Interview | Rechtsextremismusforscherin zu Schulvorfällen - "Es gibt Milieus, in denen das rechte Weltbild an die Kinder weitergegeben wird"
Die Vorfälle von Rassismus und rechtsradikalen Symbolen an einer Schule im Spree-Neiße-Kreis sorgen für Entsetzen. Rechtsextremismusforscherin Heike Radvan ist davon allerdings nicht überrascht. Im Interview erklärt sie, wieso.
rbb|24: Frau Radvan, die Vorfälle, die jetzt aus einer Schule im Spree-Neiße bekannt geworden sind, dass dort offen rechtsextreme Symbole gezeigt wurden und es zu Gewalt und Einschüchterung kam, hat Sie das überrascht oder nicht?
Heike Radvan: Nein, mich hat das nicht überrascht. Ich kenne Schilderungen solcher Situationen. Nicht nur aus der Schule und ihrem Umfeld, aber eben auch. Dass die Lausitz – wie auch einige andere Regionen –, ein dezidiertes Problem mit Rechtextremismus hat, das ist kein neues Phänomen. Das zeigen schon Forschungen von Kolleginnen und Kollegen aus den 90er Jahren. Zudem kenne ich Pädagog:innen, die damals für das Landesprogramm "Tolerantes Brandenburg" Fortbildungen an Schulen durchgeführt haben. Sie haben mir erzählt, wie schwer es in dieser Zeit war, das Thema Rechtsextremismus an Lehrerkollegien heranzutragen und eine Auseinandersetzung herbeizuführen. Es gibt natürlich immer engagierte Lehrkräfte, aber gerade Rechtsextremismus ist ein Thema, bei dem sich auch immer Leute entscheiden, eher wegzugucken und es eben nicht zu thematisieren oder auch Lehrkräfte, die rechte Einstellungen selbst vertreten. Insofern hat es mich nicht überrascht, weil ich die Situation kenne und weil ich sie geschichtlich gewachsen sehe.
Wenn Sie sagen, das ist geschichtlich gewachsen - Würden Sie sagen, dass das eine Sache ist, die sich auf bestimmte Regionen eingrenzen lässt oder ist hier etwas deutschlandweites nur zufällig an dieser Schule zutage getreten?
Das wirft jetzt diese Ost-/West-Debatte auf, die gerade auch wieder geführt wird. Da würde ich immer sagen: Es gibt Rechtsextremismus auch in Westdeutschland. Es gibt keinen Grund zu sagen, nur der Osten sei braun und im Westen haben wir kein Problem. Dennoch: Wir haben in bestimmten Regionen in Ostdeutschland ein spezifisches Problem mit Rechtsextremismus, da müssen wir genauer hinschauen und Südbrandenburg ist eine davon. Der Unterschied zum Westen ist nicht unbedingt, dass der Rechtsextremismus so unterschiedlich ausgeprägt ist. Einer der Unterschiede besteht darin, dass wir hier eine schwache demokratische Zivilgesellschaft haben. Die ist historisch gewachsen, da 40 Jahre Diktaturerfahrung entsprechende Entwicklungen nur begrenzt möglich machten. Gleichzeitig gab und gibt es immer Menschen, die sich gegen rechts sehr deutlich und über viele Jahre engagieren, oft sehr kreativ und mutig, wirklich beeindruckend. Oft werden sie nur wenig unterstützt, bleiben marginalisiert, das ist das Problem. Wenn man sich die Forschung zu Rechtsextremismus in der DDR anschaut, zeigt sich, dass schon in den 80er Jahren Gruppierungen des Rechtsextremismus hier in der Lausitz verortet waren. In den 90ern haben rechte Kader die Region dann bereits zur Mobilisierung genutzt – also ich würde sagen: Ja, es gibt eine Spezifik in dieser Region, die historisch gewachsen ist.
