Interview | Hungerstreik im Invalidenpark - "Ein gewisses Heldentum mag da eine Rolle spielen"
Mit der Forderung nach einer neuen Klimapolitik hungern sich Menschen im Berliner Invalidenpark in Lebensgefahr. Warum tun sie das? Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Dieter Rucht über extreme Protestformen.
rbb: Herr Rucht, ein Teilnehmer des Hungerstreiks im Invalidenpark musste ins Krankenhaus, ist versorgt worden - und ist jetzt wieder zurück in seinem Camp und hungert weiter. Wie beurteilen Sie das?
Dieter Rucht: Es sieht ganz danach aus, als sei er zum Äußersten entschlossen. Da können auch noch welche dazukommen. Und wir sprechen darüber. Das heißt, es ist auch ein öffentliches Thema.
Das ist ja im Grunde auch sein Ziel. Und das der anderen Streikenden. Was glauben Sie, wie er sich fühlt? Fühlt er sich als Märtyrer? Ist er zufrieden, dass es Medienöffentlichkeit gibt? Hat er Angst?
Ich glaube von all dem, was Sie jetzt aufgezählt haben, ein Stück weit. Aber besser fragen sie ihn direkt. Ich weiß nicht, ob er Auskunft gibt auf solche Fragen. Aber ich glaube all das, was sie eben in Stichworten andeuteten, dass das auch zutrifft.
Ich habe schon mal mit jemandem, der im Hungerstreik war, vor der Wahl geredet und habe gefragt: Du gibst dein Leben doch in andere Hände, entweder du hörst auf zu hungern, dann verlierst du dein Gesicht, oder du verlierst dein Leben. Und der hatte wirklich das Gefühl, dass die Last der Welt auf seinen Schultern lastet. Müssen wir das glauben, damit wir so etwas tun können?
Die Motivlage ist immer schwer zu entwirren. Da mag auch ein gewisses Heldentum, also ein Alleinstellungsmerkmal, das man haben möchte, eine Rolle spielen. Man wird dann bekannt, der Name für wird überall berichtet. Man kommt in den Medien vor, aber ich will das nicht zu stark psychologisieren. Es ist eine Möglichkeit, ein Motiv, dass solche Leute auch antreibt. Man fühlt sich dann vielleicht auch einen Teil einer Avantgarde, die die Wahrheiten ausspricht oder vielleicht sogar gepachtet hat, wenn ich es jetzt kritisch formulieren würde.
Aber dann kommen auch sicher ehrenwerte Motive dazu. Das heißt, die Leute sehen die Dramatik des Umweltschutzes, des Klimaschutzes. Sie glauben, dass die Mehrheit - und da haben sie wohl recht - davon noch zu wenig berührt wird. Sie glauben, dass die Politik zu langsam ist, zu zögerlich, zu wenig tut. Und aus diesem Syndrom von mehreren Motiven heraus entsteht dann die Stärke dieser Aktion, die ja bis zum Äußersten gehen kann.
Ist das aus Sicht eines Protestforschers sinnvoller Protest?
Auch da tue ich mich mit einer Antwort schwer, denn wir können das am Ende erst hinterher beurteilen: Hat es was gebracht, oder hat es nichts gebracht? Generell würde ich aber jetzt mit Blick auf die konkreten Fälle von diesen Tagen sagen, da gibt es ein Missverhältnis zwischen der Forderung und der Dramatik, der Drastik dieser Aktion.
Die Forderung besteht im Kern darin, ein Statement, eine Art Regierungserklärung von Kanzler Scholz zu bekommen. Das ist ja etwas, was erstmal eine rein verbale Angelegenheit ist. Also gibt es eine Diskrepanz zwischen dieser doch moderaten und zurückhaltenden Forderung und der Aktion, die ja ein Leben kosten kann oder mehrere Leben kosten kann.
Und das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie damit: 'Mensch, Kanzler, das ist doch jetzt nicht zu viel verlangt, mach mal!'
