Clan-Kriminalität - Vertraulicher LKA-Bericht beschrieb Gefahr des Remmo-Clans schon 2012
Schon 2012 analysierte die Berliner Polizei, dass Mitglieder der Großfamilie Remmo zehnmal häufiger kriminell auffallen als andere kriminalitätsbelastete Gruppen. Unmittelbare Konsequenzen blieben aus Zeit- und Personalgründen zunächst aus. Von Olaf Sundermeyer
Für den Neuköllner Sozialstadtrat Falko Liecke (CDU) ist die Sache klar: "Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass man auf dieser Erkenntnislage die kriminelle Entwicklung der Familie Remmo hätte aufhalten können." Liecke spricht über ein vertrauliches 43-seitiges LKA-Papier aus dem Jahr 2012, das rbb24 Recherche exklusiv vorliegt. Der Titel: "Statistische Erhebung arabischer Straftätergruppierungen" zur "Teilgruppe 'Familie Rammo*'".
Das Papier liest sich wie die Ankündigung der weiteren kriminellen Radikalisierung dieser Familie - auch mit Blick auf einzelne Teenager, die in den Jahren nach 2012 unter anderem als Diebe der Goldmünze aus dem Bode-Museum und mutmaßliche Einbrecher ins Dresdner Grüne Gewölbe bekannt wurden.
Jugendliche galten früh als auffällig
Die Analysten, die sich mit den damals noch jugendlichen Angehörigen der Familie beschäftigten, kamen zu überraschend klaren Aussagen: "Die sozialen Kontakte und das familiäre Umfeld des Besch. [Beschuldigten; Anm. d. Red.] Remmo lassen es als nur wenig wahrscheinlich erscheinen, dass der Besch. Remmo in absehbarer Zeit ein sozialadäquates Leben führen wird." Weiter heißt es: "Die unterrichtende Lehrerin gab fernmündlich an, dass der junge (…) viele Verstöße und asoziales Verhalten aufweisen würde und ihrer Erfahrung nach nicht mehr sozialisierbar wäre."
Seit Falko Liecke 2012 Jugendstadtrat in Neukölln wurde, war er selbst mit der Familie Remmo befasst. Er ist der Auffassung, dass spektakuläre Straftaten wie der Raub der Goldmünze, Einbrüche in Banken oder Überfälle auf Geldtransporter möglicherweise hätten verhindert werden können, wenn das Dokument damals schon bekannt geworden wäre.
Doch das LKA hat die Erkenntnisse seinerzeit unter Verschluss gehalten und nicht mit anderen Institutionen wie dem Jugendamt, der Schule oder der Staatsanwaltschaft geteilt. Mehr noch, im Landeskriminalamt kam man zu der Überzeugung, dass weitere, ähnliche Erhebungen zu anderen schon damals bekannten Clan-Familien zu zeit- und personalaufwändig seien, obwohl einzig diese "aufwändige Auswertung anhand gewisser Namenskriterien (…) eine verlässliche Datenbasis" liefere, wie es in dem Bericht heißt.
Vertraulich und folgenlos
Das Papier blieb also vertraulich und in der Schublade des LKA: Keine Zeit für kriminelle Clanstrukturen, für die Erhellung der zugrunde liegenden familiären Zusammenhänge, in denen die Straftäter als familienbasierte, "kriminelle Wirtschaftsunternehmen" agieren. So nannte es der ehemalige Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), der jetzige SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler, 2019 in einem ARD-Interview. Die Berliner Staatsanwältin Petra Leister sagte in derselben Fernsehdokumentation "Kriminelle Clans und ihre Millionen-Geschäfte" [youtube.com] am Beispiel der Remmos, deren Straftaten sie seit den 1990er Jahren aufklärt: "Es gibt so eine Art übergeordnetes Familienvermögen: Jeder hilft jedem und ist an vielem beteiligt."
Deshalb seien die Erkenntnisse der LKA-Erhebung von 2012 ja so wichtig gewesen, folgert Falko Liecke: "Daraus hätte man eine familienbasierte Handlungsanweisung ableiten können, um vor allem bei den Jüngeren zu intervenieren: Denn wir sehen ja, wie sich einige Mitglieder der Familie seither kriminell entwickelt haben." Mit seiner Einschätzung ist Falko Liecke nicht allein. In Polizeikreisen wird sie von einigen szenekundigen Ermittlern geteilt.
