Interview | Wirkung von Feuerwerk auf Kriegsflüchtlinge - "Bei kriegsähnlichen Geräuschen ist eine Retraumatisierung wahrscheinlicher"
Wegen der Rückkehr des Feuerwerkverkaufs wird es an Silvester wieder mehr knallen und blitzen als in den vergangenen Jahren. Ein Experte erklärt, was das mit Kriegsflüchtlingen macht, die traumatisiert sind von echten Raketen und Schüssen.
In diesem Jahr sind zum Jahreswechsel noch mehr Geflüchtete in Deutschland als in den letzten Jahren. Vor allem Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind dazu gekommen. Götz Mundle ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Ärztlicher Leiter des Gesundheitszentrums für Flüchtlinge GZF in Berlin-Steglitz. Er arbeitet täglich mit traumatisierten Menschen und weiß, wie sich eine Retraumatisierung äußert und wieso Vorbereitung beim gemeinsamen Fest mit Geflüchteten wichtig ist.
rbb|24: Herr Mundle, in diesem Jahr werden besonders viele Menschen mit uns den Jahreswechsel feiern, die aus einem Kriegsgebiet, der Ukraine, geflohen sind. Sollten wir uns da besonders Gedanken über die Wirkung des Feuerwerks machen, was wir zünden wollen?
Götz Mundle: Es gibt drei Ebenen, die wir aus therapeutischer Sicht berücksichtigen müssen. Erstens: Ja, das Knallen von Feuerwerkskörpern kann Geflüchtete aus Kriegsgebieten an Traumata erinnern und entsprechend Ängste oder körperliche Reaktionen hervorrufen. Das sollten wir bedenken. Zweitens, was ganz wichtig ist in der Situation: zu schauen, dass die Menschen aus Kriegsgebieten in einer sicheren Umgebung sind, zum Beispiel unter Freunden und Ansprache haben, statt alleine zu sein. Das Dritte ist: Wenn wir in Kontakt mit Geflüchteten sind und eine Retraumatisierung auftritt, durch einen Knall zum Beispiel, dann ist es wichtig, sie an einen sicheren Ort und ins Hier und Jetzt zurückzubringen. Wenn es den Betroffenen dann gelingt, zu differenzieren - früher waren diese Geräusche im Krieg und bedeuteten Angst und Gefahr, heute ist das ein Signal der Freude, zur Begrüßung des neuen Jahres - dann ist das sogar eine "therapeutische Aufgabe" und ein großer Schritt nach vorne.
Ähneln denn überhaupt die Feuerwerkskörper an Silvester den Schüssen und Raketen in einem Kriegsgebiet, oder ist das ein Trugschluss?
Grundsätzlich ist es so, dass ganz unterschiedliche Dinge Erinnerungen an Kriegstraumata triggern können. Das können die Feuerwerkskörper sein, das kann der Knall sein, das kann aber auch ein Bild sein oder ganz andere Dinge, wie ein lautes Auto. Es ist individuell unterschiedlich. Daher kann man nicht einfach sagen: So ein Feuerwerkskörper mit diesem Geräusch löst das jetzt aus. Natürlich ist es aber so, wenn Geräusche ähnlich wie damals im Krieg sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher. Daher ist es glaube ich wichtig zu wissen, dass Silvester mit dem Lärm und dem beleuchteten Himmel sehr wohl an ein Kriegstrauma erinnern kann. Das wäre also etwas, was Sie vorher besprechen sollten, wenn Sie mit Menschen feiern, die in Kriegsgebieten gewesen sind. Gibt es Erinnerungen, Ängste, ist es besser wenn wir zu Hause bleiben oder ist es möglich raus zu gehen?
Grundsätzlich betrachtet sind die Menschen, die hier eine Unterkunft haben, in Deutschland ja erstmal in Sicherheit - zumindest im Vergleich zu einem Kriegsgebiet. Lässt sich das für eine traumatisierte Person so rational beurteilen?
