KI-Frühwarnsystem vor Schulabbrüchen - "Es gibt die Hoffnung, dass mit so einer Technologie mehr Gerechtigkeit erzeugt wird"

So 05.11.23 | 10:28 Uhr
  15
Symbolbild / gestellte Aufnahme vom 19.09.2014: Schüler der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule IGS Göttingen lernen in einem Klassenzimmer (Quelle: dpa / Thomas Trutschel).
Bild: Thomas Trutschel/photothek.net

In den USA kommen an einigen Schulen Frühwarnsysteme auf Basis von Künstlicher Intelligenz zum Einsatz. Sie sollen Schulabbrüche verhindern. Ein Berliner KI-Experte ordnet im Interview ein, ob solche Instrumente auch hier Anwendung finden könnten.

rbb|24: Herr Burchardt, wie genau funktioniert so ein Frühwarnsystem für schulische Leistungen überhaupt?

Aljoscha Burchardt: In den USA geben die Lehrerinnen und Lehrer meines Wissens auch heute schon so eine Art Frühwarnung ab - Prognosen darüber, ob eine Versetzung bei Schülerinnen und Schülern möglicherweise gefährdet ist oder es dafür Anzeichen gibt. Es ist ein etwas anderes Setting als bei uns. Dafür werden bestimmte Daten gesammelt: Fehltage, Schulverweise, Noten und vielleicht ein paar andere Daten. In diesem Fall wird das KI-System mit den Daten gefüttert. Das System erkennt dann Muster und kann Vorhersagen machen. Leute mit einem bestimmten Verhalten hatten zuvor möglicherweise zwei Jahre später Versetzungsprobleme oder den Abschluss nicht gemacht.

Das sind schon Dinge, die wir Menschen nicht so ohne weiteres aus diesen Daten ablesen können, weil wir die Daten nicht mit einer Mustererkennung angucken. Wir können dafür vielleicht eher sagen, ob das jetzt normal ist oder ein Pubertätsknick in der Leistung. Aber die Maschinen geben eben nochmal einen zweiten Blick drauf.

Podcast-Tipp

Kommen denn solche Frühwarnsysteme in den USA schon flächendeckend zum Einsatz?

Es wird in einigen Bundesstaaten getestet oder diskutiert. Schon in anderen Bereichen, wie zum Beispiel beim Einsatz von KI in der Justiz, sind es überwiegend demokratisch regierte Staaten, die sich dafür interessieren [tagesschau.de]. Ich glaube, dass hier die Hoffnung mitschwingt, dass man mit so einer Technologie auch mehr Gerechtigkeit erzeugen kann. Der Lehrer und die Lehrerin haben vielleicht ihre Lieblinge oder gucken vielleicht auch auf die Kinder mit einer besseren Brieftasche ein bisschen stärker. Hier kommt so eine sozialdemokratische Idee zum Vorschein, zu sagen: Vor der KI sind alle gleich. Die erkennt bei jedem das, was getan werden muss. Vielleicht fallen sonst Leute durch, weil sie nicht so dem typischen Bild des Leistungsträgers entsprechen.

Sie haben es schon angedeutet, aber was verspricht man sich denn von so einem Frühwarnsystem, was Lehrkräfte so nicht leisten könnten?

Ich denke, du kannst nicht alle 20 Schülerinnen und Schüler so im Blick haben und es gibt schleichende Veränderungen, die vielleicht gar nicht so auffallen. Wir haben ja nicht immer eine ideale Welt, wo ein Klassenlehrer oder eine Klassenlehrerin mit den Schülern die ganze Zeit unterwegs ist. Es gibt Lehrerwechsel. Es gibt sehr viele Fachlehrer und es kann sein, dass sich ein Konglomerat von Anzeichen ergibt, über verschiedene Fächer hinweg und über verschiedene Tage hinweg. Diese Stärke des Systems, wirklich alle und alles im Blick zu haben, ist dann vielleicht der Vorteil der KI.

Wie bewerten Sie den hohen Grad an Überwachung, dem die Schülerinnen und Schüler durch dieses Frühwarnsystem ausgesetzt sind?

