Kommentar | Razzia gegen die "Letzte Generation" - Wer überzieht hier eigentlich?

Do 25.05.23 | 19:01 Uhr | Von Michael Schon
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Polizisten laden bei einer Hausdurchsuchung in Berlin-Kreuzberg einen Karton in ein Fahrzeug. Polizei und Staatsanwaltschaft haben im Zuge eines Ermittlungsverfahrens zu Mitgliedern der Letzten Generation 15 Objekte in sieben Bundesländern durchsucht. (Foto: dpa)
Video: rbb24 Abendschau | 25.05.2023 | Christian Titze | Bild: dpa

Am Mittwoch fand die Razzia der Generalstaatsanwaltschaft München und des Bayerischen Landeskriminalamts gegen die "Letzte Generation" statt. Seitdem wird diskutiert, ob der Einsatz verhältnismäßig war. Ein Kommentar von Michael Schon

Der Zweck heiligt die Mittel. Ist doch klar: Wenn es darum geht, die Welt vor dem Untergang zu retten, dann sind Straßenblockaden in der Hauptstadt und Kartoffelbrei im Museum der richtige Weg. Wie sonst soll die Regierung zum Handeln gebracht werden?

Der Zweck heiligt die Mittel. Ist doch klar: Wenn es darum geht, den Rechtsstaat vor Klima-Erpressern zu schützen, dann braucht es Hausdurchsuchungen im Morgengrauen. Wie sonst soll der Staat feststellen können, dass die "Letzte Generation" eine kriminelle Vereinigung ist?

Willkommen im Land der eindeutigen Gewissheiten, in dem sich "der Rechtsstaat nicht auf der Nase herumtanzen lässt" (Bundesinnenministerin Nancy Faeser) und die "Letzte Generation" die Deutungshoheit beansprucht, wie der Klimawandel aufzuhalten sei. Jetzt sind es also zwei Seiten, die ziemlich hochtouren: Law-and-Order gegen Weltuntergang. Das kann noch heiter werden.

Beide überziehen

Die Frage lautet: Wer überzieht hier eigentlich?

Die Antwort fällt vielen gar nicht so schwer. Sie ist umso eindeutiger, je klarer sie aus einem politischen Lager kommt: Klimaaktivisten sind so schlimm wie mit Mafia und Rockerbanden? "Niemals“ – heißt es von links. Straftaten sind ziviler Ungehorsam? "Keinesfalls" – ist das konservative Lager überzeugt.

In Wirklichkeit ist die Antwort natürlich noch einfacher: Beide überziehen. Die Untergangs-Apologeten, die sich für 9-Euro-Ticket und Tempolimit auf die Straße kleben und dabei behaupten, das Klima sei nur noch per Gesellschaftsrat zu retten. Und das bayerische Landeskriminalamt, das mit der Razzia und der versehentlichen öffentlichen Vorverurteilung der Aktivisten als "kriminelle Vereinigung" mehr oder weniger unfreiwillig dokumentiert: Es ist schon okay, wenn sie und ihre Unterstützer in der kriminellen Ecke stehen.

Eigentliche Frage: Wie kommen wir da wieder raus?

Vor allem der Rechtsstaat macht dabei keine gute Figur: Steht nicht auf der einen Seite eine Gruppe vorwiegend junger Leute, die altersgemäß ihren Drang zu Protest und Rebellion auslebt? Und auf der anderen Seite der Staat: Darf man von dem nicht erwarten, dass er die Nerven behält? Auch, wenn in Bayern eine Landtagswahl ansteht?

Die eigentliche Frage lautet daher nicht: "Wer überzieht hier eigentlich?" Sie lautet: "Wie kommen wir da wieder raus?"

Runtertouren, abwarten, zuhören

Wahrscheinlich wie immer: Runtertouren, abwarten, zuhören. Drei Worte, die im Klima-Stau unsexy klingen. Einen anderen Weg aber gibt es nicht. Law-and-Order wird die "Letzte Generation" nicht stoppen. Und die Gesellschaft wird sich nicht erpressen lassen. Klimaschutz als Ziel ist längst Konsens. Der Weg dorthin ist es nicht. Er wird verhandelt, wie immer zwischen Parlament, Regierung und Interessengruppen. Daran ändert ein wenig Wut im Berliner Berufsverkehr nichts. Es ist den Versuch wert, die "Letzte Generation" in die Debatte einzubinden und so vielleicht diejenigen zu erreichen, die von der Kraft der parlamentarischen Demokratie noch zu überzeugen sind.

