Meinung | Das schwarz-rote Jahr 2023 in Berlin - Regierender Raucher auf dem Rathausbalkon

Sa 30.12.23 | 13:47 Uhr | Von Thorsten Gabriel
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Regierender Bürgermeister Berlins Kai Wegner steht auf dem Balkon des Roten Rathauses
Video: rbb24 Abendschau | 28.12.2023 | Tobias Schmutzler | Bild: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Das landespolitische Jahr in Berlin war geprägt von kurzem Wahlkampf, straffen Koalitionsverhandlungen und einem neuen CDU-geführten Senat. Vor allem die Performance des neuen Regierenden Bürgermeisters überraschte dabei, bilanziert Thorsten Gabriel.

Als ich Kai Wegner im Mai, kurz nach seinem Amtsantritt begegnete, erlebte ich ihn als kleinen Jungen, der selbst noch nicht so recht zu glauben schien, dass er es tatsächlich geschafft hatte: Bürgermeister - ich? Wie krass ist das denn?! Auch wenn damals das Jahresende noch nicht in Sicht war, kam mir unwillkürlich Hugh Grants legendäre Tanzeinlage aus dem Weihnachtsklassiker "Tatsächlich … Liebe" in den Sinn: Als frisch gewählter britischer Premierminister tanzt Grant zu den Pointer Sisters ("Jump! Jump for my Love!") [youtube.com] durch Downing Street Nr. 10.

Ob Kai Wegner wohl auch …? Großes Kopfkino! Im abendlich verlassenen Roten Rathaus legt der frisch gebackene Regierungschef eine flotte Solo-Sohle aufs historische Parkett und fegt quer durch Fest-, Wappen- und Säulensaal. Wer Wegner den Grantschen Hüftschwung nicht zutraut, kann sich übrigens im Netz anschauen [twitter.com], wozu der Mann fähig ist: Man nehme drei Regierungschefs (Daniel Günther, Schleswig-Holstein, Hendrik Wüst, NRW, und eben Wegner), einen Ballermann-Hit und ab geht die Party.

Wegner zeigt sich im Regiermodus als Teamspieler

Aber auch jetzt, acht Monate nach Amtsantritt, gibt sich der CDU-Politiker noch immer begeistert wie am ersten Tag - und energiegeladen wie das Duracell-Häschen. Fast schon ein bisschen unheimlich, denn diese acht Monate waren für Wegner kein Spaziergang durch das landespolitische Berlin. Dass er Bürgermeister "kann", hatten ihm angesichts mangelnder Verwaltungserfahrung vorher nur wenige zugetraut. Jetzt stellen es nicht mal seine politischen Gegner in Frage. Wegner kann führen und zeigt sich im Regiermodus als Teamspieler über Partei- und sogar Regierungsgrenzen hinweg.

Ja, das ist ganz schön viel Lobhudelei am Jahresende. Natürlich könnte man auch mahnend-kritische Worte loswerden, etwa zur mindestens kommunikativ verunglückten Radverkehrspolitik, zu den weiterhin rar gesäten freien Terminen auf den Bürgerämtern, zu dem Desaster um die elektronische Akte und vor allem natürlich zur riskanten Haushaltspolitik. Aber zum Gesamtbild gehört auch, festzustellen, dass diese Regierung "funktioniert" - was keine Selbstverständlichkeit ist, wie der Blick auf die Ampelkoalition im Bund zeigt.

Loyalität der SPD gegenüber der CDU ist nicht selbstverständlich

Dass es im Senat erstaunlich rund läuft, hat - auch, aber nicht nur - mit Wegners Führungsqualitäten zu tun. Ihm ist anzurechnen, dass er sich als Person nie in den Vordergrund drängt und vor allem der Koalitionspartnerin SPD Luft zum Atmen lässt. Die Stadt erlebt keine Kai-Wegner-Festspiele, im Gegenteil.

Die SPD wiederum geht nach der verlorenen Wahl weitgehend souverän mit ihrer Rolle als Nummer zwei in der Regierung um. Dies überrascht bei einer Partei, die mehr als zwei Jahrzehnte die Nummer eins im Roten Rathaus war ­- und deren Parteispitze es nun mit einer Parteibasis zu tun hat, die in großen Teilen das Bündnis mit der CDU skeptisch bis kritisch sieht oder es sogar ablehnt. Sich da loyal zu zeigen, zeugt durchaus von Haltung und Größe.

Abgeordnetenhaus hat Klimawandel erlebt

CDU und SPD haben sich pragmatisches Regieren auf die Fahnen geschrieben. Gezankt wird hinter den Kulissen und nicht auf offener Bühne. Unterschiedliche Ansichten werden zwar vereinzelt benannt (etwa bei der Unterbringung von Geflüchteten am Tempelhofer Feld), aber Konflikte nicht vor Publikum ausgetragen. Es sind Umgangsformen, die die SPD mit Grünen und Linken in den letzten gemeinsamen Regierungsjahren nicht mehr hinbekam. Was bei drei statt zwei Koalitionspartnerinnen aber auch wenig verwundert.

