Geldentwertung - Wie die Berliner den heißen Hyperinflations-Sommer 1923 verbrachten
36 Grad im Schatten – auch vor 100 Jahren hat die Stadt im Juli geglüht. Während Berlinerinnen und Berliner nach preiswerter Ablenkung im Inflationsjahr suchen, wird die Stadt zum Eldorado für ausländische Touristen. Von Harald Asel
Kaum haben die Schulferien im Juli 1923 begonnen, rollt auch schon eine Hitzewelle über die Region. "Für Berlin war gestern wieder einer der heißesten Tage in dieser Tropensonnenperiode – deren Dauer man lieber nicht verrufen soll" schreibt Mitte des Monats der "Vorwärts", die Zeitung der Sozialdemokratie. Und weiter: "Wolken rollten sich zusammen, es wurde drohend und duster. Dann rollten sie sich wieder auseinander und die sengende Heiterkeit des blauen Himmels strahlte seine 36 Grad im Schatten wieder– notabene eine Temperatur wie sie Berlin seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat."
Erst Tage später werden Gewitter deutliche Abkühlung bringen. Kein Wunder, dass die gleiche Zeitung auch von zwei Hitzetoten, zwei Waldbränden und acht in Freibädern ertrunkenen Badegästen berichtet.
Der Geldwert schmilzt wie Butter in der Sonne
Viele Berlinerinnen und Berliner haben kein Geld, um ans Meer oder in kühlere Regionen der Mittelgebirge zu fahren. Schon gar nicht in diesem Sommer der Hyperinflation. Der dramatische Verfall der deutschen Währung lässt sich am besten am Dollarkurs festmachen: Im Januar 1923 bekommt man an den Wechselstuben am Bahnhof Zoo 7.260 Mark für einen einzige Dollar, im Juni schon das Zehnfache.
Leidtragende der Geldentwertung sind nicht nur die Arbeiter oder sozial Benachteiligten, sondern auch Menschen der Mittelschicht, die vor dem Krieg gerade erst das großbürgerliche Reisen für sich entdeckt hatten. Beamte bekommen zu Monatsbeginn ihr festes Gehalt, das schnellstens in Lebensmittel und andere Notwendigkeiten eingetauscht werden muss, ehe die Preise wieder steigen. Freiberufler, etwa Ärzte, die auf Rechnung arbeiten, wissen, dass ihre Kunden erst dann bezahlen, wenn die Summe lächerlich geworden ist. Leidtragende sind auch die Rentner, die nebenher arbeiten müssen. Profiteure der Geldentwertung sind diejenigen, die Schulden haben, denn die verflüchtigen sich. Unverändert ist wenigstens der Preis bei den öffentlichen Personenwaagen: 20 Pfennige muss man in den Geldschlitz werfen, um das Gewicht zu messen. Aber wer hat noch zwei Groschen Hartgeld?
"Täglich Prunkfeste, Gelage, Maskeraden, Bälle, Redouten"
Was machen die Berlinerinnen und Berliner? Sie bleiben in der Stadt und schauen den Touristen beim Flanieren zu. Die meisten von denen kommen in diesem Sommer aus anderen Teilen Deutschlands. Aber in der Fremdenverkehrsstatistik stehen auch die Amerikaner ganz oben. Es gilt: Wer Devisen hat, ist König. In seiner Kulturgeschichte der Weimarer Republik "Höhenrausch" beschreibt der Publizist Harald Jähner das so: "Ausländer, die sich zu Hause höchstens eine Zweizimmerwohnung am Stadtrand leisten konnten, wurden mit der Ankunft am Berliner Anhalter Bahnhof zu Milliardären und mieteten im Hotel Excelsior ganze Zimmerfluchten. Die Zeitungen überschlugen sich mit drastischen Darstellungen ihres Wonnelebens, 'täglich Prunkfeste, Gelage, Maskeraden, Bälle, Redouten', auf denen die mitgebrachten Damen ihre billig erworbenen Perlen und Pelze spazieren trügen.'"
Für die Mehrzahl der Menschen in Berlin wirkt ein solches Auftreten wie blanker Hohn: Ausländer werfen mit Geld nur so um sich. Und der Deutsche steht dienernd daneben. Ein Sinnbild für die verheerende Niederlage im Ersten Weltkrieg und von vielen empfunden als eine Art "Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln", wie Jähner schreibt.
