Transferfazit - Herthas Umbruch unter Sparzwang endet doch noch hoffnungsvoll
Hinter Hertha BSC liegt die wohl herausforderndste Transferperiode der Vereinsgeschichte. Trotz des großen Sparzwangs ist es Sportdirektor Benjamin Weber aber gelungen, einen ausgewogenen Kader für die zweite Liga zusammenzustellen. Von Lukas Witte
Das Handy von Benjamin Weber dürfte in diesem Sommer wohl kaum eine Minute still gewesen sein. Rekordverdächtige zwölf Zugänge und vor allem 21 Abgänge hat der Sportdirektor von Hertha BSC in der abgelaufenen Transferperiode über die Bühne gebracht. Der Hauptstadtklub hat nach dem Abstieg aus der Fußball-Bundesliga einen Umbruch durchgemacht. Und das unter schwierigsten finanziellen Voraussetzungen.
Denn Hertha stand diesen Sommer nicht nur vor der Herausforderung einen soliden und konkurrenzfähigen Kader für die zweite Liga zusammenzustellen, sondern musste all das auch noch unter massivem Spardruck tun. Den Verantwortlichen wurde ein maroder Verein hinterlassen, der nur haarscharf überhaupt eine Lizenz für die aktuelle Saison bekommen hatte. "Wir können nicht großartig Geld ausgeben. Das ist nicht unsere Schuld. Wir sind gerade dabei, den Verein zu retten", hatte Trainer Pal Dardai vor einigen Tagen noch erklärt.
Top-Verdiener mussten um jeden Preis gehen
Eine der obersten Prioritäten war deshalb, einige der Gutverdiener schnellstmöglich von der Gehaltsliste zu streichen. Doch natürlich wussten auch die anderen Teams um die prekäre Situation der Hertha und nutzten diese zu ihren Gunsten. Die Konsequenz: Einige der Spieler musste der Sportdirektor unter Marktwert ziehen lassen.
So wechselte zum Beispiel der Franzose Lucas Tousart für nur knapp drei Millionen Euro zu Stadtrivale Union Berlin. Stürmer Krzysztof Piatek, der im Sommer 2020 noch für 25 Millionen gekauft worden war, verließ den Klub laut Medienberichten sogar ablösefrei. Auch für Torwart Alexander Schwolow und Verteidiger Filip Uremovic hat Hertha keine Ablöse erhalten.
Trotz der Umstände ist es Weber am Ende gelungen, ein beachtliches Transferplus von rund 25 Millionen Euro zu erzielen und die meisten Top-Verdiener von der Gehaltsliste zu streichen. Dem klammen Geldbeutel tat dabei neben dem Verkauf von Leistungsträger Dodi Lukeabkio (für 10 Millionen Euro nach Sevilla) auch der Abgang des jungen Torhüters Oliver Christensen gut, der für eine überraschend hohe Summe von viereinhalb Millionen nach Florenz wechselte.
Königstransfer platzte
Doch auch im Einkauf zeigte sich Herthas schwierige Verhandlungsposition. Eigentlich sollte Mittelfeldmann Diego Demme so etwas wie Herthas Königstransfer für die Zweitligasaison werden und war über Wochen Gesprächsthema Nummer eins, wenn es um mögliche Zugänge der Berliner ging. Und obwohl der einmalige Nationalspieler in der abgelaufenen Saison nur insgesamt 142 Minuten für den SSC Neapel auf dem Rasen stand, schien es unmöglich, sich mit dem italienischen Meister auf eine passende Ablösesumme zu einigen. Nach dem schwachen Saisonstart der alten Dame hatte Demme laut Medienberichten dann selbst keine Lust mehr auf einen Wechsel in die Hauptstadt und erteilte Hertha eine Absage.
Bitter für die Berliner, denn gerade im Mittelfeld wies der Kader bis kurz vor Ende des Transferfenster noch erhebliche Lücken auf. Nach der Leihe von Suat Serdar an Verona und den Abgängen von Lucas Tousart, Tolga Cigerci und Santiago Ascacibar blieb plötzlich kein Spieler mehr fürs Zentrum übrig. Die gelernten Innenverteidiger Pascal Klemens und Marton Dardai mussten zuletzt auf der Sechser-Position ran - und offenbarten dabei einige Schwächen.
