Steigende Belastung für pflegende Angehörige - Der größte Pflegedienst der Nation
Unsichtbar, erschöpft, oft ohne die nötige Zeit und inzwischen auch finanziell zunehmend belastet: Warum Angehörige von Pflegebedürftigen immer mehr selbst mit anpacken müssen und wie die Politik sie entlasten könnte. Von Franziska Hoppen und Leonie Schwarzer
Eigentlich müsste Jochen Springborn jetzt arbeiten. Stattdessen steht der 53-jährige Ingenieur in seiner Küche in Berlin und gießt Tee in eine Schnabeltasse. Springborn ist im Homeoffice, fast nur noch. Nur so kann er seine kranke Frau pflegen. Seit mehr als zwanzig Jahren sitzt sie im Rollstuhl. Sie leidet an Multipler Sklerose, kann nur noch wenig sprechen. Springborn kümmert sich jetzt immer öfter um sie, wenn er nicht arbeitet. Ihn unterstützt ein Pflegedienst, der mehrmals am Tag nach Hause kommt.
Bislang ging dieses Modell gut auf. Die Pflege kostete rund 4.000 Euro pro Monat. Die Versicherung zahlte die Hälfte, Springborn den Rest, wie er erzählt. Er arbeitete Vollzeit, konnte sich das leisten. Mit dem Pflegedienst seien er und seine Frau sehr zufrieden gewesen. Doch dann kam ein Brief: Weil die Mindestlöhne für Pflegekräfte seit September deutlich gestiegen sind, sollte die Pflege bei den Springborns plötzlich 5.300 Euro pro Monat kosten, ein Drittel mehr. Die Versicherung aber zahlt weiterhin nur den alten Satz. Ein Schock, denn jeden Monat 3.300 Euro aus eigener Tasche zu zahlen, schafft der Ingenieur nicht. "Das zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Da weiß man ein paar Tage lang nicht, wie das Leben weitergehen soll", sagt Springborn.
Zuviel für staatliche Hilfe, zuwenig für den Pflegedienst
Der Berliner findet eine Lösung, wenngleich eine bittere. Er entscheidet sich, einige der Pflegeleistungen einzusparen, bestellt sie ab. Sein Arbeitgeber, die Evangelische Schulstiftung, lässt ihn so viel wie nötig von zuhause aus arbeiten. Davor war Springborn eigentlich viel unterwegs, inspizierte Schulen in Berlin und Brandenburg. Aber jetzt muss er Aufgaben des Pflegedienstes übernehmen.
Auch Freunde und Verwandte springen ein. Im Flur der Springborns hängt eine Deutschlandkarte, mit vielen bunten Stecknadeln. "Das ist unser Netzwerk von Freunden. Jeder hilft uns nach seinen Fähigkeiten und dem was er leisten kann, durch Beratung, Einkaufen, in finanzieller Art oder moralisch", sagt Springborn. Denn für Sozialhilfe, wie zum Beispiel "Hilfe zur Pflege" oder Wohngeld kommt das Paar nicht in Frage: Springborn verdient zu viel – und doch zu wenig, um sich die Pflege seiner Frau leisten zu können.
Unsichtbare Angehörige
So wie Springborn und seiner Frau dürfte es vielen Familien in Berlin gehen. Rund 160.000 Menschen werden laut Statistischem Landesamt zuhause gepflegt. Mit etwa 86 Prozent machen sie den Großteil aller Pflegebedürftigen in der Stadt aus. Die Fachstelle für pflegende Angehörige schätzt, dass sich bis zu 230.000 Familienangehörige um sie kümmern. Springborn nennt das "den größten Pflegedienst der Nation".
Und obwohl diese Menschen zusammengerechnet viele Wählerinnen und Wähler ergeben, sind Pflegebedürftige und pflegende Angehörige in der Stadt kaum sichtbar. "Diejenigen, die jemanden zuhause pflegen, sind damit ausgelastet. Wir haben keine Energie, keine Kraft und keine Zeit, Lobby-Arbeit zu machen", sagt Springborn.