Wenn der Bundeskanzler einfach sagen würde: 'Okay, ich gebe die Erklärung ab, das kostet mich nicht viel', dann würde er dann natürlich auch in der Folge noch mal daran gemessen werden - inwieweit er auch bereit ist, etwas umzusetzen und auch innerhalb der Regierung Druck zu entfalten.
Aber Scholz würde zumindest hypothetisch auch daran gemessen, ob er bei den nächsten Hungerstreikenden dasselbe Spiel mitmachen wird. Und die nächsten Hungerstreikenden mögen ja für ganz andere Anliegen eintreten, die politisch hochproblematisch sind. Dann wäre die Frage, ob er sich dann wieder zu einer Entscheidung drängen lässt, die eigentlich nicht seine genuine Entscheidung ist.
Wenn ich der Bundeskanzler wäre, würde ich sagen: 'Ich verstehe dich. Ich bedauere das.' Vielleicht würde ich psychologische Betreuung dorthin schicken. Aber ich würde mich nicht diesem Druck beugen. Dann kommt nächstes Mal jemand anderes, und ich bin ständig Marionette. Also hat der Kanzler recht, das nicht zu tun?
Im Prinzip ja. Aber es gebe dennoch die Möglichkeit eines Entgegenkommens unter Ausschluss der Öffentlichkeit und sich mit diesem Hungerstreikenden zu treffen. Er könnte im Gespräch noch mal eruieren, was sie genau wollen und auch die Gründe deutlich machen, die ihn zurückhalten, diese verlangte öffentliche Erklärung abzugeben.
Meinen Sie, das hätte einen Effekt?
Also zumindest würde es erst mal die Situation auf beiden Seiten entspannen, weil man sich dann jeweils in den anderen stärker hineinversetzen kann. Das heißt noch nicht, dass man gemeinsam zu einer Lösung kommt. Aber das heißt zunächst mal, dass man die andere Seite überhaupt sieht und anerkennt in mit ihren Begründungen. Die muss man nicht akzeptieren, aber es sollte sie erst einmal genau kennenlernen.
Jetzt gibt es Leute, die sagen 'Nein, das würde bedeuten, der Erpressung nachzugeben'.
Ich würde nicht von Erpressung sprechen, denn der Vorgang der Erpressung setzt eigentlich voraus, dass die Erpresser den Erpressten in der Hand hat, weil dieser selbst einen hohen persönlichen Schaden hat, wenn er nicht auf die Forderungen eingeht. Diese Dramatik der Situation ist jetzt bezogen auf Scholz nicht gegeben. Er kann einen politischen, kleineren oder mittleren Reputationsverlust bezogen auf diese Sache erleiden. Aber es ist nicht so, dass er komplett erpressbar wäre und dieser Forderung nachgeben müsste.
Ich habe schon gesagt, wenn ich der Kanzler wäre, würde ich versuchen, mit diesen Menschen psychologisch zu reden. Meine These ist, dass sie glauben, das Wohl der Welt laste auf ihnen. Könnte so etwas klappen?
Auch schwierig zu sagen. Das setzt erstmal das Einverständnis der Angesprochenen voraus, dass die das überhaupt wollen. Zum Zweiten steckt da möglicherweise auch ein gewisser Paternalismus drin, zu sagen, das sind hilfsbedürftige Menschen, die brauchen einen ärztlichen oder psychologischen Rat. Das könnte sein, dass die das auch aus diesem Grunde gar nicht wollen und sagen: 'Ich brauche keine Fürsprache, braucht keine Beratung. Ich weiß exakt, was ich tue und warum ich das tue.'
Aber sie nehmen natürlich auch medizinische Hilfe und eine ganze Menge Organisationen und Hilfe rundherum in Anspruch.
Richtig. Insoweit wäre es konsequent, wenn sie sich so einem Gespräch mit einem Psychologen und eine Psychologin nicht verweigern würden. Auch das kostet sie eigentlich wenig, dieses Gespräch zu führen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Ingo Hoppe für rbb 88,8.
Sendung: rbb 88,8, 03.06.2024, 18:00 Uhr