Analyse | Herthas Unentschieden gegen Mainz - Unterirdisch gut
Beim 1:1 gegen Mainz 05 zeigt Hertha BSC eine zugleich ansprechende wie erschreckende Leistung. Denn während die Statistiken Alarm schlagen, zeigt sich vor allem die Abwehr gefestigt. Da kapituliert sogar die künstliche Intelligenz. Von Ilja Behnisch
Wer immer der Meinung ist, Fußball sei ein simpler Sport, hat sich noch nicht eingehend genug mit Hertha BSC beschäftigt. Ins Freundliche gewendet, könnte man auch sagen: Sollte ein zur Hyperaktivität neigender Mensch ein neues Hobby suchen, das Berliner Olympiastadion wäre ein guter Ort dafür. Denn es gibt viel zu tun, zu beachten und zu bedenken für die Anhänger der Alten Dame. Eingeweihte wissen, das ist gute alte Tradition im Berliner Westend. Schaulustige Newcomer dürften an diesem 24. Spieltag der Fußball-Bundesliga jedoch nicht schlecht gestaunt haben beim 1:1 (1:0) gegen Mainz 05.
Die Ambivalenz rund um den Videobeweis
Da war der kurz vor Anpfiff offiziell gewordene Einstieg des neuen Investors "777", den die Fans in der Ostkurve unter anderem mit einem "Kontrollverlust fürs schnelle Geld. 50+1 nur noch auf dem Papier?!"-Banner kommentierten. Und das, obwohl ohne "777"-Einstieg ernsthaft die Lizenz des Vereins zur Disposition gestanden hätte. Da war die Freude über das 1:0 durch Jessic Ngankam (18., Elfmeter) und der Gram über den Ausgleich durch Ludovic Ajorque (57.). Da war die Ambivalenz, sich zwar über den Führungstreffer für die eigene Mannschaft freuen zu wollen, zugleich aber gegen den Videobeweis (Video Assist Referee, kurz: VAR) wettern zu müssen, der den Handelfmeter erst ermöglichte.
Herthas Fanszene lehnt den VAR im Grundsatz schließlich mehrheitlich ab. Weshalb Ngankam bei der Ausführung seines Strafstoßes nicht nur auf den Ball sowie den Mainzer Torhüter Robin Zentner freien Blick hatte, sondern zudem auf ein direkt in sein Sichtfeld gehaltenes Plakat mit der Aufschrift "Video Assist abschaffen". Und wer mit dieser Fülle an Mikromanagement-Aufgaben noch nicht ausgelastet war, durfte sich an diesem sonnigen Berliner Nachmittag auch noch auf die Makro-Ebene begeben und sich Fragen aussetzen wie: Wieso hat Hertha schon wieder nicht gegen Mainz gewinnen können? Zum achten Mal in Folge? Oder: Warum tun wir uns das an?
Ngankam: "Es war ein Drecksspiel"
Vielleicht hilft die künstliche Intelligenz ja weiter. Also, ChatGP: Warum hat Hertha nicht gegen Mainz gewonnen? Antwort ChatGP: "Bitte wenden Sie sich an eine zuverlässige Nachrichtenquelle oder an einen Sportexperten." Bevor man zu solch drastischen Mitteln greift, bemüht man doch lieber erst einmal das kleine Geschwister der künstlichen Intelligenz, die Statistik. Die weiß wenig Gutes über das Spiel zwischen Hertha und Mainz zu sagen, eher sogar Alarmierendes. So brachten die Berliner über die gesamte Spieldauer lediglich 55 Prozent ihrer insgesamt auch nur 260 Passversuche zu einem Mitspieler (Mainz: 68 Prozent). Zur Einordnung: Herthas Saisondurchschnitt liegt bei 76 Prozent (Platz 14 in der Bundesliga).
Nun liegt der Fokus von Hertha-Trainer Sandro Schwarz nicht auf Ballbesitz-Fußball im Stile des FC Barcelona. Eher sollte im mittlerweile gewohnten 3-5-2 über die Außen und somit über Flanken Torgefahr erzeugt werden. Dafür sprach auch, dass Schwarz wie schon beim letzten Heimerfolg gegen Augsburg (2:0) und im Gegensatz zur 1:4-Klatsche in Leverkusen zunächst auf den physisch starken Ngankam im Sturmzentrum setzte anstatt auf den eher filigranen Dodi Lukebakio. Allerdings kamen von den insgesamt gerade einmal 13 Hertha-Flanken des Spiels klägliche acht Prozent (in Worten: hui) zum eigenen Mitspieler (Mainz: 25 Prozent). Oder um es mit den Worten von Torschütze Ngankam zu sagen: "Es war ein Drecksspiel."
Herthas bärenstarke erste Halbzeit
Trotzdem sah Hertha lange Zeit wie der logische Sieger dieser Partie aus. Trotzdem wirkte Herthas Leistung vor allem in der ersten Halbzeit tatsächlich ansprechend. Ein Eindruck, der angesichts der frühen Führung vor allem der starken Defensiv-Leistung der Mannschaft geschuldet war. Die Berliner hielten und fanden auch nach den (häufigen) Ballverlusten schnell und konsequent die Ordnung. Die Spieler halfen sich gegenseitig, auch beim Versuch, den Mainzer Spielaufbau weit in deren Hälfte zuzustellen. So leitete Hertha die Pass-Bemühungen der Rheinland-Pfälzer immer wieder auf die Außenbahnen, um dort mit Überzahl in aussichtsreiche Pressingsituationen zu kommen. Mit Erfolg.
Mainz erspielte sich in der ersten Halbzeit einen Expected-Goals-Wert von 0,02, was in ungefähr der Gefahr entspricht, die Frank Zander auf die Heavy-Metal-Szene ausübt. Auch, weil der Mannschaft von Trainer Bo Svensson gegen die aufmerksame Hertha-Abwehr letztlich nur lange Bälle auf Stoßstürmer und Schlaks Ajorque übrig blieben, der in den Laufduellen gegen Herthas Innenverteidiger so glücklich wirkte wie ein Veganer in der Schlange von Curry36.
Herthas Remis als Muntermacher
Dass das Spiel dennoch unentschieden endete und kurzzeitig sogar gänzlich zu kippen drohte, lag an eben jenem Ajorque, als dieser einmal nicht mit Steilpass, sondern per Flanke gefüttert wurde. Mit einer schwer bis gar nicht zu verteidigenden Einzelaktion besorgte der Franzose somit den Ausgleich für eine Mannschaft, die bis dahin offensiv quasi nicht vorhanden war.
Der in den Mainzer Jubel hinein getätigte Dreierwechsel von Trainer Svensson tat sein Übriges. Hertha schien das Zutrauen in den eigenen Plan verloren zu haben. Mindestens ebenso sehr, wie das personell aufgefrischte Mainz nun an seinen glaubte. Es darf also als Berliner Mutmacher gelten, dass die Begegnung nicht noch mit einem Auswärtssieg endete. Auch wenn die Hertha nach einer Ecke durch Marc Oliver Kempf noch die Latte malträtierte. Doch das wäre ja auch noch Schöner gewesen, hätten die Gastgeber diese Partie mit ihrem ersten Saisontor nach Ecke für sich entschieden. Die Berliner Anhänger haben schließlich schon genug zu tun.
Sendung: rbb24, 11.03.2023, 21:45 Uhr