Dabei wäre genau das jetzt dringend nötig: Denn nicht nur die Pflegekosten werden teurer, auch Lebensmittel, Strom und Gas. Und während Patientinnen und Patienten im Pflegeheim Zuschüsse bekommen, gilt das für Menschen, die zuhause gepflegt werden nicht. Immerhin, sagt Springborn, er liege deshalb nachts nicht mehr wach. "Ich schlafe wie ein Stein. Weil ich einfach total fertig bin", sagt er. Aufstehen muss er jede Nacht trotzdem, um sich um seine Frau zu kümmern. Tagsüber habe er kaum Zeit sich zu fragen, wie es ihm geht, "weil ich so beschäftigt bin."
Sozialverband: Angehörigen gehen pro Jahr rund zwölf Milliarden Euro verloren
Springborn sagt, er wünsche sich dringend finanzielle Unterstützung, mehr Geld für alle pflegenden Angehörigen. Er hat sogar Kontakte zur Berliner Politik geknüpft - doch die kann nur wenig tun. Das Pflegegesetz ist Bundessache. "Hierzu muss es auf Bundesebene eine heftige Reform des Pflegegesetzes geben", sagt die Gesundheitssenatorin Ulrike Gote von den Grünen. Damit die Kassen Angehörige stärker unterstützten, damit mehr steuerfinanzierte Leistungen mit einflössen. Berlin könnte höchstens eine Bundesratsinitiative anstoßen - doch so etwas dauert. Schneller wäre eine andere Maßnahme.
Bisher gibt es für Angehörige verschiedene Zusatzleistungen, die sie nur für bestimmte Zwecke einsetzen dürfen: Geld für die stationäre Pflege in der Nacht oder am Tag, Geld für Verhinderungspflege, wenn Angehörige mal eine Auszeit brauchen und Geld für Kurzzeitpflege in einer stationären Einrichtung. Dazu kommt ein monatlicher Entlastungsbetrag. Wird dieses Geld nicht genutzt, verfällt es. So gehen Angehörigen laut des Sozialverbands VDK rund zwölf Milliarden Euro pro Jahr verloren - allein schon, weil es die stationären Plätze, die sie vielleicht gerne nutzen würden, gar nicht gibt.
Ein einziges Budget statt verschiedener Fördertöpfe
Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP auf Bundesebene ist das Ziel festgehalten, das Geld aus diesen verschiedenen Töpfen zu einem Entlastungsbudget zusammenzufassen. Aus diesem sollen sich Angehörige flexibel bedienen können, je nachdem, wofür sie gerade Geld brauchen. Die Berliner FDP-Fraktion hat gerade einen Antrag ins Abgeordnetenhaus eingebraucht, der den Senat auffordert, dahingehend auf den Bund einzuwirken. "Das ist erstmal ein Brandlöscher", sagt Tobias Bauschke, sozialpolitischer Sprecher der FDP.
Doch auch hier kann das Land Berlin lediglich eine Bundesratsinitiative starten oder, was schneller gehen könnte, das Thema bei den Gesundheitsministerkonferenzen einbringen, damit die sich wiederum für eine Gesetzesänderung einsetzen. Bauschke schätzt, dass ein solches Entlastungsbudget innerhalb von sechs Monaten umgesetzt werden könnte - wenn der politische Wille da sei.
"Damit zwischen uns nicht die Pflege alles bestimmt"
Für Springborn und seine Frau wäre das ein Anfang, sagt er. Eine Viertelmillion Euro haben sie allein in den letzten zehn Jahren in die Pflege investiert. Nun steigt diese Summe – trotz ihrer Einsparungen beim Pflegedienst – immer weiter. "Ich bin zufrieden, wenn es eine schwarze Null am Ende des Jahres gibt", sagt Springborn. Überhaupt, er wirkt bescheiden. Dass er neben seinem Acht-Stunden-Job auch noch den Rest der Zeit mit der Pflege seiner Ehefrau verbringt, das sei eben Verantwortung.
Die kurzen Nächte, weil seine Frau auch dann Hilfe braucht: eine Sache der Gewöhnung. Mehr finanzielle Entlastung wünscht sich Springborn vor allem, um endlich wieder mehr Zeit mit seiner Frau zu haben: "Damit zwischen uns nicht die Pflege alles bestimmt, sondern das Zusammensein im Vordergrund steht", sagt Springborn. Schön wäre mal wieder ein Konzertbesuch oder eine Reise – doch dieser Traum ist erst einmal in weite Ferne gerückt.
Sendung: rbb24 Abendschau, 17.12.2022, 19:30 Uhr
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