Sexuelle Belästigung im ÖPNV - Weite Shirts gegen anzügliche Sprüche – was Frauen in Bus und Bahn erleben
Obszöne Sprüche, ungewollte Anmache, die Hand am Po: Jeden Tag erleben Frauen im Nahverkehr in Berlin und Brandenburg übergriffiges Verhalten. Das Wenigste kommt zur Anzeige, doch das könnte eine Gesetzesanpassung ändern. Von David Donschen
Der Platz zwischen dem Abfertigungshäuschen und einer Säule: Lilli hat ihn sich bewusst gesucht. Hier ist sie ein wenig geschützt vor unangenehmen Blicken am U-Bahnhof Walther-Schreiber-Platz. Während sie auf die U-Bahn wartet, vermeidet sie Augenkontakt, schaut die meiste Zeit auf ihr Handy oder ins Leere. Ihre gesamte Körpersprache signalisiert: Lass mich in Ruhe!
Und trotzdem: "Männer starren mich an. Sie fressen mich förmlich mit ihren Blicken auf", erzählt Lilli. Jeden Tag erlebe sie das in der Bahn. Und es bleibe nicht bei Blicken: "Es hat mir auch schonmal jemand in der U-Bahn in den Schritt gefasst."
Dieses übergriffige Verhalten verändert, wie die 24-Jährige Lilli sich im Nahverkehr bewegt. Als sie in die U9 steigt, stellt sich sie ganz bewusst ans Ende des Waggons. Hier in der Ecke können sich wildfremde Männer beim Aussteigen nicht an ihr reiben oder sie anfassen.
"Möglichst wenig Haut zeigen"
Lilli beschreibt sich selbst als extrovertiert. Sie hat ihre Haare pink gefärbt, trägt auffällige Plateauschuhe. Die Sängerin mag es, sich zu zeigen. Doch in der Bahn versteckt sie sich lieber. Mit verschränkten Armen steht sie da. Ganz bewusst hält sie ihre Jacke in den Händen vor ihr schwarzes Oberteil. "So verdecke ich mein Dekolleté."
Nicht nur Lilli verhält sich so. Auf Tiktok zeigen junge Frauen aus New York ihre sogenannten "Subway Shirts" [zdf.de] Es sind weite T-Shirts oder Oberteile, die keine Blicke von Männern anziehen sollen.
Auch Selma zieht sich so an. Mit ihrer Schwester steht sie am Potsdamer Hauptbahnhof. "Möglichst wenig Haut zeigen", sagt sie und zeigt auf den grauen und weit geschnittenen Pullover, den sie anhat. "Wenn es draußen warm ist, würde ich gerne etwas anderes anziehen, aber es geht nicht", sagt Selma.
Anzahl der erfassten Delikte in Berlin gestiegen
Von übergriffigem Verhalten im Nahverkehr berichten am Potsdamer Hauptbahnhof viele Frauen. "Letztens hat sich ein Typ vor mich gestellt und mich eine Schlampe genannt", berichtet eine Passantin. "Ich wurde in der Tram in Babelsberg von einem Mann angemacht", erzählt die 15-Jährige Emilie. "Dann hat er mich am Bein angefasst und mir hinterhergerufen."
Wochenlang ging es ihr nach dem Vorfall nicht gut, sie wollte nicht mehr raus, wie sie erzählt. "Männer glauben immer noch, sich das herausnehmen zu können", sagt Emilie mit viel Wut in der Stimme.
Sexuelle Belästigung - ob verbal oder körperlich - findet überall statt: Am Arbeitsplatz, auf der Straße und in Bussen und Bahnen. Laut der Berliner Kriminalstatistik fanden im vergangenen Jahr 447 Sexualdelikte im öffentlichen Nahverkehr statt, dazu gehören körperliche sexuelle Belästigungen bis hin zur Vergewaltigung. Damit stieg die Zahl um zehn Prozent im Vergleich zu 2021. Die BVG verweist allerdings darauf, dass die Fahrgastzahlen im gleichen Zeitraum um 26 Prozent zugenommen haben.
In Brandenburg wurden im vergangenen Jahr 83 Sexualdelikte an Bahnhöfen, Haltestellen sowie in Bussen und Bahnen registriert.
Hohe Dunkelziffer
447 beziehungsweise 83 Delikte – das klingt nach wenig bei 3,7 Millionen Fahrgästen, die täglich den Nahverkehr in Berlin und Brandenburg nutzen.
"Die Dunkelziffer ist hoch", sagt Michaela Burkhard vom Autonomen Frauenzentrum Potsdam [frauenzentrum-potsdam.de]. Immer wieder würden Betroffene in die Beratungsstelle kommen und von übergriffigen Situationen in Bus und Bahn berichten. Vor allem abends, wenn wenig los sei, erlebten Frauen Belästigungen als besonders bedrohlich. "Aber es passiert genauso morgens um acht Uhr auf dem Weg zur Arbeit", so Burkhard.
Einer Studie des Bundesfamilienministeriums zufolge sind 44 Prozent der Frauen und 32 Prozent der Männer in Deutschland bereits Opfer sexistischer Übergriffe [bmfsfj.de, PDF] geworden. Besonders betroffen sind Frauen zwischen 16 und 24 Jahren. Mehr als jede Dritte von ihnen erlebt mehrmals pro Monat sexuelle Belästigungen. Dazu zählt die Studie sowohl verbale als auch körperliche Übergriffe.
