Theaterkritik | "Antigone" am Maxim Gorki Theater - Mutprobe: Schlammbad
Leonie Böhm hat sich einen Namen damit gemacht, Klassiker der Dramengeschichte auseinanderzunehmen. Jetzt nimmt sie sich "Antigone" vor – und reduziert das Stück um Rebellion gegen weltliche Gesetze zum seichten Selbstfindungstrip. Von Barbara Behrendt
Zuletzt traut sich endlich auch die Schauspielerin Çiğdem Teke. Sie streift ihren halb gruftigen, halb futuristischen Umhang ab, lässt sich von ihren drei Schwestern im Geiste das Oberteil und die Hose ausziehen, bis sie splitternackt auf der Bühne steht - und den Sprung in einen Schlammpool wagt, wie er bei Shrek im Garten stehen könnte.
Das ist sie also: die Rebellion, der Widerstand der Antigone. Bei Sophokles beerdigt sie ihren Bruder und wird dafür von Kreon mit dem Tod bestraft. Auf der Bühne muss sie sich lediglich zu einem Bad im Matsch überwinden. Derweil stimmt die Musikerin Fritzi Ernst den passenden Song an: "Überall ist Scheiße. Ich kann nicht mehr ausweichen. Wenn ich mich wegschleiche, schleiche ich durch Scheiße."
Das antike Drama als Absprunghilfe
Wie immer, wenn Leonie Böhm am Werk ist, dient das antike Drama lediglich als Absprunghilfe für eigene psychologische Erkundungen. Diesmal kommt sie gar nicht erst soweit, sich tatsächlich mit "Antigone" zu beschäftigen: deren Widerstand gegen weltliche Gesetze, den gegenläufigen Prinzipien von Staatsräson und Geschwisterliebe. Die Regisseurin setzt schon viel früher an und fragt: Wie überwindet man die eigene Scham und Todesangst, wie wird man so unangepasst wie "Antigone", wenn wir alle doch unbedingt geliebt werden und am Leben bleiben möchten?
Auch aus dieser Ausgangsfrage könnte natürlich ein brisanter Abend entstehen. Wenn die vier Schauspielerinnen nicht gar so unterspannt improvisieren würden. Wenn nicht so wahnsinnig viel geredet und doch nur wenig gesagt würde. Wenn Leonie Böhm weniger psychologisches Geraune und emotionale Gruppentherapie inszenieren würde.
Çiğdem Teke, Lea Draeger, Eva Löbau und Julia Riedler stehen auf einer schwarzen Bühne. Stoff wölbt sich von der Decke, als sei man in einer dunklen Höhle oder in Antigones Grabstätte. Sie saugen ihren Atem und ihre Spucke gegenseitig gierig auf und speien sie wieder aus, als seien sie in ihre frühkindliche orale Phase regrediert. Sie fassen sich an die Brüste, legen sich aufeinander und kriechen einander unter die Kleider, als könnten sie einander gebären. Eine eingeschworene Schicksalsgemeinschaft, die sich selbst immer wieder auf die Probe stellt: Werden die anderen zur Stelle sein, wenn es ans Sterben geht?
Theater als Psycho-Reinigungsritual
Eva Löbau referiert lange über die eigene Beerdigung, die Angst davor, einsam und ungeliebt in den Tod zu gehen. Vieles ist improvisiert, von Sophokles’ Originaltext bleiben nur Schlüsselbegriffe wie das steinerne Grab, der ungeheuerliche Mensch, die Angst vor dem Nichts. Figuren bilden sich keine heraus.
Der Abend gleicht einem Psycho-Reinigungsritual, wie Leonie Böhm es häufig inszeniert. Die Regisseurin wird für ihre emotional zugänglichen Inszenierungen geschätzt, die allerdings immer schon drohten, ins Flache und Privatistische abzugleiten. Im besten Fall bekommt Böhm jedoch den Grundkonflikt eines Dramas zu fassen.
Nicht so an diesem Abend. Es wirkt beinahe, als wolle die Inszenierung sämtliche bösen Vorurteile bestätigen, die man über deutsches Performance-Theater hegen kann: Nackte auf Selbstfindungstrip, die sich im Schlamm wälzen. Keine Geschichte, wenig Inhalt, viel Befindlichkeit und Selbstmitleid.
Sendung: rbb24 Inforadio, 17.04.2023, 6:55 Uhr