Interview | Soziologe Albert Scherr - "Es ist eine Zunahme fremdenfeindlicher und rassistischer Stimmungslagen erkennbar"
Wer sich in Berlin bewegt oder Nachrichten liest, könnte meinen, die Hemmschwelle für Übergriffe sei gesunken. Dem ist nicht so, sagt der Soziologe Albert Scherr. Es zeige sich aber, dass gerade nicht deutsch gelesene Menschen durchaus mehr attackiert werden.
rbb|24: Von vielen Menschen - darunter auch von People of Colour - ist derzeit zu hören, dass sie sofort rassistisch attackiert werden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit nicht so verhalten, wie es erwartet wird und beispielsweise über eine rote Fußgängerampel laufen. Ist es inzwischen normal, andere blöd anzumachen?
Albert Scherr: Dass es normal ist, würde ich nicht sagen. Aber es ist tatsächlich erkennbar, dass es eine Zunahme fremdenfeindlicher und rassistischer Stimmungslagen gibt - und damit auch eine höhere Bereitschaft, Menschen, die als nicht deutsch gelesen werden, auf Ruhe, Ordnung und Regeln hinzuweisen oder gar zu beschimpfen.
Sind von vermehrten verbalen oder auch von etwaigen gewalttätigen Übergriffen noch mehr Gruppen als die nicht deutsch-Gelesenen betroffen?
Einigermaßen seriös kann man sagen, dass es dabei primär um Menschen geht, die als Fremde oder Ausländer gelesen werden. Eine Tendenz zu genereller Enthemmung gegenüber allen möglichen Minderheiten ist nicht wissenschaftlich belegbar.
Ist die Hemmschwelle vieler potenziell gewaltbereiter Menschen gesunken - gibt es dafür empirische Hinweise?
In dieser Allgemeinheit würde ich sagen: nein. Es gibt immer wieder lokale Hinweise und es gibt Ereignisse, die das Nachdenken darüber provozieren - darunter fallen beispielsweise die Messerangriffe der letzten Jahre, die von der Qualität her ein neues Phänomen sind. Aber es ist kein Massenphänomen und es gibt meines Wissens keinen Hinweis auf eine generelle Zunahme von Gewalt.
Wenn Sie sagen, nicht deutsch gelesene Menschen würden tatsächlich derzeit öfter Opfer von Gewalt. Kann man etwas über die Täter sagen?
Da handelt es sich primär um junge Männer. Wenn es um physische Gewalt geht, reden wir eigentlich immer über diese Tätergruppe. Jung heißt in diesem Zusammenhang bis Mitte/Ende 20 Jahre. Und wir reden vor allem über junge Männer mit einem eher geringen Bildungsniveau.
Was trägt dazu bei, dass diese Gruppe so agiert? Welchen Einfluss haben soziale Medien und die Anonymität im Netz auf den Umgangston und auch auf mögliche Enthemmungen?
Es gibt eine Enthemmung der Kommunikation in den sozialen Medien. Das ist der Fall, weil die Struktur dort dazu führt, dass man sich in einem Raum der Anonymität fühlt. Und zugleich in einem Raum, in dem die üblichen Spielregeln von angemessener Kommunikation außer Kraft gesetzt werden. Da geht es um die Enthemmung auf der Ebene verbaler Äußerungen und Bilder. Das übersetzt sich nicht unmittelbar in das, was man außerhalb der Medien in der Wirklichkeit tut.
Wo es ohne Zweifel einen Zusammenhang gibt, ist: Wenn Hass, Feindseligkeit oder Vorurteile gestreut werden in den sozialen Medien, werden Personen oder Gruppen quasi freigegeben für Belästigungen und verbale Angriffe. Und vielleicht auch für Gewalt.
Einen anderen Zusammenhang gibt es bei rechtsradikaler politischer und islamistischer Radikalisierung. Solche Radikalisierungsdynamiken werden oft durch Kommunikation in den sozialen Medien unterstützt, wenn nicht gar angestoßen.
Sehen Sie Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, was die Gewalt- und Eskalationsbereitschaft gegenüber nicht deutsch gelesenen Menschen betrifft?
Nach allem, was wir von Umfragedaten, Wahlergebnissen und Alltagsberichten wissen, ist das Niveau der Feindseligkeit gegenüber migrantischen Menschen in großen Teilen Ostdeutschlands deutlich höher als in großen Teilen Westdeutschlands. Relativierend muss ich sagen, dass es sowohl im Osten als auch im Westen einen Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Regionen gibt. Die Selbstverständlichkeit und die Akzeptanz und Normalität, mit der man in westdeutschen Großstädten inzwischen davon ausgeht, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, gibt es so weder in den ländlichen Regionen Westdeutschlands noch in Ostdeutschland. Es bildet sich also nicht alles nur auf der Ost-West-Achse ab.
Was in vielen Debatten übersehen wird, ist folgendes: Wenn man sich die Westdeutsche Entwicklung anschaut, war es beginnend mit den 60er Jahren ein Prozess von 30 bis 40 Jahren, bis man sich endlich daran gewöhnt hatte, dass man eine Einwanderungsgesellschaft ist. Ein vergleichbarer Prozess hat in der ehemaligen DDR und auch später in Ostdeutschland nicht stattgefunden.
