Kommentar | Radwege-Politik in Berlin - Das "neue Miteinander" darf nicht das alte Gegeneinander sein

Do 06.07.23 | 15:32 Uhr | Von Thorsten Gabriel
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Symbolbild:Die Kreuzung Alexanderstraße Ecke Karl-Liebknecht-Straße am Alexanderplatz wird von Fußgängern und Radfahrern am Nachmittag bei untergehender Sonne überquert.(Quelle:picture alliance/dpa/J.Kalaene)
Audio: rbb24 Inforadio | 05.07.2023 | Thorsten Gabriel | Bild: picture alliance/dpa/J.Kalaene

Die Verkehrssenatorin hat erste Radwege-Projekte freigegeben, die sie zuvor gestoppt hatte. Das ist positiv - aber ob es die CDU wirklich ernst meint mit einem besseren "Miteinander" im Verkehr, bleibt zweifelhaft, kommentiert Thorsten Gabriel.

Grundsätzlich ist das erstmal eine gute Nachricht: Es ist gut, dass Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) jetzt die ersten 17 von ihr zwischenzeitlich gestoppten Radwegprojekte wieder freigegeben hat. Noch besser wäre es allerdings, wenn dies nun auch zügig mit den weiteren Radwegen geschähe.

Dass man beschlossene Projekte noch einmal auf den Prüfstand hebt - okay. Wenn bei einer solchen Prüfung tatsächlich Planungsschwachstellen entdeckt werden, die noch beseitigt werden könnten - niemand hätte etwas dagegen. Je geschmeidiger Radverkehr, Fußgängerinnen und Fußgänger, Busse, Straßenbahnen und Lieferverkehr miteinander auskommen, desto besser.

Es geht darum, jahrzehntelange Diskriminierungen zu beseitigen

Aber: Gut miteinander auskommen darf nicht bedeuten, dass es darum geht, den Autoverkehr möglichst unbeeinträchtigt weiter fließen zu lassen und dass alle anderen sich bitte hintenanstellen. Das kann nicht das neue "Miteinander" sein, von dem die Verkehrssenatorin und ihre Partei, die CDU, immer wieder sprechen. Es wäre das alte Gegeneinander. Das hatten wir schon.

Den Verkehrsraum neu zu ordnen und dabei dem Autoverkehr weniger Platz einzuräumen, heißt eben nicht, neue Ungerechtigkeit zu schaffen, sondern - im Gegenteil - alte Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Fußgängern, Radfahrenden, Bussen und Bahnen mehr Raum zu geben, bedeutet, mit Diskriminierungen aufzuräumen, die seit Jahrzehnten bestehen und die viel zu lange unangetastet blieben.

Es bedeutet, die Gestaltung des öffentlichen Raums endlich der Lebenswirklichkeit in dieser Stadt anzupassen.

Verkehrswende geht nur mit sanftem Druck

Natürlich haben der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und seine Verkehrssenatorin recht, wenn sie sagen: Man bringt Menschen mit einem möglichst attraktiven Nahverkehr zum Umsteigen. Aber erstens hat Berlin - trotz aller Defizite, gerade am Stadtrand - bereits das attraktivste Nahverkehrssystem der Republik und muss sich auch international nicht verstecken.

Und zweitens ist sich die Verkehrswissenschaft ziemlich einig, dass es beides braucht, um Menschen dazu zu bringen, aufs Auto zu verzichten: "Pull"- und "Push"-Faktoren. Also nicht nur ein ÖPNV-Angebot als Magnet, sondern auch (mehr oder weniger) sanften Druck. "Der Effekt von Pull-Maßnahmen ohne eine Kombination mit Push-Maßnahmen ist begrenzt", heißt es auch in einer aktuellen Studie des Umweltbundesamtes zum Thema Verkehr und Klimaschutz.

Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier und neigt zur Trägheit. Isso. Trotzdem setzt die Verkehrssenatorin rein auf Freiwilligkeit. Sie wolle keinen Einfluss auf das Verhalten des Einzelnen nehmen, sie wolle niemanden umerziehen, hat Manja Schreiner zuletzt in einem "taz"-Interview gesagt. "Umerziehen", mit diesem düsteren Begriff schiebt sie eine Aufgabe von sich, die ihr mit dem Amt übertragen wurde. Denn es gehört ja gerade zum Jobprofil einer Verkehrssenatorin, nicht nur dafür zu sorgen, dass der Verkehr fließt, sondern auch zu beeinflussen, welcher Verkehr der Stadt dienlich ist und welcher eher nicht.

Kai Wegner könnte versuchen, woran die Grünen gescheitert sind

Die Verkehrswende ist kein Selbstzweck oder Modetrend. Das wissen auch alle führenden Köpfe in der CDU. Gerade deshalb käme der Union bei der Verkehrswende eigentlich eine wichtige und verantwortungsvolle Rolle zu. Denn sie hat Zugang zu Milieus, in denen viele Grüne und erst recht Linke außen vor sind. Die CDU könnte genau dort, wo sich Menschen von vermeintlich linker Verkehrspolitik bevormundet fühlen, erklären, worum es wirklich geht, und warum Verhaltensänderungen kein Nice-to-have, sondern notwendig sind.

Sie könnte erklären, dass weniger Autoverkehr auch ein Gewinn für diejenigen wäre, die weiterhin aufs Auto angewiesen sind. Das ist eine so verantwortungsvolle wie schwierige Kommunikationsaufgabe – an der die Grünen zu ihrer Regierungszeit gescheitert sind.

Kai Wegner, der sich als CDU-Chef ans Revers heften kann, in seiner eigenen Partei schon oft zwischen konkurrierenden Ansichten vermittelt zu haben, könnte als Regierender jetzt zeigen, dass er es besser kann als die Grünen. Und dass sein Anspruch "Politik für alle" machen zu wollen, nicht nur ein seelenloses Etikett ist. Auf die Räder, fertig, los!

Sendung: rbb24 Abendschau, 06.07.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Thorsten Gabriel

122 Kommentare

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  1. 122.

    Die Städte sind vom Wasser her entstanden, deshalb findet sich am Wasser auch historisch eine hervorragende Bebauung. Zu Land mit den Fahrwegen sah es hingegen noch recht düster aus. Dann wurden die Wege planiert für Pferd & Wagen, Straßen danach ausgerichtet. Schließlich vor der massenhaften Ausbreitung des Autos kam die Eisenbahn ins Land und bescherte eine ansprechende Bebauung im Umfeld der jeweiligen großen Bahnhöfe.

    Dass Verkehrswege prioritär gedacht wurden und die Bebauung sich dem nur unterzuordnen habe, ist ein Denken aus den 1960ern und 70ern Jahren. So ein Denken hat Stadtbrachen entstehen lassen und die Menschen nahmen reißaus. Rette sich wer kann - ins Umland.

    Seit der Wiederentdeckung der Stadt und der "Einhegung" des Autos geht die Entwicklung wieder in die andere Richtung: Menschen ziehen in die Städte und auch in deren Zentrum. Sie wissen um stadtgemäßere Alternativen, als das Auto sie jemals bieten kann.

  2. 121.

    Zwar alle übern Kamm geschehrt, aber grundsätzlich nicht falsch. Ist wie mit den Subkulturen und ihren Standorten. Man fuhr ins dicke B weil „alles so Untergrund und atypisch“war, zog her, wurde bürgerlich und dann störte es plötzlich. Berlin soll Bullerbü werden….wie geil.

  3. 120.

    Welche Diskriminierung? Die Straßen sind wegen und für die Autos gebaut worden. Städte existieren wegen ihnen. Fakt. Jetzt ist plötzlich Radfahren Mode und die Woke Welt denkt, jetzt müssen alle anderen Platz machen und hergeben. Wie sagte Gorbatschow... wer zu spät kommt den bestraft das Leben. In der Tierwelt würde man Radfahrer als invasive Tieraten bezeichnen, deren Ausbreitung ja bekanntlich eingedämmt werden, weil sie die vorhandene Flora und Fauna schädigen.
    Über 50% sind hier her gezogen und regen sich nun darüber auf, dass es hier nicht so ist wie da wo sie herkommen. Man zieht an Hauptstraßen, Bahntrassen und Flughäfen und regt sich dann auf, dass dort Autos und Züge fahren oder Flugzeuge starten. Die Dörfer sterben, weil ihr alle dort wegzieht, während manche aus Berlin Bullerbü machen wollen.