Komplexe Familienstrukturen
Die LKA-Erhebung stellt fest, dass innerhalb eines dreijährigen Untersuchungszeitraums (2009 bis 2011) rund 60 Prozent der "in Berlin gemeldeten Familienmitglieder" bereits als Tatverdächtige in unterschiedlichen Strafverfahren geführt wurden. Demnach sei die Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) des detailliert betrachteten Familienzweigs mit 103 Personen zehnmal höher als bei Tatverdächtigen anderer Ethnien und Gruppen. Zwar liegen der Erhebung einzig Daten dieser Familie zu Grunde. Die Autoren gingen aber davon aus, dass "in Berlin 20 bis 30 polizeilich relevante arabischstämmige Großfamilien leben."
Nach Informationen von rbb24 Recherche ist mittlerweile klar, dass die meisten dieser Familien miteinander verwandt sind, in vielen Fällen ihren Ursprung in demselben Dorf im Südosten der Türkei haben. Dieser Zusammenhang wird sowohl durch die vielen verschiedenen Schreibweisen der Namen verschleiert (auch bei den Remmos), als auch durch gänzlich andere Namen, die jedoch oft über aufwändige Stammbaumrecherchen den auffällig gewordenen kriminellen türkisch-arabischen Clanstrukturen zugeordnet werden können.
Doch Stammbaumrecherchen sind aufwändig und das zuständige Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten teilte den Autoren der LKA-Studie 2012 wohl deshalb mit, "dass die gestellte Rechercheanfrage aus personellen Kapazitätsgründen nicht bearbeitet werden kann", und dass die "Anzahl an ausländerrechtlich in Berlin verwalteten Personen, die den Namen 'Rammo' tragen", daher nicht beziffert werden könne. Inzwischen können in Berlin rund 1.000 Personen dieser Familie zugeordnet werden.
Familienbasierter Ermittlungsansatz politisch umstritten
Auch für die übrigen Großfamilien gelte laut Stadtrat Liecke ein ähnlicher Befund wie bei Familie Remmo: Man hätte ihre kriminelle Entwicklung möglicherweise aufhalten oder begrenzen können. Aber es fand damals keine nähere familienbasierte soziologisch-kriminologische Betrachtung statt.
Der Polizei fehlte dafür das Personal, der Politik der Wille. Auch dem damaligen CDU-Innensenator. "Ich habe Frank Henkel vergeblich versucht, von einem Lagebild und einem Clankonzept zu den problematischen Familien zu überzeugen", erinnert sich Liecke. "Aber er wollte oder konnte es nicht gegenüber dem damaligen Koalitionspartner SPD durchsetzen." Der familienbasierte Ansatz zur Bekämpfung der Clankriminalität ist im politischen Berlin hoch umstritten, vor allem Linken und Grünen gilt er als rassistisch.
Der Nachfolger von Frank Henkel im Amt des Innensenators, Andreas Geisel (SPD), handelte: Nach 2018 gab es Lagebild und Konzept. Darauf stellt auch Ralph Knispel von der Berliner Vereinigung der Staatsanwälte ab und verweist darauf, dass Geisel schon vor einigen Jahren die Abschiebungen einiger Clankrimineller veranlasst habe.
Auch Oberstaatsanwalt Knispel kennt die Familie Remmo aus eigenen Strafverfahren. Anders als Stadtrat Falko Liecke könne er jedoch nicht sagen, dass die Erkenntnisse des LKA die Bekämpfung der Clankriminalität in Berlin maßgeblich beeinflusst oder verändert haben. "Die Wirklichkeit bei den Ermittlungsbehörden ist längst eine andere. In den polizeilichen Abfragesystemen können wir heute fast immer umgehend erkennen, mit wem wir es zu tun haben." Auch könnten die Clans nicht mehr unbehelligt in Berlin agieren. "Bei der Familie Remmo selbst haben wir die Vermögensabschöpfung mit den 77 Immobilien, und auch sonst wird Druck auf einige Familien ausgeübt", sagt Knispel. "Aber natürlich sind die personellen Möglichkeiten der Polizei dabei immer begrenzt. Das ist nun einmal so in Berlin, wo das Geld knapp ist."
*Die Autoren schreiben sowohl Rammo als auch Remmo.
Sendung: rbb24 Inforadio, 27.02.2023, 06:00 Uhr