Wie ist das, was damals nicht in den Griff bekommen wurde, mit Vorfällen heute in Schulen in Zusammenhang zu bringen? Da geht es ja um Jugendliche, die in den 80er und 90er Jahren noch gar nicht geboren waren …
Rechtsextremismus ist kein Jugendproblem, das war es auch noch nie. Jugendliche lernen ihre Einstellung zuerst in ihrer Primärsozialisation - das heißt, es hat viel mit der Prägung im Elternhaus zu tun. Wenn wir uns jetzt anschauen, was das überwiegend für eine Elterngeneration ist: In vielen Fällen sind die Eltern heutiger Jugendlicher Menschen, die in den 90er Jahren Jugendliche oder junge Erwachsene waren. Das ist die Generation, zu der einerseits bzw. zu einem Teil die Täter, Täterinnen, Mitläufer des rechtsterroristischen Netzwerkes "Nationalsozialistischer Untergrund" zählen, Menschen die verantwortlich sind für die Gewalt, die wir heute als "Baseballschlägerjahre" kennen, in der rassistische Pogrome und Gewalt in vielen ostdeutschen Städten – nicht nur in Hoyerswerda und Rostock – stattgefunden haben. Die Baseballschlägerjahre waren davon geprägt, dass die Polizei überfordert war oder selbst ein Rassismusproblem hatte. Wir hatten damals eine starke Dominanz von rechter Alltagskultur in vielen Orten. Das war auch eine Folge von Fehlern, die mit dem Ansatz der "akzeptierenden Jugendarbeit" gemacht wurden. Wenn wir also jetzt danach fragen, woher solche Vorfälle an Schulen heute kommen, dann sollten wir feststellen, dass das ein gewachsenes, gesamtgesellschaftliches Problem ist, weil dem Rechtsextremismus damals nicht wirksam entgegengetreten wurde.
Man könnte also den Schluss ziehen, Kinder von Eltern, die in ihrer eigenen Jugend selbst rechtsextreme Tendenzen gezeigt oder sogar Gewalttaten verübt haben, wären heute anfälliger für Rechtsextremismus?
Ja, ich würde das allerdings genau so vorsichtig ausdrücken, wie Sie es getan haben. Menschen können sich ändern und aus der rechten Szene aussteigen. Wir sehen in der Forschung allerdings, dass es eine Kontinuität gibt. Menschen, die sich in den 90er Jahren entschieden haben, gewalttätig zu werden und sich in rechtsextremen Gruppierungen zu organisieren, haben – selbst wenn sie heute nicht mehr aktiv sind – ihr Weltbild in vielen Fällen nicht oder nur wenig geändert. Es gibt solche Milieus, Personen, die nicht aus diesem Weltbild ausgestiegen sind und die das heute an ihre Kinder weitergeben. Da kann man von rechten Familienstrukturen sprechen. Das zeigt sich auch in Bezug auf längere Zeitabschnitte: So gibt es Forschung zum Wahlverhalten in Orten - zum Beispiel in Vorpommern und anderen Regionen - die zeigt, dass bereits in den späten 1920er Jahren rechte Parteien einen signifikant hohen Zuspruch erhalten haben - also vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. In diesen Orten hatte später in den 90er Jahren auch die NPD wieder ein besonders hohes Wahlergebnis. Bei einer gering ausgeprägten demokratischen Zivilgesellschaft, bei einer ausbleibenden Reaktion von demokratischen Politikerinnen und Politikern kann sich eine rechte Dominanz in einer Region forttragen und das beobachten wir auch in einigen Dorfgemeinschaften.
Ein anderer Weg, wie der Rechtsextremismus an eine Schule kommt, könnte auch eine systematische Rekrutierung aus dem rechten Lager sein. Gibt es auch das?
Also was man sieht ist, dass zum Beispiel online über bestimmte Themen und Interessen – Musik, Gaming, Lifestyle – an junge Leute herangetreten und rechte Ideologie vermittelt wird. Geschlecht ist mir da eine viel zu wenig beachtete Kategorie. Was könnte beispielsweise für einen männlichen Jugendlichen ein Einstiegsgrund sein? Das Versprechen, dass ich als deutscher Mann stark und wehrhaft bin, so eine soldatische Männlichkeit – eine vermeintliche Überlegenheit. Damit sprechen rechte Gruppierungen online junge Leute an. Natürlich gibt es auch, wenn wir uns die Kleinstpartei "III. Weg" anschauen - eine Organisation, die in Sachsen, aber auch Brandenburg unterwegs ist - Ansprache für junge Menschen über aktionsorientierte Angebote, Fahrten, Lager, in denen zum Beispiel über rechte Esoterik, Mythologie entsprechende Ideologie vermittelt oder gelebt wird. In Cottbus und dem Umland gibt es rechte Modelabel, über die junge Leute angesprochen werden sollen.
Wenn es in einem Dorf eine rechte Dominanzkultur gibt, also wenig Alternativangebote und Ausgrenzung von sowie Gewalt gegenüber migrantischen, linken oder queeren Jugendlichen, dann können Jugendliche mit entsprechender Vorprägung auch darüber in eine rechte Gruppierung herein rutschen. Das ist jedoch immer auch eine Entscheidung und schließt an Einstellungen und Erfahrungen an, die diesen Schritt nahelegen. Wenn Jugendliche einen demokratischen Erziehungsstil verlässlich erlebt und keine Gewalt von nahen Bezugspersonen erfahren haben, ist es wahrscheinlicher, dass eine Distanz zu rechten Angeboten da ist. Eines kann man aber sagen: Zufällig ist der Einstieg in eine rechte Gruppe nicht. Das zeigt Forschung, aber auch Aussteigerbiografien. Der Einstieg hat ja eine bestimmte Funktion im Leben und das muss passen mit Werten, die vorgelebt wurden.