  4. 119.

    Guter Artikel. Ausgleich statt Gegeneinander und Hass. Würde allen gut tun und macht glücklich.

  5. 117.

    Eine Vorrangschaltung für die Tram wird in Berlin seit wann versprochen? Dennoch bleibt die auf Grund häufigerer Halte langsamer als die U-Bahn. Dass ein 19m-Bus oder erst recht ein 12m-Bus weniger Fahrgäste befördern kann im Vergleich zur einer hier üblichen Tram ist trivial. Gerne können Sie aber meinen Hinweis zum NVP folgen. Zumindest kurz angedacht sind 25m-Busse gewesen. Als Gelegenheits- oder Unterwegslader kommen Batteriebusse heute für die in Berlin üblichen Umläufe von 300 bis 500 km auch mit vergleichsweise kleinen Batterien aus und rekuperieren. Nur gibt es nicht die eine Größe ÖPNV-Gefäß, die für alles passt.

  6. 116.

    Die Reisegeschwindigkeit der Tram ließe sich ganz einfach durch konsequente Vorrangschaltung an Lichtsignalanlagen durchaus der UBahn anpassen.
    Das Leistungsvermögen der Straßenbahn ist nicht ausgereizt.
    Abgesehen davon will niemand U Bahn durch Tram ersetzen.Und leistungsfähiger als Busse ist die Straßenbahn allemal,außerdem fährt sie mit dauernder Stromversorgung ohne Batterien oder Gas oder Diesel und kann sogar Energie zurückspeisen. Die U Bahn kann das auch nur der Bau ist nicht umweltfreu

  7. 115.

    @ Thorsten Gabriel - Sie sprechen mir aus der Seele - ein wunderbarer Kommentar, danke.

  8. 114.

    Im Nahverkehrsplan sind die Kapazitäten der in Berlin eingesetzten ÖPNV-Fahrzeuge von Bus bis zur Vollbahn sowohl pro eingesetzter Einheit als auch pro Stunde aufgelistet. Es besteht hier zwischen U-Bahn und Tram ein deutlicher Unterschied bei der Kapazität wie auch der Reisegeschwindigkeit.

    Ein sehr ähnlicher Verkehrskorridor wird hier von Steglitz Richtung Berlin bedient. Es fahren aus historischen gründen sowohl S-wie U-Bahn und dazu noch zwei M-Bus-Linien. Die könnte aber perspektivisch wg häufiger Überlastung durch die Tram ersetzt werden. Vielleicht wurden ja deshalb neue Straßenbäume gepflanzt.

    Tram/Bus dienen auch der Feinerschließung, während U- und erst recht S-Bahn größere Haltabstände aufweisen.

    Die Nicht-Tram nach Spandau ist seit Günther ein Running Gag, der im Wassertaxivorschlag von Pop gemündet hatte. Die Heerstraße schreit wenigstens nach einem BRT, doch wurde kein Platz für eine Busspur wenigsten jeweils alternierend in Lastrichtung gefunden.

  9. 113.

    Eine Ubahn und eine Straßenbahn im selben Verkehrskorridor schließen sich ja nicht aus,wenn das Verkehrsaufkommen groß genug ist.In Prag wurde eine U Bahnlinie als Tramersatz gebaut.Als sie fertig war stellte sich heraus,dass noch immer genügend Potential für die Straßenbahn ist.So fahren heute Tram und UBahn parallel,beide mit hohem Verkehrsaufkommen.Und die Erderwärmung ist heute,also sollte sich bald etwas tun.Die Hamburger Lösung der Grünen zu Gunsten der Koalition mit der SPD die Planfeststellung der ersten wiedereinzuführenden Straßenbahnlinie zu stoppen um in 40 Jahren möglicherweise eine neue UBahnlinie 5 zu haben,ist ganz einfach kontraproduktiv. Und genauso ist es in Berlin,man sollte nicht darüber nachdenken,ob man geplante Strecken wie zum Potsdamer Platz wieder streicht,man sollte stattdessen deren Verlängerung planen.Ebenso sollte endlich die Tram nach Tegel und Spandau auf den Weg gebracht werden.Die vollen Straßenbahnen in Berlin,auch zur Virchowstr. beweisen es doch

  10. 112.