Ferienprogramme für die Kinder
Es liegt aber nicht nur am Geld, wenn viele diesen Sommer über in der Stadt bleiben. Zwar ist bezahlter Urlaub inzwischen auch für Arbeiterinnen und Arbeiter mit Tarifvertrag vorgesehen. Das hatten die Gewerkschaften neben dem Achtstundentag nach und nach durchgesetzt. Aber meist handelt es sich nur um drei bis höchstens sieben Tage. Diesen Urlaubsanspruch lassen sich viele lieber auszahlen. Die Folge: Die Eltern arbeiten, die Heranwachsenden sind auf sich gestellt.
Wie gut, dass das Jugendamt der Stadt Berlin gerade ein besonderes Programm aufgelegt hat. Wir würden das heute "Kinderferienpass" nennen. Auf kommunalen staatlich subventionierten "Außenspielplätzen" gibt es Freizeitangebote, die von pädagogischem Personal betreut werden. Aber auch das ist nicht umsonst. So lässt das Jugendamt der Stadt mitteilen: "Die Kinderbeiträge während der Ferien werden infolge der fortschreitenden Geldentwertung vom Montag, den 16. Juli ab erhöht: Für die ersten Kinder einer Familie Tageskarten zu 1000 M. Für die zweiten Kinder 800 M. Die Kinder erhalten morgens Kaffee, mittags warmes Essen und nachmittags zwei Stück Gebäck von je 75 g." Damit ist wenigstens die Verpflegung tagsüber gesichert."
Aber selbst im reichen Berliner Westen schlägt der Verband für Körperkultur Alarm. Seiner Tageskolonie "Wilmersdorfer Kinder im Sportluftbad Eichkamp" droht die Pleite, weil die zugesagten staatlichen Subventionen, wenn sie denn endlich eintreffen, kaum noch etwas wert sind. Ein Kilo Roggenbrot kostet im April 474 Mark, im Juni 1428 Mark, im Juli bereits 3465 Mark. Im Oktober werden es 1, 743 Billionen sein.
Man planscht lieber wild
Bleibt für alle Generationen als Mittel gegen die sommerliche Langeweile quer durch die Milieus: das Baden. Im Kaiserreich badeten Männer und Frauen züchtig getrennt. Doch inzwischen hat sich das Familienbad durchgesetzt. Daher gilt: Auch Männer müssen eine anständige Badebekleidung tragen. Der letzte Schrei in den 1920er-Jahren: gestreifte Ganzkörperbadeanzüge, zum Teil aus wasserabweisender Wolle.
Die Badegäste treffen sich am Fluss, an den vielen innerstädtischen Seen, oder draußen am Wannsee. Das heutige Strandbad gibt es allerdings 1923 noch nicht. Es wird erst im Jahr darauf in städtischer Regie von einem privaten Betreiber übernommen und ausgebaut. Die offiziellen Badestellen kosten Eintritt. Den wollen sich viele Berlinerinnen und Berliner sparen und planschen eben wild, wo es gerade geht. Das Gemeindeblatt der Stadt Berlin warnt: "Das eigene Interesse der Erholungssuchenden lässt es angebracht erscheinen, den geordneten Badebetrieb einer Badeanstalt dem wilden Baden vorzuziehen. Wenn auch der anfangs flache Strand der freien Badestellen in verlockender weise zum Baden einladet, so fällt doch die Sohle der Gewässer oftmals plötzlich ab, ist morastig mit Schlingpflanzen und Weidengestrüpp bewachsen: und wird dadurch auch dem geübten Schwimmer gefährlich."
Doch nicht nur beim wilden Baden ertrinken in diesem Sommer viele Abkühlungshungrige. Wirklich schwimmen können Anfang der 1920er-Jahre nämlich nur die Wenigsten. Im Gemeindeblatt wird daher neben Leihbadehosen auch ein "Schwimmunterricht für Erwachsene" inseriert. Kostenpunkt im Juli 1923: 20.000 Mark.
Sendung: rbb24 Inforadio, 26.06.2023, Podcastserie "Heute minus 100"