Flüchtlingspolitik - Berliner Sozialsenatorin Kiziltepe unter Druck
Kein Senatsmitglied steht derzeit so unter Strom wie Integrationssenatorin Kiziltepe: Berlin muss mehr Geflüchtete unterbringen als es Platz gibt, während die Skepsis in der Bevölkerung wächst. Nun kommt Druck aus der Koalition dazu. Von Franziska Hoppen
Für Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) waren die ersten Monate im neuen Amt nicht leicht. 11.750 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine suchten in diesem Jahr schon Schutz in Berlin, dazu 12.300 Asylsuchende – mehr Menschen als es zwischenzeitlich Platz gab. Obendrauf kommt Streit über die Verteilung und Versorgung auf EU- und Bundesebene, während deutschlandweit die Skepsis gegenüber Zuwanderung steigt.
Und jetzt zeigt der BerlinTrend im Auftrag der rbb24 Abendschau und der Berliner Morgenpost: 75 Prozent der befragten Berlinerinnen und Berliner sind unzufrieden mit der Flüchtlingspolitik des Senats. Fast 70 Prozent glauben, dass Integration nicht gelingt. Der Druck auf die Senatorin steigt. Auch aus der eigenen Koalition.
Tempelhofer-Feld-Gesetz
Zum Beispiel war der CDU-Fraktionsvorsitzende Dirk Stettner diese Woche vorgeprescht. Im "Tagesspiegel" [€]" forderte er, dass das 2014 beschlossene Gesetz zum Schutz des Tempelhofer Felds vom Senat geändert werde, um dort weitere Geflüchteten-Unterkünfte schaffen zu können. Dabei fällt die Unterbringungsfrage in Kiziltepes Verantwortung – und die Senatorin hatte sich zuletzt vor allem für dezentrale Unterbringung statt Großunterkünfte eingesetzt.
Der fertige Gesetzentwurf sollte sogar schon am Dienstag vom Senat beschlossen werden, hieß es aus CDU-Kreisen. Doch Kiziltepe wolle nicht mitgehen. Diese glättete später die Wogen und stellte klar: Der Gesetzestext sei lediglich zu kurzfristig eingereicht worden und habe erst geprüft werden müssen. Sie sei zuversichtlich, dass der Senat sich bald einige.
Kritik von Opposition
Auf das Aneinander-vorbei-Reden angesprochen, betonen Kiziltepe und Stettner nach außen Einigkeit: "Der gesamte Senat setzt auf bestmögliche Integration", zeigt sich der CDU-Fraktionsvorsitzende überzeugt. Nur gebe es eben gerade keinen Platz. "Wir machen pragmatische Politik", sagt auch Kiziltepe.
Die Opposition hingegen sieht einen Koalitions-Fauxpas: "Beim Tempelhofer Feld führen sich Koalitionäre gegenseitig in der Öffentlichkeit vor", sagt Jian Omar, Sprecher für Migration der Grünen-Fraktion. "Das ist keine gute Grundlage für eine solide und nachhaltige Asylpolitik".
Ankunftszentrum Tegel
Bei der Frage, wie Berlin mit der Großunterkunft Tegel umgehen soll, gehen die Meinungen schon offener auseinander. Weil bis Ende des Jahres bis zu 7.000 Menschen in Tegel leben könnten – praktisch eine Kleinstadt -, fordert die Sozialverwaltung eine Abkehr von der bisherigen Verwaltungsstruktur. Das Hin und Her zwischen Arbeitsebene, Staatssekretär-, und Senatorenebene sei zu behäbig, sagt die Sozialsenatorin und fordert stattdessen eine Projektgruppe, die eigenständig und tagesaktuell entscheiden kann und bei der Senatskanzlei angeordnet ist – also beim Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU).
Der wiederum betonte jüngst nach einer Sitzung des Senats: "Mir ist nicht bekannt, dass etwas bei der Senatskanzlei angesiedelt werden soll. Wir haben die Lage unter Kontrolle. Ich sehe keine Notwendigkeit." Abgesprochen klang das nicht. Und dann stichelte Wegner: "Wir können jetzt über Jahre Strukturdebatten führen, aber es geht doch darum, dass wir den Menschen ein Dach über dem Kopf anbieten."
