#Wiegehtesuns? | Suchtabhängigkeit - "Es ist ein starkes Gefühl, das Dir den Befehl gibt: Trinke!"
Mia war alkoholabhängig. Die Weihnachtszeit ist für sie eine besondere Herausforderung, denn Alkohol ist dann überall präsent. Mia hat Strategien entwickelt. um die Versuchung auszutricksen – und ist seit über sechs Jahren trocken. Ein Gesprächsprotokoll
In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht - persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Mia Gatow ist als Autorin, Illustratorin und Designerin in Berlin unterwegs. Bis vor sechs Jahren war sie alkoholabhängig. Mit ihrem Podcast "Sodaklub" will Mia Gatow Menschen helfen, trocken zu bleiben. Das ist Mias Geschichte:
Wenn ich auf dem Weihnachtsmarkt bin, nehme ich diesen Alkoholgeruch immer noch krass wahr. Mittlerweile löst er bei mir nicht mehr sofort den Wunsch aus, zu trinken – ich bin ja seit mehr als fünf Jahren nüchtern. Aber von früher kenne ich das schon. Diese Sehnsucht, speziell bei Wein. Ich war Rotwein-Trinkerin und habe beim Geruch von Rotwein wirklich gemerkt, wie mein ganzes System teilweise gesagt hat: Trink das!
Ich glaube, dass viele der Leute, die auf den Weihnachtsmarkt gehen, wegen des Glühweins dort hingehen. Es ist nun mal das Geschäftsmodell von Weihnachtsmärkten. Und die Lieblingsstrategie der Industrie an Weihnachten: dass man Romantik und Alkohol verbindet. Das Zusammenkommen von Menschen wird instrumentalisiert. Wenn dieses Community-Ding immer mit Alkohol verknüpft wird, dann hat man natürlich irgendwann Angst, dass es vorbei ist mit der Gemeinschaft, wenn man nicht mehr trinkt.
Diese Art und Weise, wie wir das Alkoholtrinken als Gesellschaft normalisieren, ist im Prinzip schockierend. Es muss mal gesagt werden: Alkohol ist eine Droge. Nicht nur ein Lebensmittel, sondern eine Droge, die stark abhängig macht, die viele Leute umbringt, die für ganz viele Krankheiten verantwortlich ist. Und dass viele Erwachsene im Alltag trinken, dass das einfach dazugehört – das finde ich mittlerweile völlig absurd.
2017 war ich bei den Anonymen Alkoholikern. Ich denke, ich war nicht körperlich abhängig. Aber es ist halt auch eine sehr schwammige Grenze mit dieser körperlichen und psychischen Abhängigkeit. Ich hatte keine zitternden Hände am Morgen. Ich habe nicht morgens Wodka getrunken, diese ganzen Sachen, die man sich unter einem Alkoholiker oder einer Alkoholikerin vorstellt, die habe ich noch nicht erfüllt.
Aber: Ich habe mir 24/7 Gedanken ums Trinken gemacht. Ich habe die ganze Zeit versucht, es zu kontrollieren und mir Regeln zu machen. Es war ein ständiges Gezerre an mir selbst. Und das ist Abhängigkeit.
Für Leute, die gerade erst aufgehört haben und vielleicht noch gar kein nüchternes Weihnachten hatten, für die ist diese Zeit natürlich ein riesiger Gefahrenpunkt. Nicht nur wegen dieser Atmosphäre und wegen dieser Trigger, sondern auch deswegen, weil es natürlich - wenn man mit Familie konfrontiert ist - ganz oft Konfliktpunkte gibt. Oder irgendwelche Sachen, die das ganze Jahr über geschwelt haben und dann ausbrechen, das ist ja auch emotional stressig.
Ich denke, es ist ganz wichtig, sich auf Situationen vorzubereiten. Was macht man, wenn man plötzlich getriggert ist oder wenn man gefragt wird: Warum trinkst du nicht? Was sagt man dann, das muss man ganz genau durchplanen. Denn wenn man unvorbereitet da rein geht, hat man keine Chance. Diese Wellen von Sehnsucht - die überraschen einen. Und wenn man sich nicht irgendwo anbindet vorher, dann schwemmen die einen weg.
Seit mehr als fünf Jahren habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Und ich habe einen Podcast gegründet mit meiner nüchternen Kollegin Mika, weil wir beide das Gefühl hatten: Nüchterne Leute werden nie gefragt. Wir reden über unsere eigene Geschichte und darüber, was man tun kann, wenn man aufhören will. Was sich verändert, wenn man so eine Abhängigkeit hinter sich lässt. Auch Anleitungen gibt es da - was man tun kann, wenn es schwierig ist, zum Beispiel in der Weihnachtszeit.
Ein beliebter Trick ist zum Beispiel, sich den Film sozusagen bis zum Ende anzukucken.
Wenn man jetzt den Wunsch hat, zu trinken, stellt man sich vor, was dann alles passiert: Man trinkt das erste Glas, dabei bleibt es nicht, denn man ist ja abhängig. Dann ist es irgendwann das fünfte, dann ist man irgendwann betrunken. Man vergisst Sachen. Man benimmt sich daneben. Man schreibt irgendeinem Typen peinliche Nachrichten und fühlt sich am nächsten Tag grauenhaft. Und sich das alles so einmal durchzuspielen, das hilft häufig schon, das dann einfach nicht zu machen.
Es stimmt natürlich: Es ist ein starkes Gefühl, das dir den Befehl gibt: Trinke! Ein großer, starker Imperativ. Aber es lässt sich ziemlich leicht austricksen, indem man einfach was anderes trinkt, oder einmal um den Block läuft oder irgendwas anderes tut, um den Gefühlszustand zu ändern. Das ist es nämlich: Man möchte einfach den Gefühlszustand, in dem man ist, ändern. Das kann man aber auch ohne Alkohol machen. Man kann auch einfach kalt duschen oder in ein Stück Zitrone beißen und diesen Schub sozusagen in andere Richtung lenken. Und wenn Leute einen zum Trinken drängen: Man muss nicht bleiben. Man kann auch einfach gehen. Und es ist auch egal, ob die Leute das nicht verstehen oder verletzt sind, weil: die Nüchternheit ist wichtiger. Das kann man auch für sich selbst so beschließen, dass das einfach die oberste Priorität hat. Alles andere muss sich dem unterordnen.
Und wenn’s mit der Familie knallt? Kann man Krisentelefone anrufen. Es gibt in Berlin generell sehr viele Angebote: Die Anonymen Alkoholiker, das Blaue Kreuz, Suchtgruppen für Frauen.
Mein Vater war Alkoholiker, der ist daran gestorben. Auf der väterlichen Seite meines Vaters hatten alle ein Alkoholproblem. Und das Schöne: Alle haben unabhängig voneinander in den letzten Jahren aufgehört zu trinken. Früher war Weihnachten ein sehr großes Saufgelage, und jetzt ist es das komplette Gegenteil. Die Kinder in der Familie erleben auch das komplette Gegenteil von dem, wie wir es damals erlebt haben.
Für uns Kinder war Weihnachten früher immer mit Trinken verbunden. Alkohol hat immer dazugehört. Es war immer fester Bestandteil des Rituals. Deshalb habe ich auch lange gebraucht, um überhaupt Abhängigkeit an mir selbst zu sehen, weil das für mich so normal war, dass alle einfach immer trinken. Und ich finde es so schön, dass die Kinder meiner Cousins es heute anders erleben.
Gesprächsprotokoll: Anja Herr
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Sendung: rbb24 Abendschau, 22.12.2022, 19:30 Uhr