Manche Menschen begründen ihr aggressives Verhalten mit dem Gefühl, "nicht mehr gehört zu werden" oder "nichts mehr sagen zu dürfen". Wie bewerten Sie dieses Argument aus soziologischer Sicht?
Es gibt in der soziologischen Gewaltforschung eine elementare Einsicht. Sie sagt, dass das, was Menschen hinterher an Begründungen formulieren, mit den Ursachen oft wenig zu tun hat. Gerade Gewalttäter wollen sich und anderen erklären, warum das, was sie getan haben, irgendwie akzeptabel oder sinnvoll war. Sie legen sich eine Rechtfertigung zurecht, von der sie hoffen, dass sie von anderen akzeptiert wird. Da geht es also erst einmal um Rechtfertigungsmuster, die von den eigentlichen Gefühlen, Motiven und Empfindungen zu unterscheiden sind, die zur Tat geführt haben. Leider handelt es sich dabei oft um Rechtfertigungsmuster, bei denen sie tatsächlich mit einiger Akzeptanz rechnen können. Obwohl sie sachhaltig betrachtet wenig hergeben. Es werden mit solchen Aussagen - von der populistischen Rechten absichtsvoll - Mythen gepflegt, die den Menschen ein völlig verzerrtes Realitätsbild einreden.
Was könnten die wirklichen Motive der Täter sein?
Da geht es um Gefühle des Bedroht- und Verunsichertseins im eigenen Selbstverständnis. Oft geht es auch um ein gelerntes männliches Muster, dass erlaubt, mit Gewalt und Aggression auf alles zu reagieren, was unangenehm und schwierig erscheint. Das sind psychologische Reflexe.
Gibt es, wenn hier vorwiegend migrantische Menschen vermehrt attackiert werden, aus Ihrer Perspektive Parallelen zu historischen Phasen, in denen hierzulande gesellschaftliche Hemmschwellen für Gewalt ebenfalls gesunken sind?
Da sehe ich eine Parallelität erst einmal zu den frühen 1990er Jahren. Im Osten waren das die sogenannten Baseballschlägerjahre. Damals kam es vor dem Hintergrund einer extrem hoch aufgeladenen politischen Debatte über Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien zu Gewalt und Aggression gegen Flüchtlingsunterkünfte. Wenn man historisch weiter zurückschauen will, wird es schwieriger, weil die Größenordnungen anders sind. Doch es gibt auch eine gewisse grobe Ähnlichkeit zu dem, was in den 30er Jahren geschehen ist.
Man kann das weltweit immer wieder sehen: Wenn eine politische Debatte eine bestimmte Gruppe zur Problem- und Feindesgruppe erklärt, übersetzt sich das in verbale Aggression und Gewalt auf der Alltagsebene.
Was müsste gesamtgesellschaftlich geschehen, um dieser Entwicklung jetzt hier bei uns entgegenzuwirken?
Auf diese Frage müsste ich eine mehrstündige Antwort geben. Die Kernpunkte wären erstens, dass es verstärkte Einwirkungen, Regulierungen und Kontrollen der sozialen Medien bräuchte. Zudem müssten die, die in der politischen Verantwortung sind, lernen, in einer Weise über Migration und Gesellschaft zu reden, die nicht permanent das Bild von Bedrohung, Kriminalität und Gewalt mit Migration assoziiert und die nicht ein völlig überzogenes Feindbild in die Öffentlichkeit vermittelt. Da ist die Politik tatsächlich aufgefordert, sich über die Konsequenzen ihrer Sprech- und Redeweisen Gedanken zu machen.
Außerdem geht es hier auch um eine Bildungsfrage. Man muss junge Menschen befähigen, sich mit der Wirklichkeit ihrer Gesellschaft und einer Einwanderungsgesellschaft informiert auseinanderzusetzen.
Was aber in der Realität passiert, ist ja, dass staatliche und soziale Institutionen sich immer weiter zurückziehen oder abgebaut werden.
Ich würde eine generelle Abbautendenz nicht unterschreiben wollen. Klar gibt es Finanzierungs- und Personalprobleme - beispielsweise in den Schulen, zum Teil auch in der außerschulischen Jugend- und Jugendbildungsarbeit. Aber das Problem ist vielmehr die Frage, was in der Schule vermittelt wird. Man muss fragen, welchen Anteil Menschenrechtsbildung, antirassistische Bildung oder das kritische Verstehen der eigenen Alltagswirklichkeit dort haben.
In den Schulen hat man den Fokus auf Mathematik und Naturwissenschaften gesetzt. So sollten am Ende gute Ingenieure rauskommen. Man hat weniger drüber nachgedacht, wie gute Demokraten aus den Schülern werden. Das halte ich für ein Riesenproblem. Hinzu kommen die großen Defizite, die es bei den Themen wie Rassismus und Migration auch in der Lehrer- und Lehrerinnenbildung gibt.
Zur der Generaldebatte würde ich aber insgesamt noch sagen wollen, dass Medien generell dazu neigen, dramatisierende Dynamiken aufzubauen. Damit tut man aber niemandem einen Gefallen. Wenn man aus Einzelereignissen und Alltagsbeobachtungen Trenddiagnosen konstruiert und damit das Bild "Alles werde immer schlimmer" schürt, wird man der Realität nicht gerecht. Empirisch wissen wir, dass das Niveau der Gewalt in Deutschland in den letzten 30 Jahren in der Tendenz deutlich rückläufig ist.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
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