Wenn wir abschließend nochmal auf den konkreten Fall in Spree-Neiße schauen. Da wird ja auch geschildert, dass sehr plakative Symboliken und Ausdrücke des Nationalsozialismus wie der Hitlergruß gezeigt wurden. Spricht so etwas eher für oder gegen die Zugehörigkeit zu einer organisierten rechtsextremen Szene?
Häufig wird die Frage auch so gestellt: Kann das eine Provokation sein? Die Erfahrung zeigt: In den allermeisten Fällen ist es das nicht. Aber das kann ich aus der Entfernung nicht abschließend beurteilen, da muss man genauer hingucken. Das ist genau die Aufgabe von Pädagog:innen. Wenn so etwas passiert, muss man nachfragen, man muss Grenzen setzen und sich positionieren. Die Schule ist immer noch ein pädagogischer Raum. Wenn es allerdings eine rechte Dominanz gibt, Schülerinnen und Schüler sich entscheiden, Gewalt gegen andere auszuüben und gleichzeitig davon ausgehen können, dass Lehrer:innen wegschauen, dann haben wir ein größeres Problem. Hier greift auch die Verantwortung verschiedener Akteure, nicht zuletzt auch zuständiger Behörden. Die Lehrer:innen – die die Situation öffentlich machen, verhalten sich außerordentlich verantwortlich, aber auch mutig, leider ist das nicht selbstverständlich und ich finde, ihnen sollte angemessen gedankt werden.
Die Situation, die diese Lehrer:innen beschreiben, ist Ergebnis eines Prozesses, der von Wegschauen, Ignoranz, Empathielosigkeit, mangelnder Solidarität mit den Betroffenen rechter Gewalt und Ausgrenzung geprägt ist. Das passiert nicht von heute auf morgen. Ob die tätlichen Jugendlichen jetzt organisiert sind oder nicht und ob die ein geschlossenes rechtes Weltbild haben oder nicht, das sind genau die Dinge, die ich im Gespräch herausfinden muss und dann angemessen intervenieren, unter Umständen auch mit Sicherheitsbehörden. Die Beschreibungen im Brief und den Berichten gegenüber der Presse vermitteln bereits ein Bild, das von einer rechten Dominanzkultur zeugt.
Die dementsprechend schwer in den Griff zu bekommen sein dürfte - oder?
Wir müssen lernen aus Fehlern, die in den vergangenen Jahrzehnten gemacht wurden. Rechtsextremismus ist kein Jugendproblem, das ist zu kurz gedacht. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Antwort, ein entsprechendes Handlungskonzept, das auf den verschiedenen Ebenen in der Stadtgesellschaft ansetzt und letztlich auch in der Institution Schule.
Wir haben gerade ein entsprechendes Handlungskonzept gegen extrem rechte Einflussnahme an der BTU entwickelt und machen gute Erfahrungen damit, das Problem proaktiv anzusprechen, Grenzen zu setzen, Betroffene zu schützen und zu unterstützen, Transparenz herzustellen – auf jeden Fall das Problem nicht zu beschweigen. Bildungsinstitutionen sind immer im Gemeinwesen integriert. Es betrifft Eltern, generationsübergreifend die Familien, Vereine, lokale Unternehmen - alle in der Stadt und im Land sind in der Verantwortung. Wir brauchen eine breite Antwort darauf, zu allererst braucht es eine deutliche demokratische Haltung und eine ernsthafte Hinwendung zum Problem.
Ich erinnere mich an den öffentlichen Brief von Lehrer:innen der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln 2006. Das Problem wurde unter muslimischen Jugendlichen ausgemacht und es gab eine große und langanhaltende mediale Aufmerksamkeit. Jetzt betrifft es ein Problem, das aus der Mehrheitsgesellschaft kommt und nicht ins vermeintliche Außen weggeschoben werden kann. Es braucht ehrliche Kritik und es braucht einen Prozess, in den die Nachbarschaft und das Gemeinwesen eingebunden wird. Für den Öffnungsprozess an der Rütli-Schule haben sich aber auch Stiftungen, Land und Bund verantwortlich gefühlt, da wurde viel Geld in die Hand genommen, marginalisierte und strukturell diskriminierte Gruppen wurden zentral eingebunden – ohne all das geht es auch nicht - es braucht eben auch mehr als Geld. Wir brauchen eine konzertierte Antwort auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Simon Wenzel, rbb|24.
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.04.2023, 12:20 Uhr