Interview | Pro-Familia-Mitarbeiterin - Warum so viele Frauen in Berlin abtreiben

Fr 31.03.23 | 14:43 Uhr
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Schwangere Frau beim Ultraschall (Quelle: imago-images.de/YAY Images)
Bild: imago-images.de/YAY Images

Die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche in Berlin ist im vergangenen Jahr sprunghaft angestiegen. Was die Frauen bewegt, wie sie mit ihrer Situation umgehen und was Ihnen helfen würde, berichtet Sibylle Schreiber von Pro Familia im Interview.

rbb|24: Frau Schreiber, die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche in Berlin sind erheblich angestiegen im vergangenen Jahr. Aus welchen Gründen brechen Frauen Schwangerschaften ab? Spielen da auch neue Zukunftsängste eine Rolle?

Sibylle Schreiber: Ganz genau wissen wir nicht, warum sich Frauen für einen Abbruch ihrer Schwangerschaft entscheiden. Aber durch die Beratungspflicht müssen sie ja kommen und mit uns sprechen, da nennen viele auch ihre Gründe.

Zur Person

Sibylle Schreiber.(Quelle:Christina Kurby)
Christina Kurby

Pro Familia Berlin - Sibylle Schreiber

Sibylle Schreiber (46) ist Diplom-Sozialwirtin und seit 2015 Leiterin des Pro-Familia- Beratungszentrums Berlin und dessen Landesgeschäftsführerin.

Die meisten Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, haben schon Kinder. Sie wissen also ganz genau, worauf sie sich einlassen, wenn sie das Kind bekommen. Häufig ist also eine sehr verantwortungsbewusste, rationale Entscheidung. Außerdem werden sehr häufig finanzielle Gründe genannt. Gerade hier in Berlin, wo der Dienstleistungssektor groß ist, wo viele soloselbständig sind oder Kleinstgewerben nachgehen hat es auch viel mit der Corona-Pandemie zu tun. Viele Frauen haben noch immer deshalb große finanzielle Nöte.

Ein anderer Grund, der seit Jahren schon immer wieder genannt wird, ist das Thema Wohnungsnot in Berlin. Da ist es oft so, dass es nicht unbedingt um das erste Kind geht, sondern um das zweite oder dritte. Und man muss einfach sagen, dass man mit einem durchschnittlichen Gehalt eine ausreichend große Wohnung in Berlin nicht mehr finanzieren kann.

Hinzu kommt, dass zuletzt auch viele geflüchtete Frauen aus der Ukraine zu uns gekommen sind. Welche Frau entscheidet sich für ein Kind, wenn sie auf der Flucht ist und das Kind in einer Flüchtlingsunterkunft bekäme?

Die Frauen, die zum Beratungsgespräch zu Ihnen kommen, müssen nicht zwangsläufig über Ihre Beweggründe mit Ihnen sprechen?

Genau, die Frauen müssen nicht begründen, warum sie einen Schwangerschaftsabbruch erwägen. Aber es kommt manchmal trotzdem zu intensiveren Beratungsgesprächen, in denen die Frauen ihre Gründe ganz offen thematisieren.

Sie haben gesagt, dass viele der Frauen von finanziellen Nöten sprechen und auch die Wohnungssituation konkret ansprechen. Ist das neu?

Dass so oft finanzielle Gründe angeführt werden, ist neu - und wir können das vielfach, wie schon erwähnt, mit der Pandemie in Zusammenhang bringen. Da waren vor allen Dingen Frauen in prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen oder Frauen, die durch ihre ersten kleineren Kinder unglaublich belastet waren. Die Wohnungsnot ist schon seit ein paar Jahren ein Thema – es verstärkt sich aber weiter.

Die Tabuisierung ist immer noch sehr groß. Dabei erwägen die meisten Frauen unheimlich verantwortungsvoll, ob sie eine Schwangerschaft behalten und das Kind austragen wollen

Sybille Schreiber von Pro Familia Berlin

Mehr als 10.000 Abbrüche gab es 2022. Wie kommt es zu so vielen ungewollten Schwangerschaften? Verhüten die Frauen nicht?

Die meisten der Frauen haben verhütet. Es ist aber noch immer zu wenig bekannt, dass kein Verhütungsmittel hundertprozentig sicher ist. Da fehlt es an Wissen. Hinzu kommt, dass die sichersten Verhütungsmittel die teuersten sind. Da gibt es einen ganz klaren Zusammenhang von finanziellen Mitteln und Verhütung.

Welche Frauen kommen zu Ihnen – handelt es sich um einen Querschnitt durch die Bevölkerung?