Zwei Neue für das Mittelfeld
Diese Lücke hat Weber einen Tag vor der Transfer-Deadline noch rechtzeitig schließen können. Der Grieche Andreas Bouchalakis kam von Olympiakos Piräus und soll künftig mit seiner Erfahrung und kräftigen Statur das Zentrum verstärken und Ruhe ins Spiel bringen.
Für Kreativität, Tempo und Technik soll hingegen Bilal Hussein sorgen. "Mit Bilal habe ich eher einen Achter als einen Sechser. Er ist technisch sehr gut, hat einen guten rechten Fuß, ist sehr beweglich, hat keine Angst vor dem Ball und kann das Spiel bestimmen", lobte Trainer Dardai den 23-Jährigen, der von AIK Solna aus der ersten schwedischen Liga kam.
Wie hoch die mitgebrachte Qualität der beiden tatsächlich ist, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen. Bereits am Samstag gegen Magdeburg könnten sie aber erstmals im Kader stehen.
Im Angriff haben einige Neuzugänge bereits unter Beweis gestellt, dass sie in Berlin funktionieren könnten. Vorneweg Strafraum-Stürmer Haris Tabakovic, der Hertha am vergangenen Wochenende mit einem Doppelpack zum so wichtigen ersten Saisonsieg gegen Fürth schoss. Auch der erfahrene Zweitligaspieler Fabian Reese sorgt auf dem Flügel immer wieder für Gefahr, schwächelte bislang aber noch ein wenig beim letzten Pass und Abschluss.
Vielseitigkeit als neue Spielidee
Eine wirkliche neue Stärke, die Sportdirektor Weber über den Sommer in den Kader geholt hat, ist die Polyvalenz. Viele der Neuzugänge sind vielseitig auf verschiedenen Positionen einsetzbar und sorgen so für eine gewisse Unberechenbarkeit. So zum Beispiel Herthas teuerster Einkauf der Transferperiode, Michal Karbownik. Der Pole kam als einziger für eine siebenstellige Ablösesumme, hat aber auch einiges zu bieten. Er ist variabel auf beiden Außenverteidigerpositionen, aber auch in verschiedenen Rollen im Mittelfeld einsetzbar. Auch Spieler wie Jeremy Dudziak und Palko Dardai können verschiedene Positionen besetzen.
So lässt sich auch der Abgang von Kapitän Marco Richter nach Mainz wohl ausgleichen, zumal der bei Hertha auf der Zehn zuletzt überhaupt nicht mehr funktionierte. Apropos Kapitän: Die Verpflichtung von Toni Leistner dürfte mittlerweile wohl bereits als voller Erfolg einzubuchen sein. Nach anfänglichen Bedenken und Anfeindungen der Fans, aufgrund der Vergangenheit des 33-Jährigen beim Stadtrivalen aus Köpenick, stabilisiert Leistner mittlerweile die Innenverteidigung und erkämpfte sich die Anerkennung der Anhänger - und die Kapitänsbinde.
Zweitteuerster Kader der Liga
Durch die Mischung aus Vielseitigkeit, Erfahrung und zudem eines erheblichen Anteils an eigener Jugend wirkt Herthas Kader erst einmal ausgewogen. Ob das ausreicht, um in der 2. Bundesliga oben anzugreifen, bleibt abzuwarten. Und trotzdem kann Sportdirektor Weber erst einmal mit seiner Arbeit zufrieden sein.
Trotz der schwierigen Voraussetzungen hat er es geschafft, einen ordentlichen Kader zusammenzustellen, der mit einem Gesamtwert von 41 Millionen Euro [transfermarkt.de] immer noch der zweitwertvollste der Liga ist. "Ich bin dankbar, dass Hertha BSC und die Verantwortlichen Wort gehalten und hart gearbeitet haben. (…) Was wir alles ausgetauscht haben und wie das jetzt aussieht, darüber bin ich sehr glücklich", sagte auch Trainer Dardai kurz vor dem Ende des Transferfensters.
Sendung: rbb24, 01.09.2023, 19 Uhr