Aber nicht nur in der Regierung, auch im Parlament hat sich in diesen Monaten mit schwarz-roter Mehrheit etwas verändert. Das Berliner Abgeordnetenhaus hat einen Klimawandel erlebt. War es in früheren Jahren oft noch so, dass sich die CDU als Oppositionsfraktion in teils populistischem Gepolter gegen SPD, Grüne und Linke erging, ist die Atmosphäre im Parlament nun sachlicher.

Brandmauer gegen AfD steht

Einzig die AfD schert da aus, ist im Parlament aber isoliert. Seit Monaten fallen ihre Kandidaten bei immer neuen Wahlanläufen durch, wenn es um die Postenbesetzung in Gremien geht. Was von rechter Seite kommt, lassen CDU, SPD, Grüne und Linke vereint abtropfen. Die viel beschworene Brandmauer steht im Landesparlament. Zuweilen kommt dies auch in gemeinsamen Presseerklärungen aller vier Fraktionen - etwa zum Kampf gegen Antisemitismus - zum Ausdruck.

Warum all das erwähnenswert ist? Weil diese neue Souveränität auf Regierungsseite und im Parlament der Demokratie guttut: In der Sache streiten, aber wenn es darauf ankommt, zusammenstehen, über Parteigrenzen hinweg. Das sorgt für Stabilität.

Verwaltungsreform als Gradmesser für Wegners Qualitäten

Zu den bemerkenswertesten Pressekonferenzen des Jahres 2023 im landespolitischen Berlin zählt in dieser Hinsicht sicher jene vom 30. September. Nach einer siebenstündigen Klausur der Bezirksbürgermeister:innen mit Wegner zur Verwaltungsreform - diesmal soll es der ganz große Wurf werden - wird der Regierende von allen Seiten mit Lob überschüttet, namentlich auch von der grünen Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann aus Friedrichshain-Kreuzberg. Sowas ist selten.

Doch gerade die Verwaltungsreform wird auch zum Gradmesser werden, wie viel Wegners Brückenbauer-Qualitäten am Ende wirklich taugen. Denn ob Senat und Bezirken tatsächlich etwas Großes gelingt, kann nach den Haushaltsberatungen wieder bezweifelt werden. Am Ende nämlich geht es dann doch wieder nur ums Geld und die Frage, wie es verteilt wird - der übliche Eiertanz auf dem politischen Parkett, weitab von den Hüftschwungqualitäten eines Hugh Grant.

Deshalb passt das Bild des tanzenden Premierministers wohl doch nicht so ganz zu Wegner. Treffender ist da schon eher eines, das er selbst ungewollt kreiert hat, nicht wissend, dass er in dieser Pose gefilmt wird: Am Ende der rbb-Reportage "Plötzlich Bürgermeister!" steht er im offenen Hemd auf dem Balkon des Roten Rathauses, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen das Handy. Dem Wegner, der dort raucht, steht die Begeisterung nicht mehr ins Gesicht geschrieben. Eher die Erkenntnis, dass das größte Stück Arbeit noch vor ihm liegt. Und dass auch ein Regierender im Duracell-Häschen-Modus mal eine Atempause braucht.

Sendung: rbb24 Abendschau, 28.12.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Thorsten Gabriel

38 Kommentare

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  1. 38.

    MoritzineBrandenburg Land Samstag, 30.12.2023 | 20:11 Uhr
    "Antwort auf [TEICHERT ] vom 30.12.2023 um 15:15
    "Was wollen Sie? Autokratie? Oder schärfer…Diktatur?" Fragen Sie lieber nicht, die Antwort (hat er schon zig-Mal kundgetan) dürfte Ihnen nicht gefallen.
    Denn Sie wissen nicht ...: "..zeigen,das wir ... dieses nicht Demokratische Verhalten länger dulden."

  2. 37.

    Gegenüber RGR regieren CDU/SPD angenehm gesittet ruhig und mindestens nicht schlechter.

    Im Vergleich daher besser.

  3. 36.

    CDU gewählt und trotzdem links grüne Politik bekommen. Quasi Rot-Weinrot bekommen.

  4. 35.

    Nicht-Demokratisch? Dann dürften Sie solche Äußerungen nicht machen! Dass die Ampel nicht das Gelbe vom Ei ist….dies ist mitzugehen. Aber dass Sie Deutschland als Nicht- Demokratisch bezeichnen, ist schon bezeichnend. Was wollen Sie? Autokratie? Oder schärfer…Diktatur? Dann mal hin zur rechten Partei. Hatten wir vor knapp 100 Jahren schon mal, die Geschichte sollte Ihnen bekannt sein! Ich bin auch nicht zufrieden mit der momentanen Situation, aber weit ab davon, rechts gutzuheißen.