Ja, denn jede Frau kann ungewollt schwanger werden. Das gehört zum Leben dazu. Die meisten Frauen, die zu uns kommen, haben schon ein oder mehrere Kinder und sind im gebärfähigen Alter. Es sind nur wenige ganz junge Frauen dabei, die ungewollt schwanger geworden sind.

Kommen nach Berlin dann auch Polinnen, die in Polen nicht abtreiben lassen dürfen?

Ja. Für die Frauen ist es verhältnismäßig leicht, nach Berlin zu kommen. Es gibt auch Netzwerke in Polen, die die Frauen dabei unterstützen. Aber es kommen nicht nur Frauen aus Polen. Es kommen auch Frauen aus anderen deutschen Bundesländern zum Abbruch nach Berlin. Man muss sich vor Augen führen, dass die Versorgungssituation in Berlin deutlich besser ist als in vielen anderen Bundesländern. Dass die Frauen kommen, liegt aber nicht nur an der Versorgung, sondern auch daran, dass Berlin eine große und recht anonyme Stadt ist. Da das ganze Thema Abtreibung immer noch sehr tabuisiert ist und sich viele Frauen schämen, gehen sie davon aus, hier nicht erkannt zu werden.

Gibt es noch mehr Gründe, warum Frauen zum Abbruch nach Berlin kommen?

Berlin hat ein sehr gutes Angebot, was den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch betrifft. Der wird in anderen Bundesländern gar nicht so breit angeboten. Das ist eine Methode, die weniger invasiv und kostengünstiger ist. Denn ein Schwangerschaftsabbruch kann ja auch sehr teuer sein. Das können sich nicht alle Frauen einfach so leisten.

Von welchen Summen reden wir da?

Ein Schwangerschaftsabbruch kann bis zu 1.000 Euro kosten. Er wird nicht von der Krankenkasse getragen. Es handelt sich um eine Privatleistung. Frauen, die unter eine bestimmte Einkommensgrenze fallen, können die Finanzierung bei ihrer Krankenkasse jedoch beantragen. Dann übernimmt das Land gegebenenfalls die Kosten.

Ich würde gern noch mal auf die mehr als 10.000 nun für 2022 gemeldeten Abbrüche kommen. Da sind nur die Frauen eingeflossen, die ihren Wohnsitz in Berlin haben, oder?

Ja, aber man muss sich da auch überlegen, wie lange und wie dauerhaft beispielsweise ukrainische Frauen diesen Wohnsitz schon in Berlin haben.

Hat Sie die hohe Zahl der Abtreibungen überrascht?

Nein. Gerade Krisensituationen wie die Pandemie oder jetzt der Krieg in Europa haben immer Auswirkungen auf die Entscheidungen, die Frauen treffen. Besonders im Hinblick darauf, ob sie sich in der Situation zutrauen, ein Kind gut versorgen zu können.

Kann es auch einen Zusammenhang mit der Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen für Ärzte geben? Sind die Frauen also vielleicht einfach besser informiert?

Da sehe ich keinen Zusammenhang. Viele Ärzt:innen haben das trotzdem noch immer nicht auf Ihre Website geschrieben, weil sie befürchten, von Abtreibungsgegnern angegriffen zu werden. Dadurch, dass Schwangerschaftsabbrüche immer noch tabuisiert und kriminalisiert werden, hat es durch die Abschaffung des Werbeverbots keine große Verbesserung gegeben.

Sie haben die Tabuisierung des Themas schon mehrfach angesprochen...

Ja. Die Tabuisierung ist immer noch sehr groß. Dabei erwägen die meisten Frauen unheimlich verantwortungsvoll, ob sie eine Schwangerschaft behalten und das Kind austragen wollen. Ich finde es richtig, dass die Frauen diese Entscheidung treffen dürfen – und nicht der potenzielle Vater die finale Entscheidung fällen darf. Denn am Ende geht es um das Leben der Frau und um ihren Körper. Man muss sich nur mal anschauen, wie viele Frauen gerade in Berlin alleinerziehend sind und was das bedeutet. Es heißt nämlich, arm zu sein. Kaum eine Frau, die wir in der Beratung antreffen bei uns, macht sich diese Entscheidung leicht. Wegen der Tabuisierung des Themas haben sehr viele der Frauen aber Angst, für diese Entscheidung beschimpft zu werden. Dabei sollte den Frauen Anerkennung und Respekt dafür gezollt werden, eine so schwere Entscheidung getroffen zu haben.