Wenn man so will, werden Schüler und ihre Leistung rund um die Uhr von ihren Lehrerinnen und Lehrern überwacht. Bisher war es nur nicht so stark technisch unterstützt. Wir sehen hier zwei Seiten einer Medaille. Was auf der einen Seite Individualisierung ermöglicht, individuelle Förderung, individuelle Medizin, ja individuelle Hilfe, kann auf der anderen Seite dann wieder heißen: Da kommen Sachen ans Tageslicht und werden weitergegeben, von denen die Leute es nicht wollen.

Man kann gar nicht sagen: Es ist so immer falsch oder so immer richtig, sondern man muss sich vielmehr den Einzelfall angucken. Die Art der konkreten Gestaltung ist oft viel wichtiger, als zu sagen, "Wir ziehen eine rote Linie" und "Nie und nimmer wollen wir in der Schule eine Leistungsbewertung". Das wäre vollkommener Quatsch, denn Teil unseres Schulsystems ist ja die Leistungsbewertung.

Es müssen auch die anderen Prozesse drum herum da sein. Wenn wir uns also in einem reinen Tinte- und Kreide-basierten Umfeld bewegen - dann ist einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt.

Aljoscha Burchardt zur Frage, ob solche KI-Prozesse auch in Berlin und Brandenburg schon denkbar wären

Wäre ein solches System Ihrer Meinung nach auch an Schulen in Berlin und Brandenburg denkbar?

Naja, im Schulalltag kennen wir diese Art der Vorhersage bisher nicht und wüssten erstmal nicht, was wir damit machen sollten. Aber allgemein zu sagen: Man misst die Leistungen über die Zeit, vergleicht die mit irgendwelchen Durchschnitten und guckt dann, wo spezifischer Förderbedarf ist und ob es an einer Stelle einen untypischen Knick gibt, wenn die Schüler außerdem ihre Hausaufgaben zunehmend digital einreichen - dann wird das Ganze interessant. Dafür müssen auch die anderen Prozesse drum herum da sein. Wenn wir uns also in einem reinen Tinte- und Kreide-basierten Umfeld bewegen - dann ist einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt.

Zur Person

DFKI-Wissenschaftler - Aljoscha Burchardt

Burchardt ist Wissenschaftler am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Berlin und Host des Podcasts "KI – und jetzt? Wie wir Künstliche Intelligenz leben wollen" vom rbb und dem DFKI. Er promovierte in Computerlinguistik. Neben seiner Forschung im Bereich Sprachtechnologie mit dem Schwerpunkt Verarbeitung natürlicher Sprache (NLP) war er als Sachverständiger Mitglied der Enquete-Kommission "Künstliche Intelligenz" des Deutschen Bundestages. Außerdem ist er Stellvertretender Vorsitzender der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft.

Das Frühwarnsystem ist das eine. Was für andere Formen gebe es Ihrer Meinung nach, KI-Anwendungen an unseren Schulen einzusetzen?

Da gibt es so viele, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Das eine ist selbstverständlich die gesamte Bürotätigkeit, die ja nicht zu verachten ist: Lehrpläne schreiben, Raumbelegungen machen und so weiter. Bei der Unterrichtsvorbereitung gibt es ganz viele Tools, die einem helfen: Zum Beispiel, um Multiple-Choice-Tests oder Fragen aus gewissen Texten zu erzeugen. Oder um passende Texte für Schülerinnen und Schüler herauszusuchen, die zum Beispiel 20 Prozent unbekannte Vokabeln haben und die Schüler:innen interessieren.

Auch bei der Korrektur können Systeme unterstützen. Dann können die Lehrer sich über die interessanten Dinge und über das Feedback mehr Gedanken machen, als sich zwanzig Mal dieselben Rechtschreibfehler im Vokabeltest angucken zu müssen. Außerdem sollte KI als Thema in der Schule nicht nur irgendwo in die Informatik abgeschoben, sondern integriert werden: Im Geschichtsunterricht geht es um Mustererkennung in der Archäologie, in Deutsch geht es um Korpuslinguistik [ids-mannheim.de] und im Sozialkundeunterricht geht es um Fake News.

Wichtig ist, dass man aufs Leben vorbereitet. Unschön, finde ich es, wenn der Vormittag und der Nachmittag, wie ich das immer so nenne, so dermaßen auseinanderklaffen.

