TU kündigt Vertrag mit dem VBB - Berliner Hochschulen verabschieden sich vom Semesterticket
Die Technische Universität hat ihren Vertrag mit dem VBB gekündigt. Ab Oktober wird es kein Semesterticket mehr für die rund 35.000 Studierenden geben. Und auch andere Hochschulen ziehen die Reißleine. Das Solidarmodell steht auf der Kippe. Von Franziska Hoppen und Leonie Schwarzer
Ein Hörsaal in der Technischen Universität Berlin. Man sieht viele ernste Gesichter. Denn was hier gerade beschlossen wurde, betrifft alle 35.000 Studierenden der Uni. Für das Wintersemester wird es für sie kein Semesterticket geben - und damit keine Möglichkeit mehr, zum Studierendentarif vergünstigt Bus und Bahn zu fahren.
Massenhafter Absprung möglich
Und die TU-Studierenden sind nicht die einzigen. Bei mehreren der insgesamt 39 Berliner Hochschulen laufen die Verträge mit dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) nach dem Sommersemester aus. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft mit mehr als 14.300 Studierenden hat bereits angekündigt, den Semesterticket-Vertrag nicht neu abzuschließen.
Die Universität der Künste mit rund 3.500 Studierenden will ihn nur erneuern, wenn der VBB oder der Senat ein signifikant günstigeres Angebot vorlegen. Die Studierendenschaften an zwei weiteren Hochschulen wollen sich in den kommenden Tagen entscheiden. Das heißt: Zehntausende Studierende stehen ab Oktober ohne Semesterticket da – und viele weitere könnten folgen.
Nicht mehr "preisgünstig"
Der Grund für das massenhafte Abspringen: Laut Berliner Hochschulgesetz ist die Studierendenschaft verpflichtet, ein preisgünstiges Semesterticket per Abstimmung zu vereinbaren. Die Betonung liegt auf "preisgünstig". Bislang war das kein Problem. Denn das Semesterticket ist ein Solidarmodell: Alle Studierenden zahlen ein, unabhängig davon, ob sie Bus und Bahn nutzen. Im Gegenzug gibt es einen Mengenrabatt vom VBB. Seit 2017 zahlen die Studierenden rund 32 Euro pro Monat für den gesamten Tarifbereich, inklusive Fahrradmitnahme – und damit deutlich weniger als für ein reguläres Berliner Monatsticket.
Doch seit es günstige Nahverkehrsangebote für alle gibt, geht diese Rechnung nicht mehr so leicht auf. Nach Einführung des berlinweiten 29-Euro-Tickets versprach der alte rot-grün-rote Berliner Senat einen Zuschuss für das Semesterticket. Nur so konnte das Semesterticket wirklich günstiger bleiben. In der Folge zahlen die Studierenden derzeit noch rund 20 Euro pro Monat. Doch: Der Zuschuss war nur einmalig.
Das heißt, mit Beginn des Wintersemesters im Oktober steigt der Ticket-Preis wieder auf die ursprünglichen 32 Euro an. Nun argumentieren einige Studierende: Im Vergleich zum neuen Deutschlandticket für 49 Euro im Monat ist diese Ersparnis schlicht nicht mehr ausreichend.
Gutachten aus Nordrhein-Westfalen
Um das zu belegen, verweisen viele Studierende auf ein Gutachten, das der Allgemeine Studierendenausschuss (Asta) der TU Dortmund im Frühjahr in Auftrag gegeben hatte. Anwälte bestätigen darin für Nordrhein-Westfalen (NRW), dass die Ersparnis des Semestertickets im Verhältnis zum bundesweiten 49-Euro-Ticket nur noch bei 25 Prozent liegt. Gegenüber den üblichen NRW-Monatstickets hingegen sparten die Studierenden 75 Prozent.
Das Gutachten stellt deshalb fest, "dass die Erhebung des Semestertickets durchaus von den Gerichten in Frage gestellt werden kann." Zwar gebe es insgesamt noch einen Preisvorteil. "Ob der verpflichtende Bezug aber von den Verwaltungsgerichten noch als verhältnismäßig im engeren Sinne gesehen wird, erscheint angesichts der geringen Preisdifferenz durchaus fraglich", so die Juristen.
Diese Befürchtung gibt es nun auch in Berlin: Studierende, die Bus und Bahn überhaupt nicht nutzen, oder Studierende, die wenig Geld haben und deshalb ungern ins Solidarmodell einzahlen, hätten nun erstmals eine sachfeste Grundlage, um die VBB-Verträge ihrer Hochschulen vor Gericht anzufechten: Weil das Semesterticket angesichts der neuen Angebote wie dem 49 Euro-Ticket kaum noch signifikante Ersparnis bringt. Denn die Preise der vergleichbaren Berliner Tickets sind ähnlich denen in NRW.