Standort Tegel möglicherweise Lackmustest
Bislang halten beide Koalitionspartner an ihrer Vision fest: "Für eine Mini-Stadtverwaltung ist da kein Bedarf", sagt Stettner. "Wir werden das im Senat besprechen", sagt Kiziltepe. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen.
Dass aus der einst als Ankunftszentrum gedachten Unterkunft ein Zuhause für Tausende Menschen geworden ist, die länger und enger zusammenleben müssen als geplant, ist beiden Parteien ein Dorn im Auge. Beide sehen Großunterkünfte als notwendiges Mittel zum Zweck. In Zukunft könnte der wachsende Standort Tegel aber zum Lackmustest werden, wie Berlin mit dieser neuen Realität umgehen will. Manche treibt die Sorge um, Tegel könnte - als Kleinstadt - zur permanenten Großunterkunft und neuem Standard werden.
Sachleistungen
Ungleich bewertet die Koalition auch den Beschluss der Ministerpräsidenten, Geflüchtete in Zukunft mit Bezahlkarte zu versorgen statt mit Bargeld. Die CDU hatte sich für Sachmittel eingesetzt, um angebliche Anreize für Geflüchtete zu verringern. Die Sozialsenatorin hingegen hatte Anfang des Monats noch betont, dass Berlin keine Veränderung im gängigen Bezahlmodell plane. Forderungen nach Bargeldleistungen seien ein "symbolischer Schnellschuss", sagte sie der Deutschen Presseagentur.
Nun fragt sich die Senatorin, wie die Reform praktisch umgesetzt werden soll. "Sachleistungen wurden schon damals nicht zu Unrecht abgeschafft", so Kiziltepe. "Das ist enormer Verwaltungsaufwand, sämtliche Verträge müssen mit Einzelhändlern abgeschlossen werden. Das hat damals nicht funktioniert und wird auch heute nicht funktionieren." Am Ende werde der Bund für eine einheitliche Lösung zuständig sein. Dafür hatte sich auch Kai Wegner ausgesprochen.
Abschiebestopp
Das Hin und Her zeigt sich auch beim Thema Abschiebungen. Im Koalitionsvertrag haben sich SPD und CDU geeinigt, im Winter auf Abschiebungen zu verzichten, wenn Witterungsverhältnisse dies gebieten. Für einen solchen Winterabschiebestopp hatte sich auch Senatorin Kiziltepe zuletzt noch einmal ausgesprochen. Der Regierende hingegen hatte in einem Interview gesagt, man müsse diskutieren, ob angesichts der hohen Zahlen Geflüchteter und fehlender Unterkünfte eine solche Maßnahme aufrechterhalten werden könne.
Oppositionspolitiker Jian Omar von den Grünen sieht die Uneinigkeit kritisch: "Es zeigt sich, dass diese Koalition eine Zweckkoalition ist. Es gibt Konfliktlinien, die nicht gelöst werden, auch wenn im Koalitionsvertrag Vereinbarungen getroffen sind."
Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten
Und dann rutsche dem Regierenden auch noch bei einer Pressekonferenz heraus, dass das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten – ebenfalls in der Verantwortung der Sozialverwaltung – "sehr zeitnah" eine neue Führung bekommen werde. Aktuell übt diese kommissarisch Staatssekretär Aziz Bozkurt (SPD) aus. "Das war unglücklich", so Sozialsenatorin Kiziltepe. "Wir hätten die Gremien gerne selbst informiert. Aber das kriegen wir auch hin."
Insgesamt gibt sich Kiziltepe unbeeindruckt nach außen. Hinter den Kulissen ist jedoch sowohl auf Seiten der CDU als auch der SPD zu hören, die jeweilig andere Partei sei nicht pragmatisch genug. Der Fraktionsvorsitzende der CDU aber betont: alles normal. "Dass wir sachlich streiten um den besten Weg, dass es intern auch mal laut wird und in der Sache hart ist, das gehört zum Regieren dazu. Ist halt kein Wünsch-dir-was", so Stettner. "Am Ende stehen wir geschlossen und setzten das um".
Sendung: rbb24 Abendschau, 20.10.2023, 19:30 Uhr
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