  5. 34.

    Es muss doch möglich sein, „jemandem“ etwas Zeit zu geben, Änderungen anzugehen. Und bei der deutschen Bürokratie, die Herr Wegner nicht ! zu verantworten hat, sollte auch hier mal etwas Langmut angesagt sein. Ich finde es auf alle Fälle sehr angenehm, dass nicht alles in den Medien breit getreten wird, wie es bei RRG war. Aber sich deswegen von der Demokratie abzuwenden, was Sie in Ihrem letzten Satz tun……es geht uns wohl noch zu gut, um die Vorzüge der Demokratie zu schätzen!

  6. 33.

    ... zumindest wir Schulen stehen gut da, diesbezüglich muss ich Ihnen widersprechen, einzig Neubauprojekte müssen vehement vorangetrieben werden. Ihre übrigen Aussagen mag ich nicht beurteilen. Gruß, ein Berliner Schulleiter.

  7. 32.

    Nur wo sind denn die Reformen oder Verbesserungen. Verwaltungsreform, sehe ich nicht. Verbesserungen der Bezahlung der Beschäftigten, sehe ich nicht. Im Gegenteil. Während das AGH zum 01.01. eine Erhöhung der Diäten bekommt, erhalten die eigenen Beschäftigten bis Ende Oktober 2024 eine Nullrunde. gnädigerweise aber den Inflationsausgleich. Wo gibt es eine Verbesserung der Infrastruktur, Wohnungs- und Verkehrswegebau. 100 Tage sind vorbei und auf dem Weg ist wenig, bis nichts.

  8. 31.

    Das Einzige, was mich positiv überrascht hat, war die Tatsache, wie weit nach links Wegner nach der Wahl gerückt ist.
    Ich will ihn trotzdem nicht und er wird bei der nächsten Wahl wieder weg sein. Giffey kann er gleich mitnehmen.

  9. 30.

    Der Satz des Tages: Der Klimawandel ist sachlicher geworden und bringt eine gute sprachliche Atmosphäre.

  10. 29.

    Das kann ich zu 100% unterschreiben und Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Wir sollten schon noch ein bisschen Geduld bewahren.

  11. 25.

    Sie verstehen überhaupt nicht, was mit den hergebrachten konservativen Werten gemeint ist, für die bisher in der BRD die CDU und CSU standen. Sie scheinen sich aber schon darauf zu freuen, daß sich diese Wähler Alternativen weiter rechts zuwenden werden - das finde ich unverständlich, wie man wollen kann.

  12. 24.

    Es wird Zeit der Arroganz der jetzt regierenden Parteien zu zeigen,das wir das Volk dieses nicht Demokratische Verhalten länger dulden.

  13. 23.

    Das die Brandmauer nach Rechts steht ist gut, nur nach Links ist sie eingerissen und das ist nicht gut liebe CDU

  14. 22.

    Wie andere schon antworteten sind dafür die Vorgänger verantwortlich! Die Linke (Bausenat)und ihre Bürgerinitiativen haben 7 Jahre den Wohnungsbau bekämpft und bei 0 Zinsen zu wenig gebaut. Heute machen die Zinsen bei Neubau mindestens 12€/qm der Kaltmiete aus! Als die Roten regiert und bestimmt haben wären es nur 4€/qm und weniger gewesen!
    Was soll denn in 8 Monaten geschehen? Das schafft man nur Bestandsaufnahme, Neuorientieren und Umsteuern, dann kann erst das Boot Fahrt aufnehmen.

  15. 21.

    Was wollten denn „Ihre“ konservativen Wähler für Berlin? Kreuzberg und Neukölln einmauern?
    Oder noch mehr Autos? Ich fahre Auto in Berlin viel mehr als früher und wünsche mir weniger Autos, damit ich mehr Platz habe. Daher fordere ich Parkzonen für min. 20€/Monat, eine Automaut für alle Fahrten in den S-Bahn Ring, eine Sonder-KfZ Steuer für alle PKW die länger als 4,50m sind!

  16. 20.

    Wie bitte? Dieser Senat regiert erst 8 Monate. Und es ist eine Koalition. Da geht kein alles oder nichts!

  17. 19.

    Danke Herr Wegner bis jetzt schon gut gestartet darf es 2024 noch ein bisschen mehr sein den alten Mief von RRG aus dem Rathaus zu fegen und in Berlin alles wieder auf solide Füße u stellen.. Und die guten Vorsätze dürfen auch gern das Rauchen aufzugeben beinhalten... Ist ganz einfach eigene Erfahrung für alles viel Erfolg in 2024.

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