Interview | Psychologin über dauerkranke Kinder - "Eltern machen Calls von zuhause und hören im Hintergrund, wie sich ihr Kind übergibt"
Erst Corona, danach Grippe, Magen-Darm und nun Scharlach. Kinder und alle, die in ihrem Umfeld leben, sind derzeit immer wieder krank. Viele Eltern sind vollkommen erschöpft. Paar-Therapeutin Anna Wilitzki weiß, was das mit der Partnerschaft macht. Spoiler: nichts Gutes.
rbb|24: Hallo Frau Wilitzki, Sie sind Paar-Therapeutin. Unter ihren Klienten sind dann auch sicherlich viele Eltern. Kann man allgemein sagen, wie es Eltern jetzt nach drei Jahren Corona und den neusten Erkältungswellen geht?
Anna Wilitzki: Ja, das kann man und es ist tatsächlich so, dass viele Eltern jetzt einem Burnout-Punkt noch viel näher sind als zu Corona-Hochzeiten. Viele dachten, dass sie die schwere Corona-Zeit irgendwie überstehen müssen und wenn die geschafft ist, würde es ganz normal weitergehen: mit Alltag, mit der Möglichkeit, sich im Job weiterzuentwickeln und mit Normalität in jeder Hinsicht. Auch der, sich nicht mehr so viel Sorgen um die eigene Gesundheit und der der Kinder machen zu müssen. Jetzt zu erleben, dass es nach dieser anstrengenden Zeit unerwartet weitergeht mit all den Sorgen, ist für viele gerade sehr schwer. Das sprechen die Menschen, die zu mir kommen, auch ganz direkt an.
Viele Eltern haben das Gefühl, sie können nicht mehr. Sie sehen einfach kein Ende mehr. Erst kam zu Corona, das es ja auch noch gibt, das RS-Virus, dann die Grippe, ein Magen-Darm-Virus und nun ist es Scharlach. In den Sozialen Medien kursierte zuletzt ein Bingo-Spiel für Eltern. Da konnte man ankreuzen, was die Kinder jetzt schon alles hatten. Das ist zwar lustig, ist aber für die Eltern - die in einem "Make-it-work"-Kreislauf sind, die es also irgendwie schaffen müssen, aber schon auf dem Zahnfleisch kriechen - bitterer Ernst.
Die Partnerschaft dieser Eltern ist gefühlt ganz weit hinten angestellt. Weil sie nicht wissen, wie sie ihre Bedürfnisse als Paar da auch noch unterkriegen sollen. Das löst sehr viel zusätzlichen Stress in den Partnerschaften aus. Wenn man merkt, dass man nicht schafft, was man schaffen muss, macht das Eltern oft wütend, weil sie denken, der andere Partner müsste sich mehr kümmern.
Wem geht es besonders schlecht? Und hat das mit dem Arbeitspensum zu tun oder damit, wie die Beziehung allgemein als Paar läuft?
Es ist jetzt häufig gerade bei den Paaren schwierig, die sich darauf geeinigt haben, sich gegenseitig zu unterstützen. Also bei den Paaren, die Elternschaft nicht in alten Rollenbildern führen wollten, in denen die Frau in Teilzeit arbeitet und der Mann voll. Da arbeiten also beide ungefähr gleich viel – und sie kämpfen jetzt um die Krankentage, von denen es ja nur eine begrenzte Anzahl gibt.
Da fangen nun doch oft die Mütter an, zurückzustecken. Das führt oft zu einer erst unterschwelligen Aggressivität und Unzufriedenheit, die dann immer lauter wird. Es trifft also leider genau die Paare, die Vorreiter waren. Die rutschen dann gegen ihren Willen in die alten Rollenmuster.
Können Sie aus Ihren Erfahrungswerten sagen, wie es um die Vereinbarkeit von Arbeit und Beruf derzeit steht – vor allem, wenn man kleine Kinder hat?
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist zur Zeit kaum möglich. Und wenn sie möglich ist, dann oftmals mit dem Gefühl, dass die Professionalität im Job leidet. Das erzeugt Angst, sich die Wege nach oben zu verbauen. Viele schaffen nur noch das Minimum. Die Eltern machen Calls von zuhause und hören im Hintergrund, wie sich das Kind schon wieder übergibt. Sie sorgen sich dann, weil sie ihr Kind in dem Moment alleine lassen. Doch sie müssen das Gespräch trotzdem professionell führen oder beenden und rennen dann erst zu ihrem Kind. Von solchen Situationen wird mir berichtet. Da haben auch die, die das Jonglieren mit den Bedürfnissen während der Pandemie gelernt haben, den deutlichen Eindruck, dass die Professionalität auf der Strecke bleibt. Sie merken dann auch, dass sie hintenanstehen im Job bei denen, die noch keine Kinder haben.
Was treibt die Paare um? Ist es schlicht: Wer von uns kümmert sich um das jetzt schon wieder kranke Kind? Oder überwiegt die Sorge um die Kinder, denen es schon wieder schlecht geht oder deren Schule oder Kita wegen Streik oder Personalmangel geschlossen ist?
Genau das ist die Aufgabe in der Paartherapie: herauszufinden, ob man sich beispielsweise wirklich darum streitet, wer sich zu wenig um das Kind kümmert -oder ob es um grundlegende Themen geht, die darunterliegen. Beispielsweise eben um die Erschöpfung, die durch das gleichzeitige Arbeiten und Sich-um-das-Kind-Kümmern ensteht.
