Da nützt es nichts, wenn man alle paar Jahre den Lokführer und das Begleitpersonal austauscht!

  12. 13.

    Ich lese jetzt nicht imGesetzestext nach. Fakt ist, dass die Schule am 4. Tag ein Attest sehen will!
    Insofern kann die vorübergehende Regelung Entlastung bringen.

  13. 12.

    Hallo, die können regulär 10 Kindkranktage (in Coronazeiten: 30) nehmen. Hat aber Gehaltseinbußen zur Folge, kann sich nicht jede Familie leisten, denn da kommen schnell ein paar Hundert Euro zusammen.

  14. 11.

    Keine Abwehrmöglichkeit durch die Corona-Isolation und jetzt noch wenig geheizte Wohnungen, Schulen und Schwimmbäder....kein Wunder das Ganze!

  15. 10.

    Hmm.. Man braucht zum Beispiel ein Attest des Kinderarztes, wenn man selbst im medizinischen Bereich arbeitet und wegen dem Kind ausfällt. ;D

  16. 9.

    Es ist richtig, dass bei ‚,Verdachtsfällen“ ein ärztl. A. in Schulen verlangt werden kann. Nicht richtig ist jedoch, dass eine Schule dies in ihrem Schulprogramm festlegen kann. Gesetzliche Regelungen stehen immer über den Regeln, die eine Schule festlegt. Übrigens regelt eine Schulordnung lediglich das harmonische Zusammenleben aller in der Schule befindlichen Personen. Ich frage mich jedoch, wie lange es dauert, ein A. zu drucken und zu unterschreiben??? Ist das wirklich eine Entlastung?

  17. 8.

    Oh sorry, hab gerade voll den Zusammenhang vercheckt. Ich dachte du meinst, dass man ein ärztliches Attest braucht, aber das war ja Nr 2. Also entschuldige bitte :)

  18. 7.

    "In Berlin soll BIS AUF WEITERES auf Kinder-Krankschreibungen für Schulen verzichtet werden." Was heißt das nun konkret? Welche Antwort seitens der Senatsbildungsverwaltung gibt es? Immerhin gibt es eben auch die Pflicht, an Klassenarbeiten teilzunehmen. Wie sollen Schulen nun mit versäumten Klassenarbeiten umgehen?

  19. 6.

    Da steht doch nur, dass die Mitteilung über das Fehlen des Kindes spätestens am dritten Tag schriftlich erfolgen soll, nicht das dies eine Krankschreibung vom Arzt sein muss.

    Also bei uns an der Grundschule wird nicht "erzwungen" ein ärztliches Attest vorzulegen (auch in Klasse 6 nicht). Ich habe das bisher eher so wahrgenommen, dass die Schule das bei begründeten Verdachtsfällen anordnen kann, aber grundsätzlich nicht muss.

  20. 5.

    Schauen Sie mal in Nr. 7 AV Schulbesuchspflicht. Dann werden Sie sehen, dass Saskia Recht hat.
    https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/rechtsvorschriften/mdb-sen-bildung-rechtsvorschriften-av_schulpflicht.pdf

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