Aljoscha Burchardt über die Lücke zwischen Schulunterricht und dem Alltag der Schüler

KI-Anwendungen haben einen wachsenden Einfluss auf die Gesellschaft. Wie wichtig ist es für Sie als Wissenschaftler, jungen Leuten ein Grundverständnis von Künstlicher Intelligenz zu vermitteln?

Wichtig ist, dass man aufs Leben vorbereitet. Unschön, finde ich es, wenn der Vormittag und der Nachmittag, wie ich das immer so nenne, so dermaßen auseinanderklaffen - in der Technologie, die man benutzt, in der Art, wie man kommuniziert, in der Art, wie man sich mit Leuten verabredet, wie man seine Ergebnisse dokumentiert. Das ist so unterschiedlich, dass ich glaube: Irgendwann wird es schwer für Schülerinnen und Schüler, die Verbindung zwischen dem Leben, in dem sie leben - mit iPhones und mit Web und so weiter - und der Schule hinzukriegen.

Dabei möchte ich nicht despektierlich die schönen alten Bildungsinhalte schlecht reden, aber man muss sie eben irgendwie verheiraten mit der aktuellen Welt. Und wenn es um Fake News, Beeinflussung, Konsum oder Terror in den sozialen Medien geht, sind da natürlich die Stichworte Medienbildung und Awareness. Und das ist auch Sache der Schulen. Wir schützen Kinder nicht, indem wir ihnen die schlechten Dinge des Lebens vorenthalten, sondern wir müssen sie auch für eine kritische Auseinandersetzung mit dem vorbereiten, was sie sehen und hören.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Lena Petersen.

15 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 15.

    "... außer dass das Problem als solches überhaupt lösbar sein muss. ..."
    Genau!
    Digitalisierung an Schulen mit allem drum und dran sollte erst einmal bewältigt werden.

  2. 14.

    Die Tiefe des notwendigen Eingangs- und des benötigten Ergebnisvektors kenne ich auch nicht. Das hängt ja davon ab, wie feingranular man bestimmte Aussagen und welche Aussagen man benötigt.
    Aber dem sind ja heute prinzipiell überhaupt keine Grenzen gesetzt, außer dass das Problem als solches überhaupt lösbar sein muss.

  3. 13.

    Mir fehlt noch etwas das Verständnis für die Programmierung ...
    Es können auch soziale Aspekte bei der Lernkurve, wie z.B. Scheidung der Eltern, schwere Erkrankung in der Familie ect. eine erhebliche (zeitlich begrenzte) Rolle spielen. Wird dies dann in irgendeiner Art und Weise berücksichtigt?
    Der Klassen-/Vertrauenslehrer hat da sicherlich einen anderen Blick drauf und kann Hilfestellung geben.
    Gerecht oder ungerecht lassen ich einmal dahingestellt.

  4. 12.

    Auch in den USA ist der Zeitgeist technikgläubig. Schauen Sie auf die Überschrift hier: „mehr Gerechtigkeit“. Wer will das nicht. Unterschwellig wird also unterstellt, es gibt zu viel Ungerechtigkeit... bei der Lehrerwahrnehmung? Man schreibt auch nicht, wie man dies gemessen haben will. Genauso könnte ich behaupten: Mehr Gerechtigkeit durch die KI Abschaffung und mehr Persönlichkeit! Denn: Die KI muss „gefüttert“ werden. Von wem?

  5. 11.

    Das ist aber eine weitere verarsc... bzgl. Nutzen von KI.
    Helikopter-Eltern sind schon schlimm genug, "Bildungsferne" da unwissend, ehr unbefangener.
    Jetzt soll da der KI-Hype woll so richtig durchstarten.
    Aber wichtig ist das ja Dank KI ein neuer Beatles-Song auf den Markt gekommen ist.

  6. 10.

    Gefährdete Versetzungen gibt es hier in Deutschland doch gar nicht. Egal ob Schüler:in zur Schule geht oder im ganzen Zeugnis für alle Fächer "ohne Bewertung" steht, Schüler:in wird in die nächste Klassenstufe versetzt. Führt das gute alte Sitzenbleiben wieder ein, dann braucht es auch keine KI.