Nein, überhaupt nicht. Das Entscheidende ist immer die individuelle Geschichte der betroffenen Person. Was für Erfahrungen hat jemand konkret gemacht, ist es hier auch schon ohne Silvesterraketen oder Böllern zu Retraumatisierungen gekommen, sind Situationen aufgetreten, in denen bei den Geflüchteten Ängste und Bilder aus dem Krieg aufgetaucht sind und auf die sie körperlich reagiert haben? Wenn quälende Erinnerungen - wir sprechen da von Flashbacks - im Vorfeld aufgetreten sind, dann ist besondere Vorsicht angebracht und dann ist es wichtig, den Menschen zu sagen: Wir bleiben lieber drinnen, wir gehen nicht in die Stadt, sondern schauen nach einem ruhigen Ort.
Wie äußert sich denn eine Retraumatisierung?
Der Körper reagiert mit Angst und Panik, die Betroffenen erleben die Gefahrensituation von früher nochmals. Typische Symptome sind zum Beispiel, dass der Körper anfängt zu zittern, zu schwitzen oder der Puls steigt. Ein anderes typisches Symptom ist, dass die Menschen nicht wirklich anwesend und mit den Gedanken komplett abwesend sind, wir sprechen von Dissoziation.
Und was könnte ich tun, wenn ich mit einem möglicherweise traumatisierten Menschen Silvester verbringe und das unerwartet passiert?
Das Wichtige ist, die Menschen zunächst einmal aus der lauten Umgebung heraus zu nehmen. Dann ist es wichtig, sie ins Hier und Jetzt zurückzuholen, indem wir sie zum Beispiel anprechen und sagen: "Schauen Sie mich an, wir sind hier in Berlin, es ist Silvester." Die Menschen sind in der Erinnerung gefangen, wie in einem Albtraum und aus dem muss man sie wieder herausholen, damit sie sehen, lernen und erfahren: Ich bin in Berlin, ich bin bei Freunden, ich bin in Sicherheit und werde nicht angegriffen. Das kann man machen, indem man sie selbst ihre Umgebung beschreiben lässt oder indem man sie zum Beispiel ein Glas Wasser oder Tee trinken lässt. Entscheidend ist, dass die Menschen aus der Retraumatisierung wieder heraus kommen und ins Hier und Jetzt zurückkehren. Alles, was dabei hilft, ist gut.
Am Gesundheitszentrum für Flüchtlinge betreuen Sie auch Kriegflüchtlinge. Ist Silvester da ein Tag, den Sie besonders vorbereiten oder nach dem sie deutlich mehr zu tun haben?
Bei den Menschen, die wir hier im Gesundheitszentrum betreuen, ist es so, dass dieses Thema Retraumatisierung, also Situationen, die Erinnerungen und Flashbacks auslösen, ein ganz häufiges ist. Das ist Alltag, unabhängig von Silvester. Es ist eine typische Therapieaufgabe bei uns, diesen Menschen Techniken beizubringen, mit denen sie wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren können. Wenn jetzt Silvester ansteht, besprechen wir natürlich vorher: "Was machen Sie, wo sind Sie?" Wir sprechen aber auch immer wieder über sonstige Situationen im Alltag, die passieren und die Menschen an alte Traumata erinnern könnten. Es kann zum Beispiel sein, dass Menschen durch die Stadt laufen und einen Polizisten sehen, der sie dann an jemanden erinnert, von dem sie früher bedroht oder gefoltert worden sind. Dann besprechen wir das zusammen, dass der Polizist hier in Berlin eben nicht gefährlich ist und sie in Sicherheit sind.
Welchen Rat würden Sie Menschen geben, die Geflüchtete bei sich aufgenommen haben oder mit Freunden und Bekannten feiern, die aus einem Kriegsgebiet geflohen sind?
Sprechen Sie offen darüber: "Wie ist es, wie sollen wir Silvester feiern, es kann sein, dass es da Böller gibt, dass es Feuerwerk gibt und laut wird. Ist das beeinträchtigend oder nicht?" Fragen Sie nach, ob bereits solche Flashbacks aufgetreten sind, ob die Personen Ängste haben oder nicht und was sie dann brauchen, wenn es auftritt. Klären Sie das alles im Vorfeld, und dann sollte es zu 90 Prozent sehr gut machbar sein, dass man zusammen Silvester feiert. Vielleicht ohne rauszugehen, an einen großen Knaller-Ort. Das würde ich jetzt eher nicht empfehlen, aber gemeinsam in einer kleineren Runde das neue Jahr begrüßen, das ist gut möglich und sehr zu empfehlen.
Das Interview führte Simon Wenzel, rbb|24.
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