Sie bei Pro Familia machen ja auch die Schwangerschafts-Konfliktberatung, nach der Frauen dann straffrei abtreiben können. Sind Ihnen da Frauen besonders in Erinnerung geblieben?

Nein, dafür sind es zu viele Frauen mit zu vielen unterschiedlichen Schicksalen. Was mir immer wieder leid tut, ist aber die Angst der Frauen, sich zu öffnen und sich anderen Menschen anzuvertrauen. Oft ist der Partner die einzige Person, die von der Schwangerschaft und dem Abbruch weiß. Das finde ich schlimm, dass viele Frauen sich nicht einmal trauen, mit ihrer besten Freundin darüber zu sprechen. Sie sind dann so allein damit.

Was müsste passieren, damit weniger Abbrüche stattfänden?

Ganz einfach: Es müsste kostenlose Verhütungsmittel geben. Für alle. Das würde wirklich helfen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess.

Sendung: rbb24 Inforadio, 31.03.2023, 13 Uhr

39 Kommentare

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  1. 39.

    "Naja, finanzielle Einbußen, weniger Urlaub sich leisten können, Kita suchen müssen…, das macht das Leben schon unbequemer." Das ist nicht "unbequem", das sind wichtige Argumente, wenn man über Familieplanung spricht. Das beginnt doch schon damit, dass man ev. eine größere Wohnung benötigt, die man sich ev. nicht leisten kann, vor allem, wenn das zweite Einkommen fehlt. Wenn ich mich selbst nur mit Mühe und Not über Wasser halten kann, in was für eine Welt setze ich ein Kind?

  2. 38.

    "Es ist erschreckend zu lesen, wie viele"gute Gründe"die verantwortungsbewussten Frauen haben, die Schwangerschaft abzubrechen." Mehr erschreckend finde ich, wie viele Kinder trotz "guter Gründe" zur Welt kommen und dann wegen der "guten Gründe" verwahrlosen, misshandelt oder sogar getötet werden.
    "Es ist erschreckend, wie wenig Worte für die "Sternenkinder" übrig bleiben." Sternenkinder haben nichts mit Abtreibung zu tun....

  3. 37.

    Eine kinderfreunliche Gesellschaft braucht jedes Land, und die Politik kann auch da nicht alles richten.
    Bei Schwangerschaaftsabbrüchen, geht es weniger um Kitas etc., sondern um ganz andere Probleme.

  4. 36.

    Es gibt aus gutem Grund schon lange nicht mehr die Schuldfrage bei Trennungen. Sie ahnen warum?


    Niemals kann die Allgemeinheit verantwortlich, vor allem finanziell, dafür gemacht werden, weil die Allgemeinheit auch kein Mitspracherecht bei Ihrer Auswahl hat. Sie „müssen“ nicht auf andere schielen.

  5. 35.

    Naja, finanzielle Einbußen, weniger Urlaub sich leisten können, Kita suchen müssen…, das macht das Leben schon unbequemer.
    Das waren doch Argumente hier

  6. 34.

    Stimmt genau, auch Ärztinnen werben FÜR das Leben, Sie wollten es ihnen nur gerade absprechen!

  7. 33.

    Wenn Menschlichkeit antiquiert ist, dann wäre ich es gerne, mit Religiosität hat das jedenfalls nichts zu tun.
    Glauben Sie wirklich, dass nur religiöse Menschen für das Leben werben?
    Einfaches Denkschema….

  8. 32.

    @Inga - das soll dann wohl heißen, dass sich Frauen aus „Bequemlichkeit“ für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden…! Wie kommt man bitte auf solche Ideen?

  9. 31.

    Ärzte und Ärztinnen „werben“ nicht FÜR Schwangerschaftsabbrüche - auch wenn das in kirchlich religiösen Kreisen des vorletzten Jahrhunderts gern so dargestellt wird! Sie beraten - und zwar hauptsächlich GEGEN einen Abbruch. Also bitte keine Fakenews ala Telegram und Co!

  10. 30.

    Interessant sind Intro und Exitus dieses Interviews: erst werden finanzielle Gründe, prekäre Beschäftigungen und die Wohnungsnot genannt. Um dann im letzten Satz zu schlussfolgern, man bräuchte kostenlose Verhütungsmittel.

    Nein, man braucht eine familienfreundliche, kinderbejahende Politik, die genau die erstgenannten Gründe für eine Abtreibung obsolet macht.

  11. 29.