  7. 9.

    Ich stelle mir das so vor, dass die KI anhand von Merkmalen auf die jeweilige Lernkurve der einzelnen Schüler schließt.
    Dazu könnten persönliche Daten vorkodiert, anonymisiert werden. Sodass nur das Lehrpersonal den Eingangs- und Ergebnisvektor konkret zuordnen kann. Damit hätte der Mensch zumindest weiter die Datenkontrolle.
    Eines ist sicher, KI wird im konkreten Spielekontext der bessere Spieler sein, als alle Lehrer zusammen. Für die Schüler wird es dann mit den alten Tricks keine Freiräume mehr geben. Das kann gut aber auch schlecht sein. Wird jedenfalls eine spannende Zukunft.

  8. 8.

    Kann jemand etwas zum Schulsystem in den USA sagen?
    Ist die Schule dort wirklich so anonym, dass die Lehrer nicht merken, wenn jemand auffällig oft fehlt, absackt in den Noten, Aufgaben unregelmäßig abgibt, sich anders verhält, psychosoziale Probleme entwickelt o.Ä. ? Gibt es dort keine Zeugniskonferenz, keinen Elternsprechtag, keine Zeit für ein kurzes Gespräch, wie es jemandem geht?

    Mir fällt es wirklich schwer, mir das vorzustellen. Das muss wirklich Horror sein.

  9. 6.

    Soweit ich informiert bin, gibt es heute noch regelmäßig Klassenkonferenzen an Berliner Grundschulen. Zum Glück!
    Andere kann ich nicht sagen.

  10. 5.

    Statt ein KI-Frühwarnsystem in den Schulen brauchen wir ein Eltern(!)frühwarnsystem. Dringend.

  11. 4.

    Das mag jetzt überraschend sein, aber "früher" gehörten solche Einschätzungen auf jede Klassenkonferenz.

    " ...geben die Lehrerinnen und Lehrer ... so eine Art Frühwarnung ab - Prognosen darüber, ob eine Versetzung bei Schülerinnen und Schülern möglicherweise gefährdet ist oder es dafür Anzeichen gibt ..."

    Und dann, ganz analog, wurde beraten, wie man den jeweiligen Schülerinnen und Schülern konkret helfen könnte, was sie genau bräuchten, wer ins Boot geholt werden mußte etc. Dazu gehörten dann z. B. die Lerngruppe, Treffen mit den Eltern und FachlehrerInnen und vor allem der Kontakt zu den betroffenen SchülerInnen. Lange her, leider.

    Aber ja, bald sind "wir" auch so "fortschrittlich" wie in den USA. Funfact - das dortige öffentliche Schulsystem gilt weltweit als ein Synonym für das Scheitern und vernachlässigen des öffentlichen BIldungssektors, ganz bewußt politisch so gewollt. Bevor jetzt gelöscht oder geschimpft wird, fragen Sie einen beliebigen Menschen aus den USA.

  12. 3.

    Also das gerade im Bezug auf Schule und Bildung von KI gesprochen wird ist schon mehr als nur gruselig!!!

  13. 2.

    Für mein Empfinden ziemlich gruselig.
    Ist der Nutzen höher zu bewerten als das "Überwachung + Datensammlung" von Schülern?
    Wo bleiben dann die Daten? Sind diese "lebenslang" gespeichert? Wer hat Zugang?
    Fragen über Fragen

  14. 1.

    Das riecht alles sehr nach VR China.
    Alle nur erfassbaren Daten über eine Person werden zusammengeführt und bilden die Grundlage einer allumfassenden Bewertung dieser Person. Das Verfahren lässt sich auf alle möglichen Felder ausweiten.
    Jemand hat Bonität aber eines ausgeprägten Hang, das Belohnungssystem mit Drogen zu besänftigen…Jemand wird mit größt berechenbarer Wahrscheinlichkeit eine Psychose erleiden…Jemand wird Karzinome entwickeln…
    Ich halte KI für eine gute Sache. Sie wird allerdings komplett falsch angewendet werden und überdies in die falschen Hände geraten und vor allem nicht richtig verstanden.
    Reden wir besser von einer allumfassenden Datenbank mit Echtzeitaktualisierung.

Nächster Artikel