Verbale sexuelle Belästigungen bislang nicht strafbar
Zur Polizei gehen nach solchen Vorfällen nur die allerwenigsten, laut einer Studie des Landeskriminalamts Niedersachsen von 2016 zeigen nur etwa sechs Prozent der Opfer die Vorfälle an [taz.de]. Führt sowieso zu nichts, denken viele.
Und tatsächlich werden die Verfahren häufig eingestellt. Was auch daran liegt, dass verbale sexuelle Belästigungen bislang nicht strafbar sind. 2017 verhandelte der Bundesgerichtshof (BGH) einen Fall, bei dem ein 65 Jahre alter Mann angeklagt war. Er hatte ein elfjähriges Mädchen aufgefordert ihm zu folgen, weil er "an ihre Muschi fassen" wolle.
Laut BGH ist das nicht strafbar, weil es das Opfer nicht herabsetze. Auch Äußerungen wie "Ich will dich ficken" und "Ich will deine Muschi lecken" können strafrechtlich nicht verfolgt werden.
Sonja Eichwede will das ändern. Die Brandenburger Bundestagsabgeordnete hat an einem Positionspapier der SPD-Fraktion mitgeschrieben. Darin wird ein Straftatbestand für verbale sexuelle Belästigung gefordert [tagesschau.de]. Unter Strafe gestellt werden sollen Sätze, die die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen verletzen und die Opfer dabei erniedrigen oder einschüchtern.
"Solche Aussagen haben Folgen für die Betroffenen", sagt Eichwede. Depressionen, Schlafmangel und Angstzustände können die Konsequenzen sein. Andere Länder wie Portugal, Spanien und Belgien haben einen solchen Straftatbestand bereits.
Mehr Sensibilisierung bei Polizei
Allerdings will Eichwede nicht jedes übergriffige Verhalten rechtlich ahnden. "Wir wollen das Strafgesetz nicht zu stark moralisieren. Hinterherpfeifen wird auch in Zukunft keine Straftat sein."
Michaela Burkhard vom Autonomen Frauenzentrum Potsdam fordert ebenfalls schärfere Gesetze. "Wir brauchen gleichzeitig mehr Sensibilisierung bei der Polizei, die Taten auch wirklich ernst zu nehmen." Es gebe noch zu viele Fälle, bei denen Betroffene kein Gehör bei Polizei und der Justiz fänden, so Burkhard. Unsensibles Verhalten auf Polizeiwachen schrecke zusätzlich ab, Taten anzuzeigen.
Die Frauenrechtlerin sieht aber auch, dass schärfere Gesetze allein wohl nichts verändern. "Mädchen erleben schon in frühen Jahren, dass Jungs Grenzen überschreiten, ohne dass es Folgen hat." Wenn man als Mädchen etwas dagegen sage, werde ihnen signalisiert, dass Jungs nun mal so seien und sich die Mädchen nicht so anstellen sollen. Burkhard sagt, sie wünsche sich, dass Jungs schon früh beigebracht werde, was sexistisches Verhalten sei.
"Bro, lass mal die Straßenseite wechseln!"
Zumindest in ihrem Freundeskreis erlebt Sängerin Lilli, dass sich was tut. Sie ist bei ihrem Kumpel Ben angekommen. Zusammen produzieren die beiden Musik in der kleinen Plattenbauwohnung von Ben an der Jannowitzbrücke. "Für mich als Mann ist es schwer nachzuvollziehen, wie es sich für Frauen anfühlt, nachts allein in der U-Bahn zu sitzen."
Aber er hört zu, wenn Lilli und andere Freundinnen von ihren Erfahrungen berichten. Und der 31-Jährige versucht, sein Verhalten entsprechend anzupassen. Erst letztens war er mit einem Kumpel unterwegs, beide liefen hinter einer Frau. "Da hab ich gesagt: Bro, lass mal die Straßenseite wechseln!" Er weiß, dass er nichts getan hätte. "Aber die Frau vor mir weiß das nicht."
Sexistisches Verhalten im Freundeskreis nicht tolerieren
Ben sagt, er versuche aufmerksam zu sein, wenn er mit der Bahn fahre. Er wisse auch, was er machen würde, wenn er übergriffiges Verhalten mitbekommt. "Das Wichtigste ist, sich mit dem Opfer zu solidarisieren." Fragen, ob die Person Hilfe braucht. Den Täter möglichst ignorieren und nicht den Starken markieren.
In Lillis und Bens Freundeskreis werde sexistisches Verhalten nicht geduldet. Was Ben machen würde, wenn ein Kumpel eine Frau blöd anmacht? "Ich würde sofort einschreiten und sagen: Halt mal jetzt dein Maul!" Wichtig sei aber auch, danach mit dem Kumpel nochmal das Gespräch zu suchen, um ihm zu erklären, was er da falsch gemacht hat. Damit er versteht, was der Unterschied ist zwischen einem Kompliment und übergriffigem Verhalten.
Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 15.08.2023, 19:30 Uhr