In diesem Zustand fangen viele Paare an, sich um Kleinigkeiten zu streiten und merken nicht, dass es eigentlich darum geht, dass sie sich erschöpft oder allein fühlen – auch wenn der Partner oder die Partnerin oftmals genau die gleichen Gefühle hat. Das Problem ist: Es gibt keine Zeit mehr, darüber zu reden. Da ist man schnell schnippisch beim Zuweisen von Vorwürfen und schafft es nicht mehr, die Sorge zu formulieren, dass sich das Kind jetzt aber schon wieder übergeben hat und sich über die etwaigen nächsten Schritte abzustimmen. Das macht dann jeder für sich aus. Damit lassen sich Paare derzeit allein. Sie machen einfach immer nur weiter und versuchen alles zu schaffen.
Ein Beispiel: Bei mir war ein Paar mit einem noch sehr kleinen Kind, das heftiges Fieber hatte. Da war die Mutter, die allein mit dem Kind zuhause war, während der Vater voll arbeiteten musste, sehr panisch. Der Vater, der gern zuhause gewesen wäre, hat die Mutter dann, als sie eine zweite Arztmeinung wollte, eine Helikopter-Mutter genannt. Das war aber eher aus einer Hilflosigkeit heraus.
Ein anderes Beispiel, das viele Eltern derzeit kennen: Man streitet sich darum, wer den Krankentag nimmt. Der, der dann arbeiten geht, hat dann aber auf der Arbeit auch ein schlechtes Gewissen. Weil ihm der Partner, der zuhause bleibt oft auch signalisiert, dass er das haben sollte. Wenn dann noch Ängste um das Kind hinzukommen, kommt es in der Beziehung leicht zu einer Streitspirale.
Was empfehlen Sie Paaren, die mit solchen Themen und Problemen zu Ihnen kommen?
Das, was man Paaren mit Kindern sowieso empfiehlt: dass sie sich - und das jetzt noch mehr - Zeiten in ihren Alltag bauen, die ganz klar dafür da sind, sich über die eigenen Gefühle auszutauschen. Da kann es um die Kinder, die Arbeit und vielleicht, wenn das ein Thema für einen der Partner ist, auch um die Finanzen gehen - aber dabei sollte man sich wirklich auf die emotionale Ebene konzentrieren. Da geht es weniger darum, den Vorwurf zu machen, alles allein wuppen zu müssen, sondern darum, was das Gefühl in einem auslöst. Wenn man dann tiefer geht, stößt man bald auf die Angst. Also die Angst, dass nach Scharlach wieder eine neue Grippe oder Corona-Welle auftauchen könnte. Viele Eltern haben Angst, dass das gar nicht mehr aufhört. Und viele tragen auch Verletzungen mit sich herum von dem, was bereits gesagt wurde. Bei diesen Gesprächen geht es darum, nicht einfach nur weiterzumachen.
Was können Paare konkret tun, um sich - als Paar - zu erholen? Reicht es da, gelegentlich mal einen Abend gemeinsam in der Therme zu verbringen?
Leider nicht. Zeit ohne die Kinder muss eher eine feste Gewohnheit werden. Die Paare müssten schon zwei bis drei Mal im Monat in die Therme oder Essen gehen. Wichtig ist dann, dass da dann nicht über Probleme geredet wird. Was außerdem ganz wichtig ist, ist Einzelzeit. Eltern brauchen auch Zeiten, in denen sie ohne Kinder und ohne Partner, etwas nur für sich machen. Viele denken, sie müssten nur an der Partnerschaft arbeiten, um sich wieder gut zu fühlen. Aber viele sind auch frustriert, weil sie sich selbst aufgegeben haben.
Die Paare, die das umsetzen und zwei bis drei Mal im Monat abends weggehen – auch abwechselnd ohne den anderen – merken meist sehr schnell eine positive Veränderung. Bei sich selbst und in der Partnerschaft.
Wenn es nur noch Streit gibt: Sollte man dann - der Kinder wegen - als Paar zusammenbleiben?
Ich denke, man müsste erst einmal herausfinden, ob man sich wirklich wegen der Kinder oder all dem, was da gerade jongliert werden muss, so viel streitet. Das muss kein Trennungsgrund sein. Wenn aber ein Partner signalisiert, dass er oder sie erwartet, dass der oder die andere zuhause bei den kranken Kindern bleiben sollte, weil der eigene Job oder die Karriere mehr Wert ist in seinen Augen, dann könnte das eventuell schon ein Trennungsgrund sein. Aber da geht es dann ja auch nicht mehr um die Kinder. Sondern um verschiedene Zukunftsperspektiven und Wertvorstellungen.
Gibt es auch schon Paare, die thematisieren, keine Kinder zu wollen, weil sie mitkriegen, was da bei Eltern seit Corona los ist?
Ja, das ist für viele kinderlose Paare gerade Thema. Sie sehen, was bei den Eltern los ist und bekommen Angst, durch eine Elternschaft alles zu verlieren: die Partnerschaft, sich selbst und den Job. Denn sie erleben das ja bei ihren Freunden.
Oft möchte einer trotzdem Kinder - sonst wären sie wegen dieses Themas ja auch nicht in einer Paar-Therapie. Aber gerade die Frauen sagen oft, dass sie sehen würden, wie sehr die Freundinnen mit Kindern auf dem Zahnfleisch kriechen. Sie formulieren dann, dass sie das unter den aktuellen Belastungen nicht für sich selbst wollen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Sendung: