Transferfazit - Der 1. FC Union geht mit neuen Ambitionen ins Risiko
Der 1. FC Union hat es auch in diesem Sommer geschafft, seinen Kader weiter zu verstärken. Alle Stammspieler sind geblieben. Mit Robin Gosens und Leonardo Bonucci kamen große Namen. Ohne Risiko ist das nicht - wie besonders ein Wert zeigt. Von Till Oppermann
Verhandlungen mit Oliver Ruhnert machen keinen Spaß. In der Fußball-Bundesliga ist das schon lange kein Geheimnis mehr. Spätestens seit der abgelaufenen Transferphase weiß man das nun auch in ganz Europa. Mit den Leihspielern Alex Kral, David Datro Fofana und Brenden Aaronson, Mikkel Kaufmann oder Kevin Volland und natürlich Europameister Leonardo Bonucci sowie Rekordtransfer Robin Gosens verpflichtete der Geschäftsführer Profifußball des 1. FC Union die meisten Neuzugänge aus dem Ausland.
Gosens bisherigen Verein Inter Mailand handelte Ruhnert von der anfänglichen Forderung nach mehr als 20 Millionen Euro auf elf Millionen mit möglichen Bonuszahlungen herunter. Ein Schnäppchen, das sich mit zwei Toren im ersten Startelfeinsatz bereits bezahlbar machte.
Überzeugungskraft drückt Preise
Zu Ruhnerts Strategie gehört es dabei, die gewünschten Spieler so felsenfest von einem Wechsel nach Berlin zu überzeugen, dass den abgebenden Vereinen schließlich nichts anderes mehr übrig bleibt, als an Union zu verkaufen. Das drückt die Preise, schließlich nehmen die meisten Vereine lieber die fixen Millionen als leer auszugehen und dafür dauerhaft einen unzufriedenen Spieler auf dem Trainingsgelände zu haben.
Inter wollte Gosens in diesem Sommer verkaufen um Geld für neue Transfers einzunehmen. Aber: "Robin hatte zunächst entschieden, dass er bei Inter Mailand bleibt", sagte Oliver Ruhnert am Wochenende im "Aktuellen Sportstudio". Der 51-Jährige ließ sich davon nicht abschrecken und hielt wochenlang den Kontakt. "Oliver ist immer hartnäckig geblieben, hat gesagt, Union wartet auf dich", erinnert sich Gosens. Am Ende stand sein Wunsch, zu Union zu wechseln - und Inter musste annehmen, was die Köpenicker finanziell bieten konnten.
Ruhnert kommt günstig an Qualität
Ruhnerts hartnäckige Verhandlungstaktik ist nicht der einzige Grund dafür, dass der Kader nach diesem Sommer auf dem Papier nochmal besser aussieht als in der vergangenen, bereits so erfolgreichen Saison. Wie bereits in der Vergangenheit nutzten die Eisernen auch andere Wege, um Spieler kostengünstig zu verpflichten.
Fofana kam per Leihe von einem englischen Topklub - auf demselben Weg fand vor einigen Jahren schon Taiwo Awoniyi seinen Weg nach Köpenick. Bei Aaronson und Kral, aber auch den bisherigen Hertha-Profis Alexander Schwolow und Lucas Tousart nutzte Ruhnert den Abstieg ihrer alten Vereine aus. Und Bonucci durfte Juventus gratis verlassen, weil der italienische Rekordmeister nicht mehr mit ihm plante.
Alle Positionen verbessert
Auf dem Papier hat Union seine Mannschaft in diesem Sommer in allen Mannschaftsteilen verbessert: Bonucci ersetzt in der Abwehr die Planstelle von Ersatzspieler Timo Baumgartl und ergänzt den Kader mit seiner Erfahrung aus unter anderem 121 Länder- und 113 Europapokal-Spielen - und Führungsstärke, die er als Kapitän bei Juventus und der italienischen Nationalmannschaft bewies.
Im Mittelfeld ergibt sich ein ähnliches Bild: Mit Paul Seguin, Morten Thorsby, Milos Pantovic, Kevin Möhwald und Levin Öztunali gingen gleich fünf Reservisten andere Wege. Kral, Tousart und Aaronson haben dagegen den Anspruch und die Klasse, Stammspieler zu werden.
Auch im Angriff wurden die Joker Sven Michel und Jordan Siebatcheu abgegeben, dafür kamen Ex-Nationalspieler Volland und Chelsea-Talent Fofana nach Berlin. Fofana war eigentlich als Ersatz für den wechselwilligen Sheraldo Becker gedacht, der Urs Fischer doch weiter erhalten bleibt.
Riskante Ausgaben
Allerdings wirft der Verbleib Beckers auch Fragen auf. Zwischenzeitlich schien sein Abgang derart klar zu sein, dass er seinen Sohn bereits aus dem Fußballverein abgemeldet hatte und im Trainingslager einige Einheiten mit der Mannschaft nicht ganz absolvierte. Auch in den ersten beiden Bundesliga-Spielen kam der Surinamer nur von der Bank, als wäre Urs Fischer schon dabei, sich an die Zeit ohne ihn zu gewöhnen. Als Becker sich dann am Wochenende in Darmstadt nach seiner Einwechslung verletzte, rückte ein Verkauf in weite Ferne.
Union behält so zwar einen tollen Fußballer, nimmt aber keine zweistellige Millionensumme ein, wie vielleicht erhofft, zumal der Angreifer im nächsten Sommer ablösefrei ist. Unions Transfersaldo von -29,9 Millionen Euro [transfermarkt.de] ist in diesem Sommer das größte Negative in der Bundesliga - obwohl Ruhnert gespart hat, wo er konnte.
Union unterstreicht Ambitionen
"Wir haben von der letztjährigen Mannschaft keine Stammspieler verloren. Sie ist Vierter in der Bundesliga geworden", sagte der Kaderplaner schon zum Trainingsauftakt. Seitdem ergänzte er das Team um diverse Spieler, die eine neue individuelle Klasse mitbringen.
Auch wenn sein Trainer Urs Fischer es sich nicht nehmen lässt, weiter breit grinsend den Klassenerhalt als Saisonziel auszugeben: Bei Union geht es in der kommenden Saison um etwas ganz anderes. Die Champions-League-Millionen wurden vollständig in den Kader investiert. Mit dieser vergleichsweise aggressiven Einkaufspolitik zielen die Eisernen darauf, sich endgültig in der Spitzengruppe der Liga festzusetzen.
Rechtzeitig zum neuen Fernsehvertrag der Deutschen Fußball Liga (DFL) will Union nämlich möglichst weit oben stehen: Während viele Klubs dann sparen müssen, weil es in Zukunft wohl weniger TV-Geld geben wird, kann Union schon jetzt mit Profit planen, sollten sie die Klasse halten. Im nächsten Jahr rutscht das letzte Zweitligajahr aus der Fünfjahreswertung: Dann gibt es für die Köpenicker automatisch mehr Geld - und die Lücke zu den vermeintlichen Topklubs würde noch kleiner werden.
Funktionieren wird das nur, wenn die Neuzugänge halten, was sie versprechen.
Sendung: rbb24, 01.09.2023, 18:00 Uhr