Für die anderen gilt: Nötigung und Sachbeschädigung werden bestraft. Der Hype um ihre Gruppe wird abflauen. Wann hat man zuletzt Großes von "Fridays for Future" und Greta Thunberg gehört? Bleiben wird ihr Thema. Dann eben für die nächste Generation.

Beitrag von Michael Schon

55 Kommentare

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  1. 55.

    "Runtertouren, abwarten, zuhören" - ich fürchte, dieses Fazit des Autors ist richtig. Es ist aber schwer zu schlucken.
    Denn es ist nicht nur das Abstraktum Rechtsstaat, von dem man in diesem Beitrag Nervenstärke fordert. Sondern es sind zehntausende konkrete Arbeitnehmer, die in Berlin fast jeden Tag eine bis zwei Stunden (mit laufendem Motor) im Stau stehen. Die können nichts dafür. Die sind nicht "der Rechtsstaat". Das sind einfach nur Menschen, die aus vielen Gründen mit dem Auto fahren müssen. Die fahren Kinder zur Schule, fahren morgens um 4 aus dem Umland mit seinen bezahlbaren Mieten zur Frühschicht, oder von der Nachtschicht zurück. Die sind alt, gehbehindert, oder alleinerziehend mit zwei Kindern. Die liefern Lebensmittel und Konsumartikel. Kaum jemand fährt in Berlin zum Spaß Auto. Das ist der große blinde Fleck der Klimakleber.

  2. 54.

    Das wäre eine Diktatur einer Handvoll Weniger. Versuche das Parlament auszuschalten, auch über Umwege, ist letztendlich das Ende der Demokratie und bedient den Extremismus jeder politischen Farbe.
    Gleichmacherei, Einheitseinkommen und Verarmung als Folge nutzen nur der Handvoll Ziteiler.

  3. 52.

    Wow. Dann wissen sie bestimmt auch wer im Parlament sitzt und wie sich dies zusammensetzt. Tipp: Die Freiwillige Feuerwehr isses auch nicht.
    Zur Exekutive:
    "Die Exekutive ist die vollziehende oder ausübende Gewalt. Sie ist dabei an das geltende Recht gebunden. Die Exekutive umfasst die Regierung und die Verwaltung, der in erster Linie die Ausführung der Gesetze anvertraut ist."
    Zur Legislative:
    "Die Legislative ist die gesetzgebende Gewalt. Sie steht in einer repräsentativen Demokratie mit Gewaltenteilung dem Parlament zu. In der Bundesrepublik ist das der Bundestag."
    ... und welche Klasse Sozialkunde war das genau nochmal?

  4. 51.

    Müsste es nicht Legislative anstatt Exekutive heißen, oder habe ich da in der Schule versehentlich gerade gefehlt ?

  5. 50.

    Sind die Grünen mit knappen 16 % auch eine Kleinstpartei ?

  6. 49.

    Ja, sicher, muss es darauf hinauslaufen, dass miteinander geredet wird. Nur seitens großer Teile der Politik gibt es überhaupt kein Interesse daran. Der rechte Block ist stark daran interessiert, das Feindbild der Grünen über den Umweg "Letzte Generation" zu bedienen, während bei Anderen wirtschaftsförmiges Denken jedem Zweifel an bisherigen Überproduktions- und Überakkumulationsprozessen erhaben ist. Dass es über ein Parlament hinausgehen muss, das seinerseits noch nicht einmal Abgeordnetentransparenz und Lobbykontrolle umsetzen will, liegt auf der Hand: Es zählen auch im Angesicht großer kllimatischer Veränderungen, die die eigenen, auch wirtschaftlichen, Bedingungen gefährden, nur Materialismus und Ökonomismus. Hinzu kommt die absurde Tatsache, dass in der parlaments- und regierungsunfähigen FDP Klimawandelleugnung über verschwörungsideologische Narrative Alltag ist. Es erklärt sich also von selbst, dass der Reigen der an Lösungen Beteiligten über das Parlament hinausgehen muss.

  7. 48.

    Warum sollte 'Staat" sich weiter (?) um Nazi-/ Querdenker - Straftaten kümmern, wenn es doch momentan opportun ist, die Leute im Auto als Wähler zu ködern. Und die bayerische Polizei hat in jedem Bundesland Narrenfreiheit, weil? Ob sie auch aktiv wird, wenn der letzte Gletscher - ach ja, den gibts in Deutschland nicht mehr. Alles gut dann..

  8. 47.