    Ich bin auch für das Leben. Ich bin dafür, den Frauen zu helfen, sich in Ruhe und mit Informationen für oder gegen einen Abbruch entscheiden zu können. Ich bin für medizinische Hilfe, damit Frauen nicht mehr in ihrer Not zu Handarbeitswerkzeug oder Chemikalien greifen müssen.
    Ich bin vorallem gegen Vorverurteilung und gegen Behinderung und Bedrohung von Ärzten und Ärztinnen, die sich um diese Frauen kümmern.

  12. 28.

    Schade, dass so viele Kinder nicht ausgetragen werden können, weil wir die Mütter (und Väter) alleine lassen. Ein Kind auszutragen und groß zu ziehen ist unserem Staat anscheinend wenig wert. Dabei benötigen wir dringend mehr junge Menschen. Wer soll die vielen immer älter werdenden Senioren einst ernähren?

    Kinder haben leider keine Wählerstimme. Den §218-Befürwortern, rufe ich zu: "Schafft für werdende Eltern ein gutes Umfeld, damit die gar nicht erst über einen Abbruch nachdenken müssen!"

  13. 27.

    Dafür müsste man sich sie Sterilisation auch finanziell leisten können.
    Wenn ich mir die Verhütung nicht richtig leisten kann, dann das erst Recht nicht.
    Und dann die Hürden, die manche Ärzte vor eine Sterilisation setzen..... Da meinen wieder viele, dass man noch zu jung sei oder keine Ahnung habe oder vielleicht doch irgendwann Kinder haben will.....
    Auch keine Lösung für alles

  14. 26.

    Das ist auch ein Ergebnis daraus, dass Ärztinnen nun dafür werben können

  15. 25.

    Doch ich ich esse, Tiere, Pflanzen zur Lebenserhaltung, nicht zur Bequemlichkeit. Und aus: Mein Körper, mein Recht geht auch Verantwortung hervor, z.B. Verhütung! Anders ist es natürlich bei Gewalttaten u.ä.!

  16. 24.

    @Inga: Ihr erwähntes „Recht Leben nehmen zu dürfen“ finde ich an dieser Stelle deplatziert! Sie essen also keine Pflanzen und oder Tiere ??? Alles Lebewesen per Definition! Also erst mal ganz tief durchatmen! „My body - my choice!“

  17. 23.

    Können Sie mir bitte mitteilen, in welchem Gesetzestext dieses "Grundrecht" von Frauen, in den ersten Schwangerschaftswochen abtreiben zu dürfen, zu finden ist?
    Grundsätzlich bestimmt bei einer Abtreibung eine Frau nicht nur über ihren eigenen Körper, sondern auch über die Existenz eines zukünftigen, bereits gezeugten Lebens mit.
    Wie wäre es, wenn sich alle Menschen, die das Thema Familienplanung abgeschlossen haben, sterilisieren ließen? Dadurch könnte sicher viel Leid verhindert werden.

  18. 22.

    Die betroffenen Frauen brauchen Hilfe, wenn sie ungewollt schwanger sind und keine Moralpredigt. Sie sind aus verschiedenen Gründen verzweifelt. Einen Abbruch lassen sie nicht mal eben so vornehmen.
    Interessant wären Zahlen, wieviele Frauen sich nach der Beratung doch für das Kind entscheiden.
    Vergessen sollte man auch nicht, dass manche Frau, die ungewollt Mutter wurde, nun mit Kind verzweifelt ist.

  19. 21.

    Interessant, ein Grundrecht Leben nehmen zu dürfen.

  20. 20.

    Sie werden sich der Haltung stellen müssen: Die Chance eine Schwangerschaft in den ersten Wochen abbrechen zu können ist ein Grundrecht von Frauen. Alles was wir aus der Geschichte wissen ist: Machen wir das nicht, ist das folgende Massaker noch grösser. Da hilft keine moralische Grundfeste, man selbst würde natürlich niemals nie...
    Ich wünsche Ihnen das. Dass Sie niemals werden drüber nachdenken müssen. Oder mit einem Ihnen bedeutenden Menschen. Ich wünsche keiner Frau eine Situation, in der sie über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken muss. Aber die Gründe dafür sind so vielschichtig, dass ich mir kein Allgemeinurteil erlaube über die Motivation, Hintergründe und Umstände eines Schwangerschaftsabbruchs.
    Und deshalb muss ich mir auch keine verantwortungslose, rumschlampernde Frau vorstellen, die in die Abtreibungsklinik geht als wär es Wellnesshotel.
    Schwangerschaftsabbrüche sinken, wo es Zeiträume für einen legalen gibt. So ist das, wenn man im Thema rational ist.

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