Rechtliche Fragen
Mehr noch: Einige Studierende argumentieren, dass vor dem Hintergrund des Deutschlandtickets genau genommen eine sogenannte "verhältnismäßige Preisteuerung" vorliegt. Und höhere Preise müssen eigentlich per Urabstimmung gebilligt werden. Genau das aber ist an den allermeisten Hochschulen gar nicht passiert. Denn auf dem Papier hat sich der Preis des Semestertickets ja nicht verändert - es gab nur eben eine Preisrevolution mit dem Deutschlandticket.
Miguel Góngora, Vorsitzender des Asta der Hochschule für Wirtschaft und Recht, fürchtet deshalb, dass die Verträge überall dort juristisch angreifbar sind, wo keine Urabstimmungen für das Wintersemester stattgefunden haben. Würde der Vertrag dann vor Gericht gekippt, müssten aus seiner Sicht alle Studierenden für das restliche Semester eine Rückerstattung erhalten – ein kaum zu stemmender bürokratischer Aufwand. Im schlimmsten Fall, sagt Góngora, könnten auf die ASten selbst Strafzahlungen zukommen. Auch diesmal der Verweis auf ein Gutachten aus Nordrhein-Westfalen, des Verkehrsministeriums.
Zwar müssen längst nicht alle Juristen diese Meinung teilen. Dennoch ist aus Studierendenkreisen zu hören, dass nun auch an Universitäten mit bestehenden Verträgen die Sorge umgeht, dass Klagen vor Gericht Bestand haben könnten.
Solidarprinzip durchbrochen?
Mathias Trenczek hat als Rechtsanwalt einige der Studierenden in den vergangenen Wochen beraten. Er sieht einen anderen Fallstrick für das Semesterticket: ausgerechnet das Upgrade für Studierende zum bundesweiten 49-Euro-Ticket, dessen Einführung zum 1. Juni von vielen gelobt wurde. Für 13,95 Euro können Studierende flexibel monatlich, je nach Bedarf, zum Deutschlandticket upgraden - wenn sie genug Geld dafür haben.
Trenczek sagt, der Sozialfonds der Berliner Hochschulen reiche nicht aus, um auch ärmeren Studierenden den Zugang zum Upgrade zu ermöglichen. Zwar zahlen alle Studierenden einen kleinen Sozialbeitrag zusätzlich zu den Semesterticketgebühren - an der Hochschule für Wirtschaft und Recht zum Beispiel einen Euro - sodass aus diesem Fonds bedürftigen Studierenden die Kosten für das Semesterticket zurückerstattet werden können. Doch dieser Fonds beinhaltet nicht an jeder Hochschule genug Geld, um damit auch noch massenweise Deutschlandticket-Upgrades zu ermöglichen - außerdem ist er dafür auch rein rechtlich gar nicht vorgesehen. Das heißt: ärmere Studierende werden vom Deutschlandticket ausgeschlossen.
VBB sieht kein Problem
Der VBB hingegen gibt sich angesichts potentiell schwindender Semesterticket-Zahler noch entspannt: "Wir gehen nicht von Mindereinnahmen aus, da das Mobilitätsbedürfnis der Studierenden erhalten bleibt und diese dann in die nächstteurere Option, das Deutschlandticket, wechseln müssten", schreibt ein Sprecher auf Nachfrage. Und: "Größere Auswirkungen auf den VBB erwarten wir nicht."
Im Oktober könnten also zehntausende Berliner Studierende ohne Semesterticket dastehen und gezwungen sein, sich teurere alternative Tickets kaufen zu müssen.
Die Berliner Verkehrsverwaltung hat noch nicht angekündigt, für das Wintersemester einen Zuschuss zahlen zu wollen, betont stattdessen, dass sie sich gemeinsam mit den anderen Bundesländern für ein bundesweit einheitliches Semesterticket einsetzt. Das soll spätestens zum Sommersemester 2024 eingeführt werden.
Alternativen zum Semesterticket
Bis dahin hat Marcel Hopp, Sprecher für Wissenschaft und Forschung der SPD einen Vorschlag. Er will sich für ein Studierenden-Ticket für 19 Euro in Berlin einsetzen, mit dem man deutschlandweit den ÖPNV nutzen kann. Bayern hat das ab dem Wintersemester schon geplant, allerdings soll es dort 29 Euro kosten. Weil Berlin bereits ein 29-Euro-Ticket für die Gesamtbevölkerung plant, will Hopp eine zusätzliche Vergünstigung für die Studierenden draufsetzen.
Auch die Studierenden selbst arbeiten an Lösungen. Góngora etwa sagte, er glaube, dass es möglich sei, in die VBB-Verträge Ergänzungsklauseln einzufügen, die außerordentliche Kündigungen mit dem VBB ermöglichen, sobald Berlin das 29 Euro-Ticket wieder einführe - oder ein günstigeres Ticketmodell für Studierende erarbeitet würde.
Und noch eine pragmatischere Lösung soll es geben: Die Hochschule für Wirtschaft und Recht zum Beispiel erwägt ein Fahrradverleihsystem, von dem alle Studierenden in Berlin profitieren sollen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 09.06.2023, 09:00 Uhr