    Bei allem wichtigen Anliegen, was ich in tiefstem Herzen und inhaltlich zu 100% teile: Die jungen Aktiven sind aufgewachsener Teil einer Mediengesellschaft, in der tendenziell nur das Spektakuläre vorkommt und alles, was weniger laut und weniger vehement daherkommt, tendenziell untergeht.

    Niemand will sich den Vorwurf des Langweilenden machen lassen. Abwägung ist nur was für Leisetreter und Luschen.

    Sei Du die Veränderung, die Du in der Welt sehen willst. Es war Gandhi, der quasi Politik als Politik in der ersten Person beschrieb - die Kraft des positiven Beispiels, was beständig seine Nachahmenden findet. Vertretungen des Gemeinwesens können und müssen dazu eine Klammer bieten.

    Es gibt genug Menschen, die aus den erschreckenden negativen Beispielen die 100%ige Umdrehung. eine 180°-Wende daraus fordern. Dabei ist eine 50 %ige Änderung oder eine 90° Grad-Wende, d. h. das Kippen der gängigen Koordinaten, aber nicht ihre bloße spiegelverkehrte Umdrehung, oftmals sinnvoller.

  9. 45.

    "Ich frage mich die ganze Zeit warum denn kein Unterbindungsgewahrsam bei fackeltragenden Coronaleugnern stattgefunden hat. "

    Oder warum man die Webseite der LG illegal kapert und schließt, Vermögen einfriert, die Web seite einer rechtsextremistischen Kleinstpartei aber weiter online ist und deren Vermögen unangetastet bleibt.

  10. 42.

    "und beschließt aber wer nochmal die Gesetze? Tipp: Das Ordnungsamt isses nich'."

    Gesetze beschliesst das jeweilige Parlament, also die Legislative. Gesetze zum Beschluss ins Parlament bringt die jeweilige Regierung ein, also die Exekutive.

    Sozialkundeunterricht Klasse 8 oder 9.

  11. 41.

    So, jetzt mal eine ganz ernst gemeinte Frage, auf die ich endlich mal eine klare Antwort erhoffe. Angenommen, auf die Forderungen wird eingegangen. Wir bekommen das 9€-Ticket und fahren alle nur noch maximal 100 km/h (erzwungen auf einer Autobahn, auf der ohnehin eine Beschränkung auf 80 km/h gilt). Und dann??? Und bitte immer vom Ist-Zustand ausgehen. Sprich 9€-Ticket für den aktuell genau so bestehenden ÖPNV. Wieviel ändern diese Forderungen? Wie wird das gemessen? Und wenn das umgesetzt ist - was kommt dann? Das wird ja wohl nicht alles gewesen sein.

  12. 40.

    Jo, so die Theorie. Ganz praktisch erarbeitet, "denkt sich aus" hört sich doof an, und beschließt aber wer nochmal die Gesetze? Tipp: Das Ordnungsamt isses nich'.
    Bei der entsprechend gestickten Klientel, die muss nicht rechts sein, kommen, von "Law-and-Order-Geschenke" über "Einheitsphantasien" bis "Ökobomben", solche Ideen vor einem Ankreuztag immer gut an und seine Fans will keiner verärgern. Egal ob Politik oder wo sonst noch.

  13. 39.

    Wer hat eigentlich entschieden, dass das Verfahren gegen die Letzte Generation zentral in Bayern geführt wird? Da wird es doch sicherlich im Vorfeld eine Abstimmung unter den Ländern gegeben haben.

  14. 38.

    Beide überziehen, der der den Begriff streitbare Demokratie nicht verstehen will ( Staatsverwaltungen / Politiker) und die andere Seite / Klimaschützer, Letzte Generation die jetzt alles übers Knie erzwingen will, weil die Staatsverwaltungen seit Jahrzehnten nur halbherzig gegen den Klimawandel vorgeht und ein düsteres Szenario / Apokalypse vorstellt.

  15. 37.

    Ein sehr sachlicher Beitrag, der alle Seiten und Meinungen anspricht und einbezieht. Freue mich, dass das Thema wieder Kontakt zum Boden bekommt und nicht künstlich aufgeheizt wird. Hier werden keine Meinungen gefüttert, sondern logisch hinterfragt und die Gruppe und ihr Verhalten von der Metaebene betrachtet. Das gelingt nicht vielen. Vielen Dank.

  16. 36.

    Lustig: Alle klopfen sich auf die Schulter, wieviel schon gegen den Klimawandel getan wurde...Herr Wegener würde ja gern noch viel mehr über das Klima reden ...aaber es ist noch nicht einmal möglich ein verhältnismäßig billiges Studententicket anzubieten.Warum ist das nur so??? Man weiß es nich...

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