Interview | Can Dündar zur Wahl in der Türkei - "Wenn Erdogan die Wahl verliert, sitze ich im ersten Flugzeug"
Demokratie oder Autokratie? Die Türkei hat am 14. Mai die Wahl. Der türkische Journalist Can Dündar hofft auf eine deutliche Niederlage von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Auch weil er endlich in seine Heimat zurückkehren will.
Seit sieben Jahren lebt Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet" in Berlin im Exil.
2015 hatte die Zeitung über Waffenlieferungen der Türkei an Islamisten in Syrien berichtet. Diese Meldung sorgte weltweit für Aufsehen. Dündar wurde in der Türkei wegen Spionage und Terrorpropaganda angeklagt und zeitweise festgenommen. Daraufhin verließ er das Land. In Abwesenheit wurde Dündar später zu 25 Jahren Haft wegen Geheimnisverrats verurteilt.
Dündar hofft nun, dass Erdogan die Wahl verliert und in die Türkei zurückkehren kann. Am Maxim-Gorki-Theater, wo seine Zelle nachgebaut ist, gab Dündar dem rbb ein Interview.
rbb|24: Was erhoffen Sie sich von dieser bevorstehenden Wahl?
Can Dündar: Die Türkei steht am Rande einer Revolution oder Konterrevolution. Und die Türkei wird am 14. Mai zwischen Demokratie und Autokratie entscheiden. Unsere ganze Hoffnung ist eine totale Niederlage Erdogans. Aber ehrlich gesagt, hat jeder Zweifel und Fragezeichen, ob Erdogan bereit sein wird, die Macht einfach abzugeben. Wie Sie wissen, sind viele Autokraten nicht bereit, friedlich zu gehen. Sie wollen an der Macht bleiben. Deshalb braucht es eine echte Mehrheit. Dann wäre es nicht so einfach, die Armee oder die Polizei gegen den Willen des Volkes zu mobilisieren.
Erdogan führt die Türkei seit mehr als 20 Jahren - zunächst als Premier, seit 2014 als Präsident. Wie blicken Sie auf diese Zeit?
Dies waren die dunkelsten Zeiten in meinem Leben. Ich war Chefredakteur einer Zeitung und habe durch ihn alles verloren. Meine Freiheit, mein Haus, mein Vermögen. Ich lebe fern meiner Familie und musste hier in Berlin von vorn anfangen. Als Erdogan an die Macht kam, erlebten ich und viele meiner Kollegen und Freunde erstmals Angriffe, Gefängnis, Exil, Zensur. Erdogan kontrolliert die Armee, die Polizei, die Justiz, die Medien, das Kapital, die Universitäten, die Zivilgesellschaft, die Straßen, alles. Die Türkei ist ein totalitärer Staat ohne Platz für eine Zivilgesellschaft, freie Medien oder unabhängige Justiz. Seit Jahren hat die Türkei das größte Gefängnis für Journalisten. Ich hatte Glück, dass ich nur drei Monate in der Zelle verbracht habe. Aber es gibt viele Leute, die seit Jahren dort sind und das ohne jeden Grund.
Als Erdogan am Anfang die Regierung übernahm, sahen viele in ihm einen Hoffnungsträger. Wie ist das zu erklären?
Am Anfang hat er einen Engel gespielt. Er versprach ein Ende der Folter, die Wiederherstellung von Demokratie, Frieden und die Neuansiedlung der türkischen Institutionen. Viele Liberale unterstützen ihn, weil sie das politische Engagement der Armee satt hatten. Sie dachten, dass ein junger Islamist, der bereit war, Kompromisse mit Europa einzugehen, eine Lösung für die türkische Demokratie wäre.
Haben Sie ihm damals geglaubt?
Ich hätte ihm gerne geglaubt. Ich wusste aber schon damals, dass er beispielsweise als Bürgermeister in Istanbul erklärt hat, dass er ein Islamist ist und dass für ihn der Islam mit der Demokratie nicht zurechtkommt.
Wann war der Wendepunkt in seiner Politik?
Ich denke, der Wendepunkt sind die Gezi-Proteste im Jahr 2013 gewesen. Zum ersten Mal erkannte er, dass Millionen gegen ihn sind und er seine Macht verlieren kann. Deshalb entschied er sich für mehr Druck. Er baute das größte Gefängnis Europas auf und brachte viele seiner Gegner in dieses Gefängnis und versuchte, sie alle zum Schweigen zu bringen.
Und doch hat er nach wie vor viele Anhänger?
Natürlich mögen manche Leute starke Führungskräfte. Ich kann es nicht verallgemeinern, aber es ist wahr, mindestens die Hälfte der Menschen, die in der Türkei leben, unterstützen ihn und seine starke radikale Politik.
Auch aus politisch heiklen Positionen hat er sich immer wieder befreien können – wie ist das zu erklären?
Erdogan ist ein Politiker, der in der Lage ist, Krisen in Chancen zu verwandeln. Als er nach den Gezi-Park-Protesten in die Enge getrieben wurde, haben ihm die Flüchtlinge, das politische Leben gerettet. Und dann, als er wieder im Niedergang war, gab ihm der Krieg in der Ukraine eine weitere Chance, mit den Europäern zu verhandeln, weil er gute Kontakte zu Putin und zu Selensky hatte.
Manche Leute sagen, dass das Erdbeben Erdogan die Wahl kostet?
Nun, das Erdbeben war die größte Katastrophe, die die Türkei je erlebt hat, und auch Erdogans größtes Versagen, weil mehr als 50.000 Menschen bei diesem Erdbeben starben, weil die Regierung es versäumt hat, ihnen zu helfen. Und doch hat Erdogan in dieser Gegend nach wie vor viele Unterstützer. Wenn Sie sich die Meinungsumfragen dieser Städte ansehen, können Sie keine radikale Änderung in den Einstellungen der Menschen feststellen.
Und doch haben Sie Hoffnung?
Ja, ich habe Hoffnungen, weil ich denke, dass die Leute in den letzten zwei Jahrzehnten wirklich viel gelernt haben. Und doch nichts ist sicher bei dieser Wahl.
Viele junge Leute, ein Großteil der jungen Generation, zieht aus der Türkei weg. Wären Sie mit dem 74-jährigen Kemal Kilicdaroglu, dem Hoffnungsträger des Oppositionsbündnisses, zufrieden?
Ich habe einen Sohn im Alter von 27 Jahren. Er hat bisher keinen anderen Politiker als Erdogan an der Macht gesehen. Er und viele seiner Generation sind bereit, jeden anderen willkommen zu heißen, egal in welchem Alter er oder sie ist. Wir brauchen jemanden, der die Vision und die Autorität hat, alle zu umarmen - nach einer so langen Phase des Hasses.
Wenn Erdogan die Wahl verliert, würden sie sofort zurückkehren?
Mein Gepäck ist immer gepackt - quasi für die sofortige Rückkehr. Wenn Erdogan am kommenden Sonntag die Wahl verliert, möchte ich am Morgen des 15. Mai im ersten Flugzeug sitzen. Seit den vergangenen sieben Jahren warte ich auf diesen Moment. Natürlich wird es nicht so einfach sein, das Land wieder aufzubauen. Wir müssen das Land reformieren und lernen, wieder zusammenzuleben. Und in meinem konkreten Fall: Ich muss auf eine Reform des Justizsystems warten – eine Amnestie für politisch Verurteilte.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Petra Dorrmann für "title, thesen, temperamente" (rbb).
Sendung: titel, thesen, temperamente (rbb), Das Erste, 07.05.23, 23:05 Uhr