    Die Tram stößt nicht so schnell an ihre Grenzen,wie vielfach gesagt wird. Die Tramlinie 4/6 in Budapest hat planmäßig einen Fahrgastzahl,die einer gut ausgelastet U Bahn entspricht.Die sollte auch durch eine U Bahn ersetzt werden,bis sie moderne Niederflurwagen erhielt.In Lyon wurde sogar eine Tram so gebaut,dass sie durchaus U Bahnfahrgäste übernehmen konnte und auch übernahm.5% weniger in der UBahn 75% mehr im Oberflächenverkehr war das Ergebnis.Das nenne ich Verkehrsverlagerung.

  11. 111.

    "Selbstverständlich wurde dies berücksichtigt. " Haben Sie dafür auch eine Quelle?

  12. 110.

    Schön. Endlich mal ein paar neue Argumente.
    Nicht immer diese ewigen gegenseitigen Schuldzuweisungen.
    Nicht immer Sinn und Unsinn der Kennzeichnung von Fahrrädern.
    Nicht immer Streit um Bezahlung der Infrastruktur.
    Schon toll zu sehen, dass alle sich so gut aufeinander einstellen.
    Die gegenseitige Rücksichtnahme ist phänomenal.
    So geht "Miteinander". Wir sind auf einem guten Weg.

  13. 109.

    "Haben Sie bei den 5.000 Euro die Beschäftigungseffekte und Wertschöpfungskette etc. rund um PKW mit berücksichtigt?"

    Natürlich nicht. Denn das ist ein anderes Thema. Hier ging es lediglich um die anfallenden Kosten und wer sie bezahlt, nämlich die Allgemeinheit.

  14. 108.

    "Haben Sie bei den 5.000 Euro die Beschäftigungseffekte und Wertsschöfungskette etc. rund um PKW mit berücksichtigt?"
    Selbstverständlich wurde dies berücksichtigt. Nicht berücksichtigt wurden die durch die dort hergestellten klimaschädlichen Produkte bereits entstandenen und noch entstehenden gesellschaftlichen Kosten. 5000 Euro sind demnach zu gering. Erfolgreiche Nationen benötigen keine Autoproduktion.

  15. 107.

    In der Tat! Hier muss Schreiner mit taten beweisen, dass sie es besser kann als ihre Vorgängerinnen. Die Latte liegt dabei nicht besonders hoch. Man erinnere sich nur an den angeblich wegen Corona ausgedünnten Busverkehr.

  16. 106.

    "In Groß-Berlin ist dem gegenüber der Busverkehr ausgebremst und die Tram sabotiert worden."
    Man darf gespannt sein, wie sich die neue Regierung hierbei schlägt.

  17. 105.

    Haben Sie bei den 5.000 Euro die Beschäftigungseffekte und Wertsschöfungskette etc. rund um PKW mit berücksichtigt? Wir konnten ja aktuell erfahren, dass gerade mal gut 60.000 Menschen in Deutschland sozialversicherungspflichtig oder selbstständig in der Radbranche inkl. Herstellung, Vertrieb und Dienstleistung auch rund um die E-Stehroller arbeiten. Das sind nur ähnlich viele wie allein bei VW in Wolfsburg.

  18. 104.

    Nicht verstehen wollen aber gerade die Innenstädter, dass einzig das Rad dafür das ungeeignete Verkehrsmittel ist. Wer in den Außenbezirke sein Auto stehen lässt, braucht keine Parkplatz in der Innenstadt. In Paris hat man das erkannt und baut die Metro aus. In Groß-Berlin ist dem gegenüber der Busverkehr ausgebremst und die Tram sabotiert worden.

  19. 103.

    Eine Betrachtung pro Haushalt ist bei dieser Thematik absoluter Unsinn, denn ein Haushalt ist nur selten gemeinsam unterwegs.

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